ARCHITEKTUR IST NICHT DIE LÖSUNG Christian Haid und Lukas Staudinger über „Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ im Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg
Zu Fuß vom Hamburger Hauptbahnhof rüber zum Museum für Kunst & Gewerbe ist es nicht weit. Die Atmosphäre auf dem Bahnhofsvorplatz lässt sich als „urban“ beschreiben, mit all den gehetzten ICE-Reisenden, den ankommenden und abfahrenden Taxis, den Pendler*innen, den ziellos Umherwandernden und Betrunkenen, den Demonstrierenden und dem konstanten Polizeiaufgebot. Der Bahnhof ist kein Ort zum Wohlfühlen. Hier prallen Welten aufeinander, und wir haben das Gefühl, dass dieser kurze Fußweg eine gute Einstimmung ist auf das, was wir vorhaben zu sehen: eine Ausstellung über Obdachlosigkeit und Stadt.
Die Schau empfängt ihre Besucher*innen mit zum Trocknen aufgehängten Schlafsäcken. Der kuratorische Aufmacher ist effektiv: Wir erinnern uns sofort an die Schlafsäcke, die wir gerade eben noch in den Bahnhofsunterführungen gesehen haben. Das Motiv setzt sich fort, und noch bevor wir den Ausstellungstext gelesen haben, begegnen wir einer Fotografie von Christopher Michel, die das für die Corona-Pandemie emblematisch gewordene Camp für Obdachlose vor dem Rathaus in San Francisco zeigt. Die Zelte stehen in ungewohnt weitem Abstand, um Infektionsketten zu unterbrechen. In seiner strengen Rasterung spannt das Bild einen schmerzhaft ästhetisierten Bogen zwischen menschlicher Not und behördlicher „Fürsorge“.
„Obdachlosigkeit ist ein globales Problem und gesamtgesellschaftliches Anliegen –Lösungen hingegen müssen vor Ort diskutiert und gefunden werden.“ Diese beinahe provokative Aussage ist in großen Lettern im Ausstellungstext an der Wand zu lesen. Im ersten Moment klingt sie nicht falsch – schließlich diskutiert man auch in der Stadtplanung gerne über spezialisierte, ortsspezifische Problemlösungsansätze, die nahe an lokalen Communities dran sind. Dennoch stellt man sich die Frage: Ist das wirklich so? Sind das Fehlen einer gemeinwohlorientierten Wohnraumpolitik, die Lücken im Sozialsystem und die Auswirklungen einer neoliberalen Verwertungslogik auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt wirklich lokal und vor Ort lösbar? Wir hoffen, dass die Ausstellungsbeiträge über solche und ähnliche Fragen spekulieren.
Ausstellungsarchitektur aus Karton – dem Baumaterial der Straße? –, Neon-Bodenmarkierungen, lebensgroße CAD-Bett-Symbole aus Klebeband in Pink, Pink und nochmals Pink, schön poppig soll es sein. Die knalligen Farben erwecken fast den Anschein, als sollten sie das Thema kosmetisch etwas auffrischen.
Die Schau versucht, der Obdachlosigkeit als globalem Thema auf mehreren Ebenen zu begegnen. An der Wand sind Porträts von Großstädten zu sehen, der Fokus liegt auf ihrem Umgang bzw. Nicht-Umgang mit dem Problem der Wohnungslosigkeit. Zu den gezeigten Metropolen zählen São Paulo, New York und Shanghai, aber auch Berlin und Hamburg, die so zu Fallbeispielen werden und exemplarisch eines gemeinsam haben: hohe und steigende Obdachlosenzahlen. Im Zentrum stehen Informationsgrafiken mit Fakten, Zahlen, Statistiken und viel Text, die Ausstellung könnte eigentlich auch in gedruckter Form als Buch erscheinen. Wie wir später im Museumsshop feststellen, ist das auch so geschehen.
Die angekündigten lokalen Lösungen für das globale Problem der Obdachlosigkeit präsentiert der Kurator und ausgebildete Architekt Daniel Talesnik anhand einer Reihe architektonischer Wohnprojekte. Leider handelt es sich ausschließlich um Beispiele im Kontext des globalen Nordens. Zu sehen sind grafisch vereinheitlichte Grundrisse, Fotos und Modelle im Maßstab 1:20; alles in Reih und Glied, zugunsten einer scheinbar direkten Vergleichbarkeit. Architektur, Architekt*innen und deren Plandarstellungen stehen im Zentrum und bieten Lösungen an. Dabei trifft man auf durchaus spannende Beiträge, die architektonisch und konzeptionell Modellprojektcharakter aufweisen: Dazu zählen das VinziRast Mittendrin in Wien, ein dauerhaftes Wohnprojekt für ehemals Obdachlose und Studierende, umgesetzt vom dort ansässigen Architekturbüro gaupenraub +/-, aber auch die Holmes Road Studios im Londoner Stadtteil Camden von Peter Barber Architects. Ersteres steht für ein komplexes und wegweisendes Entwicklungs- und Betriebsmodell, Letzteres überzeugt durch eine architektonische Qualität, die ihren Bewohner*innen Wertschätzung in Form von gut gestalteten Räumen entgegenbringt.
