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Der Grauschleier der Subjektivität Isabelle Graw über Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2012, Ausstellungsansicht

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2012, Ausstellungsansicht

Anlässlich des 90. Geburtstags von Gerhard Richter wiederveröffentlichen wir eine Besprechung der Jubiläumsretrospektive, die vor zehn Jahren – zum letzten runden Geburtstag des Künstlers – im Rahmen einer dreiteiligen Tournee durch Europa stattfand. Auf ihrem Weg von London nach Paris machte „Gerhard Richter. Panorama“ 2012 in der Neuen und Alten Nationalgalerie in Berlin Station. Mit Blick auf den Ausstellungsteil, der damals im Mies-van-der-Rohe-Bau gezeigt wurde, reflektierte die Herausgeberin von Texte zur Kunst, Isabelle Graw, die ambivalente Rolle des Künstlersubjekts in Richters Werk. Obwohl Richter als Künstler gilt, der in seinen Arbeiten jeglichen individuellen Ausdruck zu vermeiden sucht, machte die Ausstellung, so Graw, deutlich, wie sehr Person und Werk hier untrennbar miteinander verbunden sind.

Auf der Werbetafel der Nationalgalerie wird diese Retrospektive lapidar mit „Richter“ angekündigt, unter Verzicht auf den Vornamen des Künstlers (Gerhard). So als wisse man beim Stichwort Richter sogleich, wer gemeint ist, vergleichbar einem Household Name wie Picasso, der auch ohne Pablo Sinn generiert. Einmal abgesehen davon, dass die Annahme, es könne nur einen Richter geben, die Existenz seines Namensvetters Daniel leugnet, steht diese Tafel beispielhaft für jene alltäglich gewordene Personalisierung von künstlerischen Arbeiten, die sich in der synonymen Benennung von Autor und Werk niederschlägt. [1] Der Autor bedeutet hier sein Werk und umgekehrt.

Nun ist aber für die Bilder von Gerhard Richter regelmäßig behauptet worden, dass sie antisubjektive Techniken zum Einsatz bringen und die Autorität des Künstlersubjekts auf vielfältige Weise unterminieren. Das enge Band, von dem in der bildenden Kunst Person und Produkt zusammengehalten werden, müsste sich folglich auch in dieser Ausstellung als aufgelockert, wenn nicht sogar als durchtrennt erweisen. Das Gegenteil ist jedoch interessanterweise der Fall: Wohl nie zuvor wurde es einem so deutlich vor Augen geführt, dass sich der Schleier der Subjektivität speziell über jene Werke legt, für die bislang antisubjektive Verfahren in Anschlag gebracht wurden.

Schon die unübersichtliche und verstellt wirkende Raumarchitektur kommt diesem Eindruck paradoxerweise entgegen. Indem sie den Fokus nämlich auf einzelne Bilder in chronologischer Abfolge legt, lässt sie den seriellen Charakter von Richters Produktionsweise in Vergessenheit geraten. [2] Dies geht zwar auf Kosten der Nachvollziehbarkeit seiner Arbeitsmethode, kommt aber der symbolischen Aufladung des einzelnen Bildes zugute, das mehr denn je auf seinen Urheber verweist und deshalb einem „Index of Agency“ (Alfred Gell) gleicht. Wo die Serie das Einzelbild relativiert und den Prozess in den Vordergrund rückt, bleibt dem aus der Serie herausgegriffenen Bild als Bezugspunkt nur noch sein Schöpfer.

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2012, Ausstellungsansicht

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2012, Ausstellungsansicht

Zum Auftakt sieht man sich zudem mit der programmatischen Entscheidung konfrontiert, vermeintlich gegensätzliche Verfahren in Form von Dopplungen nebeneinander zu präsentieren. So hängt neben einem sakral anmutenden abstrakten Bild von 1997, das von einer Rakel gerissene „Wunden“ aufweist, das ebenfalls in Bordeauxfarben gehaltene, deutlich kleinformatigere Porträt Ella (2007). Solche diachronen „Begegnungen“ – wie etwa auch zwischen Tisch (1962) und dem gegenüber platzierten Objekt Spiegel (1991) – ziehen sich leitmotivisch durch diese Ausstellung, so als solle vor allem demonstriert werden, dass Richter über ein großes formales und inhaltliches Repertoire verfügt, das maßgeblich zu einem erweiterten Malereibegriff beigetragen hat. Denn in seinem Universum bilden weder Figuration und Abstraktion noch Malerei und die Implikationen des Readymade Gegenpole. Anders gesagt, sorgt diese Ausstellung schon auf der konzeptionellen Ebene dafür, dass die Produktion Richters von seiner Person – oder besser von dem, was für seine Person gehalten wird – überformt wird, sodass der Künstler im Produkt gegenwärtig bleibt.

