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Land des Überflusses und des Glücks Esther Buss über „Jauja“ von Lisandro Alonso

Lisando Alonso, „Jauja“, 2014, Filmstill

Mit 4:3-Format und abgerundeten Ecken des Kino-bilds präsentiert sich der neue Film des argentinischen Regisseurs Lisandro Alonso in scheinbar historischer Ästhetik. Doch ebenso wie sich diese auf keinen bestimmten Zeitpunkt beziehen lässt, ist auch die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit in „Jauja“, mit der Alonso sich erstmals von seinen dokumentarisch angelegten Arbeiten mit Laiendarstellern und -darstellerinnen abwendet, weniger am historisch Faktischen interessiert.

In spröder Poetik und sorgsam komponierten Bildern folgt der Film literarischen und mythologischen Topoi des „Anderen“. Ein Irrweg durch die Wüste, der Identitäten zersetzt.

Seit einigen Jahren lassen sich im Bereich des Weltkinos – und abseits konventioneller Erzählstrukturen – innovative Formen der Aufarbeitung von Kolonialgeschichte beobachten. Was die interessantesten Beispiele – Filme wie Raya Martins „Independencia“ (Philippinen, 2009) oder Miguel Gomes’ „Tabu“ (Portugal, 2012) – bei allen filmischen, kulturellen und nationalhis-torischen Singularitäten verbindet, ist, dass sie Historiografie nicht durch eine dem filmischen Realismus verpflichtete Geschichtsrekonstruktion betreiben, sondern durch vielfältige, teilweise sehr freie Bezugnahmen auf die Kino-, aber auch Literatur- und Mythengeschichte. „Jauja“, der jüngste und inzwischen fünfte Film des 1975 geborenen argentinischen Regisseurs Lisandro Alonso, lässt sich in diese Reihe „offener“ erinnerungspolitischer Kinematografien stellen, die sich mühelos zwischen verschiedenen Zeiten bewegen, dabei Vergangenheiten erfinden wie auch Spuren des Gegenwärtigen auslegen. Hintergrund des Films ist die sogenannte Conquista del Desierto (Wüstenkampagne), ein militärischer Feldzug, mit dem die argentinische Regierung unter Beteiligung französischer, englischer und dänischer Expeditionen zwischen 1878 und 1885 gegen die indigenen Völker vorging. Ziel war es, die argentinisch-europäische Vorherrschaft über die Pampa und Patagonien zu sichern und die wirtschaftlichen Ressourcen der Gebiete gewinnbringend abzuschöpfen.

Eine historische Rekonstruktion dieses gewalttätigen Kapitels der Kolonialvergangenheit seines Heimatlandes hat Alonso nicht im Sinn. Stattdessen errichtet er in „Jauja“ einen durch seine Artifizialität markierten filmischen Raum, in dem Geschichte landschaftlich, körperlich und hypnotisch verarbeitet wird.

Der Film ist Fortsetzung und Neuausrichtung von Alonsos Schaffen zugleich. Wie in seinem Debüt „La Libertad“ (2001) und den folgenden Arbeiten „Los Muertos“ (2004) und „Liverpool“ (2008) – „Fantasma“, 2006 entstanden, fällt durch seinen Schauplatz, ein Kino, räumlich ein wenig heraus und ist mit seinen werkimmanenten Bezügen deutlich selbstreflexiver angelegt – formiert sich auch der Kern des neuen Films durch das intensive Zusammenspiel von Körper und Landschaft. Erneut steht eine männliche Einzelgängerfigur im Zentrum, ein einsamer Mann, unterwegs, abseits der Zivilisation. Alonso arbeitet üblicher-weise mit charismatischen Laiendarstellern, dieses Mal aber hat er die Hauptfigur mit einem „echten“ Schauspieler und Hollywoodstar besetzt: Viggo Mortensen. Zudem unterbricht „Jauja“ nicht nur die Serie der Gegenwartserzählungen, sondern auch die für Alonsos Arbeiten signifikante Spracharmut – das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit dem argentinischen Dichter und Schriftsteller Fabián Casas. Dramaturgisch bleibt Alonso seiner Agenda treu – antidramatisches und fragmentarisches Erzählen, Entschleunigung und Reduktion –, jedoch weicht der Naturalismus seiner bisherigen Arbeiten, die sich seit jeher im Grenzbereich zwischen Fiktion und Dokumentarismus bewegt haben, einem ästhetischen Programm, das auf das Kino selbst zurückverweist.

