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VON WEGEN ALTE SCHACHTEL! Sven Beckstette über Gianfranco Baruchello in der Galerie Michael Janssen, Berlin

„Gianfranco Baruchello: La Formule“, Galerie Michael Janssen, Berlin, 2009-10, Ausstellungsansicht

„Gianfranco Baruchello: La Formule“, Galerie Michael Janssen, Berlin, 2009-10, Ausstellungsansicht

In Gedenken des italienischen Künstlers Gianfranco Baruchello, der vergangenen Monat gestorben ist, republizieren wir hier eine kurze Rezension von Sven Beckstette, die 2010 in der gedruckten Ausgabe „Malerei“ veröffentlicht wurde und nun erstmals online erscheint. Baruchello arbeitete in verschiedensten Medien – von der Malerei über Bücher bis hin zum Film – und widmete sich seit den frühen 1970er-Jahren vermehrt seinen charakteristischen Schaukästen. Dass ihm im deutschsprachigen Raum vergleichsweise wenig Beachtung zuteilwurde, hat sich auch nach seiner „Wiederentdeckung“, in deren Zeichen die Berliner Galerie Michael Janssen Baruchellos Arbeit vor gut dreizehn Jahren präsentierte, kaum geändert. Ein Grund mehr, hier nochmal an den Künstler und sein referenzreiches Werk zu erinnern.

Wer weiß schon, wie lange man sich ein Gemälde ansehen muss, bis jedes Detail, jeder Pinselstrich von Auge und Verstand registriert worden ist? Anfang und Ende lassen sich innerhalb der statischen, viereckigen Bildfläche bekanntlich nicht ausmachen. Die Zeit, die man ein Bild ansieht, hängt also allein vom persönlichen Eifer ab; Faustregeln gibt es hierfür jedenfalls keine. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Gianfranco Baruchello. Kein Geringerer als Marcel Duchamp hat als ideale Wahrnehmungsmethode empfohlen, ganz nah an die Leinwände des italienischen Künstlers heranzutreten und sie für eine Stunde zu begutachten. [1]

Duchamp ging es bei dieser Vorgabe wohl nicht darum, dass sich Betrachter*innen wie bei den Riesenformaten des abstrakten Expressionismus, die ähnlich intensiv erfahren werden sollten, gleichsam in eine erhabene Farbwelt versenken. Denn vordergründig besehen gibt es auf den Arbeiten Baruchellos erst einmal wenig zu entdecken: Sie wirken überschaubar und regelrecht aufgeräumt. Hauptsächlich bestehen sie aus einem monochromen, meist weißen Hintergrund, auf dem Wörter und Zeichen, comichafte Miniaturen und Diagramme in winzigem Maßstab scheinbar wahllos verstreut sind. Als Transzendenzerlebnis taugen die Bilder auf alle Fälle nicht, dazu ist ihr Bezug zu realistischen und rationalen Darstellungsformen, wie Illustrationen oder Schrift, zu eindeutig.

Die Anfänge von Baruchellos Schaffen, der 1924 in Liverno geboren wurde, liegen in den ausgehenden 1950er Jahren. Nahezu von Beginn an stand er dabei in Kontakt mit wichtigen Figuren des nationalen wie internationalen Kunstbetriebs. In Italien förderte ihn etwa Palma Bucarelli, die einflussreiche Direktorin der Nationalgalerie moderner Kunst in Rom. [2] Bei Aufenthalten in New York lernte er Duchamp, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband, [3] sowie John Cage kennen. Umberto Eco, Theoretiker des offenen Kunstwerks, und der Vordenker der Postmoderne, Jean-François Lyotard, gehören zu den prominenten Exeget*innen seines Werks. 1977 nahm er an der documenta 6 teil.

„Gianfranco Baruchello: La Formule“, Galerie Michael Janssen, Berlin, 2009-10, Ausstellungsansicht

„Gianfranco Baruchello: La Formule“, Galerie Michael Janssen, Berlin, 2009-10, Ausstellungsansicht

Auch wenn das Lenbachhaus in München, das einige Arbeiten von Baruchello besitzt, und die ebenfalls in der bayerischen Hauptstadt ansässige Galerie Michael Hasenclever den Künstler immer wieder gezeigt hat, wurde sein Werk hierzulande bislang kaum zur Kenntnis genommen. Nur so lässt sich erklären, dass die Einzelausstellung, die die Berliner Galerie Michael Janssen Baruchello jetzt gewidmet hat, allenthalben als Wiederentdeckung gefeiert wird.

Zugegebenermaßen handelt es sich bei „la formule“, wie Baruchello seinen Auftritt in Berlin überschrieben hat, tatsächlich um eine der bislang umfangreichsten Präsentationen in Deutschland überhaupt. Sämtliche Medien, denen sich der Künstler bedient hat, sowie Werke aus fast allen Schaffensphasen geben die Möglichkeit eines retrospektiven Überblicks. Neben Malerei versammelt die Schau Zeichnungen, Assemblagen, Filme und Bücher, wobei jeder Werkgruppe ein eigener Raum gewidmet ist. Auch eine Installation mit Giftpflanzen findet sich unter den Exponaten. Sie verweist auf das Interesse von Baruchello, der 1975 eine Landkommune gründete, an Botanik, Gärtnerei und Ackerbau.