Es war vor allem Benjamin Buchloh, Richters bester (und treuester) Kritiker, der sein Werk seit den 1970er Jahren im Sinne einer antiintentionalen Subjektkritik interpretierte. [3] So wies er beispielsweise zu Recht darauf hin, dass Richters Vorliebe für aleatorische Verfahren, etwa das Kopieren industrieller Farbkarten in den großen gerasterten Farbtafeln, mit dem subjektkritischen Geist der Nachkriegszeit, der Fluxusbewegung und dem Erbe von Duchamp und Cage in Verbindung steht. [4] Man fragt sich gleichwohl unwillkürlich, ob das Künstlersubjekt bei Richter nicht doch durch die Hintertüre wieder eintritt und in welcher Weise die Betonung des Objektiven den Status und die Bedeutung des Subjektiven womöglich verändert und aufgewertet hat. Ein Bild wie 4096 Farben (1974), dessen Farbkästen nach einem Zufallsprinzip angeordnet worden sind, könnte die Antwort darauf geben, denn es wirkt tatsächlich so, als hätte es sich selbst gemalt. Der Rückgriff auf ein aleatorisches Verfahren lässt das Bild hier subjekthaft wirken. Speziell in Berlin verströmte es eine Aura der Selbsttätigkeit auch dadurch, dass es an dem monumentalen Marmorpfeiler des Mies-van-der-Rohe-Baus angebracht worden war. Marmor ist ja ein durch Metamorphose von Kalkstein gewonnenes Gestein, was die Suggestion einer selbsttätig mutierenden Farbtafel für meinen Geschmack ein wenig zu plakativ überzeichnete. Auch der starke Kontrast zwischen den organischen Strukturen des Marmors und dem geometrischen Raster des Bildes schien das Gemeinsame der Selbsttätigkeit hervorzuheben. Richter selbst hat übrigens Buchlohs Vorschlag, seine „chance procedures“ als Versuch einer Anonymisierung und Objektivierung des malerischen Prozesses zu beschreiben, in einem gemeinsamen Gespräch entschieden zurückgewiesen. [5] Wobei der Erkenntnis- und Unterhaltungsgewinn dieser Gespräche, nebenbei bemerkt, in ihrer Fülle an produktiven Missverständnissen liegt. So wie die Intention des Künstlers in ihnen aufscheint, stellt der Kritiker seine Restautonomie schon dadurch unter Beweis, dass er ihr in seiner Deutung nicht folgt. Anders als Buchloh sieht Richter denn auch seine antisubjektiven Techniken als Möglichkeit an, die Bilder „lauter“ zu machen: „they get louder; they are not so easily overlooked.“ [6] Laute Bilder, die auf sich aufmerksam machen und schwer zu übersehen sind – auch in dieser Perspektive Richters nehmen seine Bilder subjekthafte Züge an. Der Künstler schraubt seine Subjektivität zurück, um diese seinen Bildern zuzuschlagen. Die antisubjektive Technik vermag offenkundig, den Mythos der Selbsttätigkeit zu beflügeln. Man könnte diesen Zusammenhang auch produktionsästhetisch formulieren: Je mehr sich der Künstler aus dem Produktionsprozess herausnimmt, desto subjekthafter wirken seine Bilder. Dies gilt schon für einen Künstler wie Frank Stella, der das Intentionale in seinen „Black Paintings“ durch die Geste des lapidaren „Anstreichens“ wie auch durch sein Optieren für symmetrische, regulierte Muster zu tilgen versuchte. Ihre spezifische Kraft beziehen diese Bilder jedoch daraus, dass sie sich nicht in der bloßen Wiedergabe einer Autorenseele erschöpfen und somit auf diesen Autor auch nicht reduziert werden können. Sie erheben mithin den Anspruch darauf, ein Bild „über Malerei-Sein“ zu sein, wie es Stella selbst einmal treffend formulierte. [7] Der Rückgriff auf antisubjektive und aleatorische Verfahren bedeutet dabei jedoch keineswegs, dass das Künstlersubjekt gänzlich aus dem Produktionsprozess verschwunden wäre. Es tritt schon dadurch auf, dass es die Entscheidung für eine bestimmte Versuchsanordnung getroffen hat. Es stellt gewissermaßen die Weichen für seine Depotenzierung.