„Jauja“ erzählt von dem dänischen Ingenieur Dinesen, der sich in Begleitung seiner 15-jährigen Tochter Ingeborg mit einer kleinen Expedition am Krieg gegen die Ureinwohner in Patagonien beteiligt. Dem unverhohlenen Rassismus des Militärs mag sich der liberal gesinnte Dinesen jedoch nicht anschließen – einmal gibt er zu bedenken, dass „Kokosnussköpfe“ doch kein „korrekter Name“ für die Indigenen sei, man müsse sie im Gegenteil verstehen lernen. Dinesen glaubt an Zivilisation, Vermittlung, Kommunikation, nicht an ein Ausrottungsprojekt. Ihm gegenüber steht Lieutenant Pittaluga, ein lüsterner Grobklotz mit üppigen Goldklunkern am Hals, der seinen ersten Auftritt im Film onanierend bestreitet. Als Ingeborg eines Nachts mit einem Soldaten verschwindet, bricht Dinesen allein in die wilde Natur auf, um sie zu suchen – und geht in der „Wüste“ (so der ideologische Topos) buchstäblich irre. Während sich Mensch und Landschaft einander nähern und assoziieren, verschmilzt auch die koloniale Wirklichkeit des späten 19. Jahrhunderts mit einer mythologischen Erzählung, die von einem „Land des Überflusses und des Glücks“ namens Jauja kündet, aus dem niemand jemals zurückkehrt – davon zumindest berichtet die Inka-Folkore, wie zu Beginn des Films auf einer Texttafel zu lesen ist.

Von den „verschlingenden“ und „verschluckenden“ Kräften der Wüste ist in „Jauja“ gleich mehrfach die Rede, und fraglos schwingt in Ingeborgs bockig vorgebrachtem Ausspruch „Ich liebe die Wüste. Die Art, wie sie mich ausfüllt“, mit dem sie ihren überprotektiven Vater sichtlich schockiert, auch ein sexueller Subtext mit. Der Selbstverlust ist natürlich die koloniale Fantasie schlechthin, eine Fiktion der Literatur und des Kinos, in der nicht zuletzt die Angst des „Going Native“ verarbeitet wird: die Gefahr der Selbstidentifizierung mit und die „feindliche“ Anverwandlung an die als barbarisch etikettierte Kultur – in John Fords klassischem Western „The Searchers“ (1956), auf den Alonso unübersehbar anspielt, wird dieser „Zivilisationsverfall“ fast mit dem Tod bestraft. Auch in „Jauja“ gibt es Gerüchte über einen General Zuluaga, den dieses Schicksal ereilt haben soll; es heißt, er laufe in Frauenkleidern herum und schlachte Europäer ab. Alonso variiert das Conrad’sche Motiv „Herz der Finsternis“ durch eine helle, lichtdurchtränkte Version mit weiten Perspektiven und offenen Horizontlinien, die aber ebenso undurchdringlich bleibt.

Miguel Gomes, „Tabu“, 2012, Filmstill

Wie alle Arbeiten des Regisseurs ist auch „Jauja“ ein Film über die Wahrnehmung von Zeit. „Jauja“ setzt sich aus meist statischen, totalen Einstellungen zusammen; Kamerabewegungen kommen nur sehr sparsam zum Einsatz. In der langen Eröffnungssequenz deutet sich sogar eine Öffnung zum Expanded Cinema an. Zu sehen sind zwei Körper in einer Landschaft: Vater und Tochter. Sie sitzen nebeneinander auf flachen Felsen, durch ihre diametrale Anordnung – er den Rücken der Kamera zugewandt, sie frontal – erscheinen sie miteinander verschränkt und doch gleichsam entzweit. Das präzise kadrierte, vom Horizont mittig geteilte Bild erfasst das Paar vom Scheitel bis zur Sohle – eine Einstellung, in der alle Bewegung zunächst nur als Latenz vorhanden scheint. Alonsos Film, der in der Folge davon erzählt, wie Menschen, Existenzen, Körper in dieser Landschaft verloren gehen, arrangiert seine Figuren in der Exposition skulptural. Hauptmann Dinesen – schwerer dunkelgrauer Mantel, Seehundbart, robust – hat eingangs die Kompaktheit eines Felsblocks, erst im zweiten Teil des Films setzt sich dieser Körper in Bewegung, verliert seine Fassung, entgrenzt sich. Anfangs noch auf einem Pferd unterwegs und mit der aufrechten Haltung eines Militärs, sieht man ihn bald durch Stein-, Gras- und Vulkanlandschaften stapfen, kraxeln, stolpern, keuchen, fluchen.