Mit den für Architekturausstellungen üblichen Projektsteckbriefen listet und vergleicht die Schau hauptsächlich architektonisch-bauliche Kategorien wie Architekt*in, Nutzung, Größe, Kosten usw. Zu kurz kommen die Entstehungsprozesse. Interessiert hätten Informationen zu Fragen wie: Welche Allianzen mussten im Vorfeld der Umsetzung zwischen Stadtverwaltungen, Vereinen, öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen geschmiedet und verhandelt werden? Welche strukturellen Bedingungen und Kontexte haben das Projekt ermöglicht? Welche Konflikte gibt es und gab es? Wo sind die Erfahrungsberichte jener, die diese Wohnprojekte tatsächlich nutzen?
Die Qualität der Entwürfe und deren Ansätze variieren erheblich, und so wird an mancher Stelle die fehlende Sensibilität der Planer*innen für die Lebenswelten obdachloser Personen auf zynische Art und Weise deutlich. Irritierend wirkt beispielsweise die Darstellung persönlicher Gegenstände von Bewohner*innen in puppenhausartigen Modellen. Zu sehen sind volle Bücherregale, Rollkoffer und die Zürcher Zeitung auf einem Frühstückstisch, was temporäre Häuslichkeit der Bewohner*innen imaginiert – eine bildungsbürgerliche Projektion, die reale Herausforderungen in derartigen Wohnprojekten im besten Fall verklärt.
Gerne würden wir mehr über die Perspektive jener erfahren, deren Alltag und deren Kämpfe zwar im Zentrum des Ausstellungthemas stehen, aber leider nicht im Zentrum der Ausstellung selbst: Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind.
Die Perspektive der Betroffenen, deren Taktiken als Raumproduzent*innen, deren Expertise und Agency kommen im abstrakten Gewirr aus knappen Statements, Zahlen und Projektbeschreibungen zu kurz.
Die hervorragende filmische Arbeit What It Takes to Make a Home (2019), von Daniel Schwartz für das Canadian Centre for Architecture produziert, kann dieses Defizit nur teilweise kompensieren, bleibt damit jedoch allein. Schwartz‘ Film fängt Stimmen von Obdachlosen ein, die sich Wohnraum trotz Erwerbstätigkeit nicht mehr leisten können, und lässt alleinerziehende Mütter zu Wort kommen, die auf dem Wohnungsmarkt keine Chance haben – ein eindrucksvoller Versuch, der Härte des Alltags auf der Straße zwischen Brückenpfeilern und Wohnprojekten gerecht zu werden, ohne dabei voyeuristisch zu sein. Der Film erlaubt so mit unverstellten Porträts obdachloser Menschen einen Blick nach innen und erzählt von (Überlebens-)Strategien, Taktiken und aktivistischen Biografien mit Handlungsmacht.
Auf dem Weg zurück Richtung Hauptbahnhof, an all den Schlafsäcken vorbei, stellen wir fest, dass uns „Who’s next?“ wichtige Antworten auf die selbst formulierte Frage „Was kann die Architektur zur Lösung des Problems der Obdachlosigkeit beitragen?“ schuldig bleibt. Wir vermissen kritische Positionen zur Rolle von Architektur im Umgang mit Obdachlosigkeit, die die Grenzen der Planung ausloten und infrage stellen. Auch mit noch so ambitionierten architektonischen Ideen ist es fraglich, ob Architekt*innen und Planer*innen dem politischen Versagen und den erbarmungslosen Dynamiken kapitalistischer Eigengesetzlichkeit entgegenwirken können, inwieweit hier Verantwortung delegiert wird. Wie Bruno Latour feststellte, manifestiert sich das Globale im Lokalen. [1] Dies ist jedoch nicht zwangsweise ein reziproker Prozess. Die Architektur steht natürlich in der Pflicht, menschenwürdige (Lebens-)räume zu schaffen, sie stößt aber schnell an Grenzen, wenn es darum geht, systemische Probleme zu lösen.
„Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“, Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg, 14. Oktober 2022 bis 12. März 2023.
Dr. Christian Haid studierte Urban Studies (UCL London) und Architektur (Akademie der Bildenden Künste Wien) und wurde in Stadtsoziologie (Humboldt-Universität Berlin) promoviert. Als Mitbegründer von POLIGONAL – Büro für Stadtvermittlung entwickelt er Kommunikationsformate an den Schnittstellen von urbaner Praxis, Kunst und Architektur. Als Senior Researcher an der Habitat Unit (TU Berlin) schreibt, forscht und lehrt er zu internationalem Urbanismus. Seine Hauptinteressen sind queer urbanism, urbane Informalität und postkoloniale Kritik.
Lukas Staudinger studierte Architektur (Akademie der Bildenden Künste Wien und Universität der Künste Berlin) sowie Soziologie (Goldsmiths, University of London). Auch er ist Mitbegründer von POLIGONAL. In seiner Arbeit als Stadtvermittler, Kurator und Universitätsdozent spezialisiert er sich auf historische und zeitgenössische Stadtplanung, Kunst im öffentlichen Raum und queeres urbanes Alltagsleben. Mit POLIGONAL entwickelt er neue Methoden, das Stadtleben zu betrachten, zu hinterfragen und zu erfahren, um den Diskurs über alternative urbane Zukünfte zu stimulieren.
Image credit: 1. © Christopher Michel; 2. © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, photo Henning Rogge, 2022-23; 3. © Centre Canadien d'Architecture
Anmerkungen
[1] | Bruno Latour, We Have Never Been Modern, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1993. |