Bei Richter wird der Prozess der Bildfindung und der Komposition allerdings grundsätzlich an externe Instanzen abgegeben – von den fotografischen Bildvorlagen der 1960er Jahre und den besagten Farbkarten bis hin zu der Rakel, jenem „semi-mechanical device“ (Benjamin Buchloh), mit dem Richter seine abstrakten Bilder „malt“. Wenn das Readymade im Sinne eines Prinzips vor allem für den Einbruch der Nicht-Kunst in die Kunst steht, dann hat Richter aus diesem Prinzip vielfältige Konsequenzen für die Malerei gezogen. Sei es, dass sich seine Bilder einer externen (fotografischen) Vorlage überantworten, sei es, dass sie mechanische Verfahren in sich aufnehmen. Die hohe Anzahl an Glasarbeiten in dieser Ausstellung, die zuweilen als Raumteiler fungieren, lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass Richters Arbeit mit Duchamp und dessen großem Glas (1915–23) kommuniziert. Doch während Duchamp die Malerei zu einem Diskurs erklärte, und dies nicht zuletzt dadurch, dass seine Notizen als integraler Bestandteil des großen Glases fungieren, treten zumal die grau bemalten Glasscheiben bei Richter wie „Stellvertreter für die Malerei“ (Rachel Haidu) auf. Aus der Begegnung mit dem Prinzip Readymade, das kunstexterne Faktoren in die Malerei einträgt, geht „die Malerei“ bei Richter als Sieger hervor.

Auch seine viel beschworene „Blur“-Technik signalisiert zwar auf den ersten Blick eine mimetische Annäherung an die Ästhetik der Amateurfotografie und ihre verwackelten Bilder, wodurch ein mechanisch-anonymes Moment in die fotobasierten Bilder eingetragen wird. Auf den zweiten Blick zielt diese Technik aber auch auf eine Unkenntlichmachung des Motivs – es erscheint „abstrakter“ und zugleich gemalt. Die Malerei erweist sich hier einmal mehr als ein Prozess des „Mark Making“, dessen Zeichen indexikalisch auf die Anwesenheit des (abwesenden) Künstlersubjekts verweisen. So sind etwa in Tiger (1965) die horizontal breit gezogenen Pinselstriche deutlich zu sehen, die die Verwischung des Motivs bewirken. Die sämige Konsistenz dieser Pinselspuren lässt uns der konkreten Bewegung des Malers habhaft werden. Zwar hatte Richter den malerischen Anteil dieser Bilder stets heruntergespielt, indem er sie lapidar als „abgemalte Fotos“ charakterisiert hat. Die Fotos wurden jedoch auf eine Weise abgemalt, die das Ergebnis auch als Spur eines Malersubjekts ausweist. Nach Carlo Ginzburg sind Spuren immer ein Indiz dafür, dass „jemand dort vorbeigegangen ist“. [8] Sie bezeugen mithin die Anwesenheit eines Abwesenden. In Frau mit Kind (Strand) (1965) findet sich entsprechend ein pastos weiß übermalter Fleck, der die homogene Oberfläche der Unschärfe unterbricht. Eine Art malerisches Punktum. Es ist nicht nur die Materialität der Farbe, sondern mehr noch das Künstlersubjekt, das sich auf diese Weise in Erinnerung ruft. Denn hier hat offenkundig jemand geschmiert.

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2012, Ausstellungsansicht

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 2012, Ausstellungsansicht

Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit dieser Engführung von Malerei und Indexikalität soll die Kluft, die zwischen einer künstlerischen Arbeit und dem authentischen Selbst des Künstlers grundsätzlich besteht, keineswegs geleugnet werden. Im Gegenteil: Es ist nicht das authentische Selbst von Gerhard Richter, das sich uns in seinen indexikalischen malerischen Zeichen enthüllt. Als Indexe sind diese Zeichen vielmehr in der Lage dazu, die Suggestion einer Anwesenheit des abwesenden Künstlers zu erzeugen. Die Malerei ist, anders gesagt, auch bei Richter eine hoch ausdifferenzierte Sprache, die über einer Reihe von rhetorischen Mitteln, genauer Tricks verfügt, mit denen sich dieser Eindruck einer Quasi-Präsenz als Effekt produzieren lässt.