Ähnlich wie Gomes, der in „Tabu“ mit der Paraphrasierung der Stummfilmästhetik eine poröse Erinnerung an die portugiesische Kolonialvergangenheit fabuliert, die so nie stattgefunden hat, greift auch Alonso auf eine historische visuelle Sprache zurück, die gleichwohl neu zusammengesetzt und überformt wird. Die Bilder des Films, auf 35 mm und im 4:3-Format gedreht, wirken extrem artifiziell. Ihre abgerundeten Ecken verweisen auf das Frühstadium von Fotografie und Kino, die leuchtenden Farben – der Kameramann Timo Salminen bringt die Grün- und Brauntöne der Landschaft mit dem tiefen Dunkelblau und Rot der Uniformen in brillante Kontraste – rufen die Kavalleriewestern John Fords wach. Interessanterweise funktioniert der Film ebenso immersiv wie distanzierend. „Jauja“ verweist beständig auf sein ästhetisches Register, auf die Historizität der Vorlagen – und auf das Filmbild als Fenster bzw. Diorama. Gleichzeitig bekommt Dinesens Herumgestapfe in überwältigenden Landschaften eine immer hypnotischere Dimension und affiziert den Betrachter/die Betrachterin. Alonso spielt demonstrativ mit den Begrenzungen des Filmbildes, wenn Figuren die Kadrierung betreten bzw. abtreten, sich in sie hinein- und wieder hinausbewegen. In einer Szene kommt eine dunkelhäutige Hand von rechts ins Bild, greift Hut und Gewehr eines gerade abgeschlachteten Soldaten – die Verstohlenheit der Handlung steht dabei im krassen Gegensatz zu ihrer visuellen Exponiertheit. Und als Ingeborg und ihr Liebhaber sich auf eine Wiese niederlegen, senken sie sich in der Umarmung aus dem Bild hinaus, und die Kamera verweilt lange auf der zuvor verdeckten Szenerie: Schilfrohr, ein Pferd, ein Hügel, darüber Himmel.

Die sorgfältige Komposition der Bilder und Klänge – man hört den Wind in den Gräsern, Meeresrauschen, eine Vielzahl an Tierstimmen, Regen auf Gestein, dazu Dinesens Körper, das sanfte Rasseln des Säbels beim Gehen, seine Schritte, sein Ächzen, einmal ruft er „Was für ein Scheißland“ – trifft in „Jauja“ auf die Offenheit der Erzählung. Sie franst an den Rändern aus, überschreitet Raum und Zeit und führt zu keinem finalen Endpunkt. Die kleine Holzfigur eines Soldaten und ein herumstreunender Hund werden als Spuren ausgelegt und das im wörtlichen Sinn: Sie weisen Dinesen den Weg bzw. führen ihn erst recht davon ab und setzen sich am Ende bis in eine (freilich etwas märchenhafte) Gegenwart im heutigen Dänemark fort. Schließlich begegnet Dinesen auf seinem Irrweg durch die Wüste nicht „das Andere“ – die Ureinwohner sind bei Alonso nicht eigentlich Teil des Bildes, und wenn, dann treten sie als wenig greifbare Gestalten in der Ferne auf oder, wie zuvor beschrieben, nur fragmentarisch. Stattdessen findet er in einer Höhle eine ältere Frau, die sich zwischen verschiedenen Subjektivitäten bewegt: mal Fremde, dann wieder Ingeborg am Ende ihres Leben angelangt. Durch die Zerstreuung und Zersetzung von Identität, Bewegung, Richtung und Raum lässt Alonso die koloniale Wirklichkeit mehr und mehr in die Schichten des Unterbewusstseins sickern – jeder Grashalm, jeder Stein scheint irgendwann davon aufgeladen. So zeigt sich Geschichte in „Jauja“ nicht als ein abgeschlossenes Feld, sondern als ein – auch mentaler – Stoff, der in der Gegenwart wirksam wird.

ESTHER BUSS

Lisandro Alonso, „Jauja“, 2014.