Während die sieben Gemälde allesamt neueren Datums sind und in dieser Zusammenstellung ein wenig zu gleichförmig in ihrer Erscheinung wirken, sind die 15 Objektmontagen aus den letzten drei Dekaden im angrenzenden Teil wesentlich freier und spielerischer. Denn in den Vitrinen und Guckkästen, die im Raum stehen und an den Wänden hängen, hat Baruchello unterschiedliche Fundstücke zu szenischen Modellwelten zusammengefügt: Abbildungen aus medizinischen Büchern treffen auf Comichelden; Spielzeugschiffchen sind mit Bohnen gefüllt; Teller und Besteck bilden den Park für einen Wohnsilo aus Papier; an eine Jeans sind kleine Leitern gelehnt, als würde die Hose im nächsten Moment von den Liliputanern aus Swifts Gullivers Reisen bestiegen werden. Zeichnungen und Beschriftungen verunklären die Beziehungen zwischen den Gegenständen mehr, als sie tatsächlich zu erklären. Titel in englischer, französischer und italienischer Sprache wie Je donne ma langue au chat oder Hebdomeros e l’architetto helfen da auch nicht weiter, bezeugen aber das literarische Talent von Baruchello, der einmal betont hat, ihn regten Begriffe und Ideen generell mehr an als Bilder.

Gianfranco Baruchello: „Déserteur de la légion“, 1974

Gianfranco Baruchello: „Déserteur de la légion“, 1974

Baruchello begann mit diesen Schachteln aus Plexiglas 1973. Vergleichbar den Time Capsules von Andy Warhol sammelte er die Überreste, die pro Tag in seinem Atelier angefallen waren, zunächst in Behältern. Im Unterschied zu Warhol ließ er sein Material allerdings nicht unkommentiert stehen, sondern arrangierte die einzelnen Objekte schließlich zu kleinen Bühnensituationen. In der Tat haben die Vitrinen Vorläufer in Thea­terprojekten, die Baruchello zuvor veranstaltet hatte. Im Publikum verstreute er dabei Päckchen mit Gegenständen, mit denen die Zuschauer*innen selbst kleine Stücke aufführen sollten. Später verschickte er diese Theaterpakete mit der Aufforderung, ihm doch ebenfalls welche zurückzusenden.

Im Reformklima der 1960er Jahre zielten diese und ähnliche Aktionen darauf ab, Betrachter*innen aktiv am Kunstprozess zu beteiligen. Baruchello wollte hiermit allerdings nicht nur gewohnte künstlerische Hierarchien auflösen. Zugleich sah er dieses Vorgehen als Möglichkeit an, die Mitmenschen stärker an gesellschaftlichen Prozessen wie etwa der Überlieferung von geschichtlichen Ereignissen zu beteiligen. In dem Manifest „Pittura e practica“ erläuterte er 1975, wie ein jede*r, ohne Berücksichtigung der jeweiligen schriftstellerischen Begabung, individuelle Erfahrungen historischer Zäsuren mitteilen könne. Nahezu alles tauge dabei als narratives Mittel, denn, so Baruchello: „Sogar eine Schachtel voller Gegenstände kann genauso eine Geschichte erzählen wie ein Buch.“ [4] Aus diesem Grund sah er speziell seine Kisten, in denen sich formal gesehen Neuer Realismus und Pop mit erzählerischen Elementen verbindet, auch als Flugblätter von hohem politischen Gehalt an. [5]

Von all dem erfahren Besucher*innen bei der Begegnung mit diesen ästhetisch eigenständigen Arbeiten allerdings kaum etwas. Auch wenn das Engagement der Galerie Michael Janssen grundsätzlich nicht genug gelobt werden kann, der viel zu lange vernachlässigten Position von Baruchello endlich ein Forum gegeben zu haben, so müsste in einem nächsten Schritt das Werk des Künstlers genauer in den Entstehungshintergrund und den politischen Kontext eingeordnet werden. Sonst verbliebe seine Wiederentdeckung zu sehr an der Oberfläche.

Gianfranco Baruchello, „La Formule“, Galerie Michael Janssen, Berlin, 23. November 2009 bis 20. Februar 2010.

Sven Beckstette ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin.

Image credit: Courtesy of the artist and Galerie Michael Janssen; photos © Lepkowski Studios, Berlin

Anmerkungen

[1]Vgl. Tommaso Trini, Introduction to Baruchello. Oral Tradition and Popular Art in the Work of an Avant-Garde Painter, Mailand 1975, S. 15.
[2]Zur Person Palma Bucarellis vgl. Palma Bucarelli, „Il museo come avanguardia“, in: Ausstellungskatalog, Galleria nazionale d’arte moderna e contemporanea, Rom 2009.
[3]Baruchello hat Duchamp ein Fotobuch gewidmet, in dem einige der letzten Aufnahmen des Freundes versammelt sind: Marcel Duchamp in 20 Photographs by Gianfranco Baruchello, Rom 1978.
[4]Vgl. Gianfranco Baruchello, „Pittura e practica“, in: Trini, a. a. O., S. 91.
[5]Vgl. ebd., S. 76.