Die besondere Faszination, die speziell von Richters Frühwerk ausgeht, ist meines Erachtens auf das Zusammenspiel zwischen malerischer und fotografischer Indexikalität zurückzuführen. Nehmen wir zur Veranschaulichung dieser These Richters offiziell erstes Bild Tisch (1962), das schon dem Namen nach für die Geste des „Reinen-Tisch-Machens“ steht. Es markiert biografisch Richters Neuanfang (in der Bundesrepublik) wie auch die Verwerfung des zuvor in der DDR Produzierten; bezeichnenderweise wurde es nicht in seinen Catalogue raisonné aufgenommen. Tisch ist schon in verfahrenstechnischer Hinsicht ein programmatisches Bild. Es basiert auf einer fotografischen Vorlage – der Abbildung eines Designertisches aus der italienischen Architekturzeitschrift Domus aus einer Ausgabe des Jahres 1950 – und überträgt dieses Motiv in das Register der Malerei. [9] Die indexikalischen Zeichen der Fotografie sind diesem Bild mithin latent eingeschrieben, weshalb es über deren „außergewöhnliches Denotationsvermögen“ (Roland Barthes) verfügt. Während der malerische Index auf das Künstlersubjekt verweist, zeichnet sich der fotografische Index nach Charles S. Peirce durch seine physische Verbundenheit zu den Dingen aus, über die er etwas zeigt. [10] Er ist mithin mit Lebenswirklichkeit angereichert. Die fotografische Vorlage stellt somit auch in Tisch den für die Fotografie charakteristischen Lebensbezug her. [11] Bei Richter kommt es jedoch zu einer Überformung der fotografischen Indexikalität durch die Indexikalität der Malerei. Nicht nur werden die fotografischen Vorlagen bei ihm grundsätzlich abgemalt, und zwar in fotorealistischer Manier, mehr noch kommt es in Tisch zur Unterwerfung des Fotomotivs unter eine malerische Geste, die in der Kunstwissenschaft wahlweise als heftige und expressive Übermalung oder als Geste der Auslöschung charakterisiert wurde. [12] Psychologisch könnte man diese Tilgung des fotografischen Motivs in Tisch als Abwehr der Verführung durch Design und Luxus im tristen Nachkriegsdeutschland deuten. In dem selben Maße wie bei Richter ein sehnsuchtsvoller Blick auf Designertische und Ferraris (Ferrari, 1964) geworfen wird, wie um dem Mief der 1950er Jahre zu entkommen, werden solche Begehrlichkeiten im Keim erstickt, wie etwa im Falle des dunkelgrau zugemalten Sportwagens. [13] Das Motiv ist anwesend und abwesend zugleich. Oft ist es sichtbar abgekratzt worden, wie in September (2005), das Richters Insistieren auf politisch überdeterminierte Motive (das qualmende World Trade Center) ebenso bezeugt wie seinen Wunsch, sie unkenntlich zu machen. [14] Von dieser Spannung zwischen An- und Abwesenheit (des Motivs, der Künstlerperson), zwischen Evidenz und Latenz (der Bedeutung) leben seine Bilder. Sie geben, anders formuliert, eine ideale Projektionsfläche für die Kunstwissenschaft ab, da sie sich zwar plausibilisieren, sich aber letztlich nicht wegerklären lassen. Das Grau, Synonym für Leblosigkeit, erweist sich dabei als perfektes Idiom, das den Lebensbezug der fotografischen Vorlage gleichsam unter sich begräbt. So wie Richters Bilder qua fotografischer Vorlage den Anspruch auf Lebenswirklichkeit erheben und den „Stempel des Realen“ (Rainer Rochlitz) aufweisen, ist es die Malerei, die am Ende symbolisch über diese angedeutete Lebenswirklichkeit triumphiert.

Die Malerei bleibt bei Richter auch dann noch eine Form der Zeichenproduktion, die das Künstlersubjekt massiv ins Spiel bringt, wenn er selbst nur indirekt oder gar nicht Hand anlegt. Beim Malen mit der Rakel z.B in seinen abstrakten Bildern hat der Künstler zwar die vollständige Kontrolle über das Ergebnis größtenteils abgegeben. Gleichwohl kommt es auch hier entscheidend auf seine Körperbewegung, den von ihm ausgeübten Körperdruck an, wie kürzlich in dem Dokumentarfilm Richter Painting von Corinna Belz zu sehen. [15] Richter schob hier die Rakel langsam über die Leinwand, um gelegentlich abrupt innezuhalten oder ihn mit plötzlicher Wucht nach unten oder oben zu reißen. Auch in diese Bilder hat sich das Künstlersubjekt eingeschrieben – sie gleichen einem Abdruck von Bewegung. In dem Film spricht Richter auch davon, dass seine Bilder machen würden, was sie wollen. Sie sind folglich nicht nur an Handlungen beteiligt, wie Latours Aktanten, sondern werden selbst zu Handelnden erklärt. Einmal mehr ist es der Mythos der Selbsttätigkeit, der auf diese Weise aufgerufen wird. Wobei diesem Mythos – wie jedem Mythos – eine Produktionswahrheit zugrunde liegt. Denn als Malerin kann es einem tatsächlich so vorkommen, als würde einem die Hand geführt, als führe man die Befehle seines Bildes aus. Es käme jedoch einem Kategorienfehler gleich, aus dieser Produktionserfahrung auf eine tatsächliche Handlungsfähigkeit der Malerei zu schließen. Nur: Je mehr sich Künstler wie Richter aus dem Produktionsprozess herausnehmen, desto mehr befeuert dies die Suggestion der Selbsttätigkeit ihrer Bilder. Noch seine neuen Digitalprints, die sogenannten Stripes, die die Hand aus dem Produktionsprozess gänzlich ausschließen, führen eindrucksvoll vor, dass auch eine Methode, die Handschrift ausdrücklich negiert, Ausdruck der Handschrift eines Künstlers sein kann. [16] Gerade weil Richter in beinahe buchhalterischer Manier sämtliche Varianten der malerischen Subjektkritik mit Rekurs auf die jeweils avanciertesten Techniken durchgespielt hat und weiter durchspielt, konnte er zu einer Art Metakünstler aufsteigen, der das Objektive gegenüber dem Subjektiven behauptet, um der Malerei selbst Subjektivität zuzuführen. So wie sein Produkt subjekthafte Züge trägt, ist auch sein Name durch und durch produktförmig: Richter, eben.

„Gerhard Richter. Panorama“, Neue Nationalgalerie Berlin, 12. Februar bis 13. Mai 2012.

Anmerkungen

[1]Vgl. Karin Gludovatz, Fährten Legen – Spuren Lesen. Die Künstlersignatur als Poietische Referenz, München 2011, hier: S. 14.
[2]In der vorherigen Version dieser Retrospektive in der Tate Gallery in London war das Gegenteil der Fall: Hier folgte man einem Parcours, der die einzelnen Phasen und Produktionseinheiten nachvollziehbarer machte.
[3]Zuletzt in: „Benjamin H. D. Buchloh, The Chance Ornament. Aphorismus on Gerhard Richters Abstractions“, Artforum, Februar 2012, S. 170–175.
[4]Ders., „Gerhard Richter’s Atlas. The Anomic Archive“, in: ders./J. F. Chevrier/Armin Zweite/Rainer Rochlitz, Photography and Painting in the work of Gerhard Richter. Four Essays on Atlas, Barcelona 1999, S. 11–30, hier: S. 30.
[5]Vgl. Ders., „An Interview with Gerhard Richter 1986“, in: Gerhard Richter, hg. von dems., October Files, Cambridge, Mass. 2009, S. 1–34, hier : S. 29.
[6]Vgl. ebd., S. 29.
[7]Vgl. Johannes Meinardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern-Ruit 1997, hier: S. 154.
[8]Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1993, hier: S. 19.
[9]John Curley, „Gerhard Richter’s Cold War Vision“, in: Christine Mehring/Jon. L. Seydl (Hg.), Gerhard Richter. Early Work. 1951–1972, Los Angeles 2010, hier: S. 30.
[10]Vgl. Charles S. Peirce. Semiotische Schriften, hg. von J. W. Kloesel/Helmut Pape, Bd. 1, Frankfurt/M. 2000, hier: S. 199.
[11]Dass das Foto sowohl das Reale evoziert als auch dessen Tod beglaubigt, daran hat Benjamin H. D. Buchloh in seinem Text über Gerhard Richters Atlas erinnert. Vgl. ders., „Gerhard Richter’s Atlas. The Anomic Archive“, a. a. O., hier: S. 11.
[12]Vgl. John J. Curley, „Gerhard Richter’s Cold War Vision“, a. a. O., hier: S. 31.
[13]Das Primat der Malerei bei Richter lässt sich auch daran ablesen, dass die mitgemalten Werbetexte, etwa in dem Ferrari-Bild, immer unvollständig und abgeschnitten bleiben. Zwar wird die Quelle Printmedium auf diese Weise offengelegt. Aber dass der Text nebensächlich ist, dass die Malerei das Eigentliche ist – daran kann bei Richter kein Zweifel bestehen.
[14]Vgl. zu diesem Bild Robert Storr, September. Ein Historienbild von Gerhard Richter, Köln 2010.
[15]Zu diesem Film vgl. Hubertus Butin, Gerhard Richter auf der Leinwand, unter: www.textezurkunst.de/daily/2011/jul/25/gerhard-richter-corinna-belz-hubertus-butin.
[16]Vgl. Michael Lüthy/Christoph Menke, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Zürich/Berlin 2006, S. 7–11, hier: S. 9.