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ERINNERUNGEN FÜR DIE MÖGLICHKEIT EINER ZUKUNFT Ruth Sonderegger über John Akomfrah in der Wiener Secession

John Akomfrah, „Peripeteia“, 2012, Videostill

John Akomfrah, „Peripeteia“, 2012, Videostill

„The way of killing beasts and men is the same.“ Ausgangspunkt der drei Videoinstallationen von John Akomfrah, die bis Ende Juni in der Wiener Secession zu sehen waren, ist die Erfahrung, die uns 200 Jahre Kolonialgeschichte lehrt: dass kapitalistische und koloniale Gewalt auf Engste mit der gegen die Natur verbunden sind, dass also Versklavungsökonomien, Migrationsbewegungen und die Zerstörung von Tieren, Pflanzen und anorganischer Natur sich in einander spiegeln und durch einander steigern. Wie Ruth Sonderegger argumentiert, macht Akomfrahs filmische Sinfonie zwar durchaus Bewegtbild-besoffen, durchkreuzt die Erhabenheitsästhetik von „BBC Nature“-Clips jedoch durch Desidentifikation überlegen gesicherter Betrachter*innen mit den Figuren.

Vom 21. Februar bis 21. Juni 2020 waren in der Wiener Secession drei Videoinstallationen von John Akomfrah zu sehen: Mnemosyne (2010), Peripeteia (2012) und die Dreikanalprojektion Vertigo Sea (2015). Alle drei Arbeiten – so Akomfrah in einer Diskussion mit Osei Bonsu anlässlich der Ausstellungseröffnung – seien ein zwischen vorgefundenen und eigens gefilmten Fragmenten sich entwickelndes Gespräch (conversation), das seine Autorität und Wirkung in Eigenregie entfalte. Er selbst fungiere nur als „custodian of its upkeep“ [1] . Dieses Gespräch setzt sich zwischen den drei Arbeiten fort. Zum einen wegen der fragmentarischen Form von dialogisch aufeinander bezogenen Text-, Sound-, Bild- und Bewegtbild-Montagen – Ekow Eshun spricht hier von „lense-based poetry“ [2] . Zum anderen, weil alle in der Secession gezeigten Arbeiten um das Wasser, mehr noch und genauer: um die Politiken des Verbindens und Trennens kreisen, die das Wasser möglich macht. Die Naturalisierungen in den oft beschworenen Migrations- und Warenströmen werden dadurch nicht ins Recht gesetzt, sondern in ihrer gewaltvollen Politizität kenntlich gemacht.

Mnemosyne greift ein Motiv des Films Handsworth Songs auf, den Akomfrah 1986 als Teil des Black Audio Film Collective produziert hat: das Motiv der verratenen Hoffnungen von Migrant*innen, die voller Erwartung und unter Einsatz aller Mittel aus den unterschiedlichsten Teilen des Empire nach England kamen, wesentlich zum Wiederaufbau des sogenannten Mutterlands nach dem Zweiten Weltkrieg beitrugen, aber dennoch aus der Gesellschaft ausgeschlossen blieben. 1986 widmet sich Akomfrah ihren Hoffnungen vor dem Hintergrund der sogenannten Race Riots von 1981. Er tut das mit der Absicht, die von der britischen Medienberichterstattung nicht verstandenen, sondern vielmehr zugeschütteten Gründe für die Proteste, die als ausgegrenzte Geister jedoch allgegenwärtig blieben, zu beleuchten, indem die medialen Bilder und Begriffe von 1981 aus der zeitlichen Distanz heraus neu montiert werden. Eine Stimme der Handsworth Songs kommentiert das Verfahren zweimal mit den Worten: „There are no stories in riots only ghosts of other stories.“ [3] Über die Auseinandersetzung mit den Geistern dieser anderen, nicht wahrgenommenen Geschichten verdichtet sich Akomfrahs Bild-Text-Sound-Montage zum transmedialen Beleg dafür, wie wenig (Britischer) Kolonialismus ein Phänomen der Vergangenheit ist. [4]

Fast 25 Jahre später konfrontiert Mnemosyne Elemente migrantischer Hoffnungen – insbesondere Found Footage von ankommenden Schiffen und Flugzeugen sowie Close-ups der Gesichter der Ankommenden – mit der großen Kälte und Einsamkeit in England, von denen Akomfrah in unzähligen Interviews mit Menschen in der Diaspora berichtet wurde. [5] Lachend und winkend Ankommende auf Schiffen und Flughäfen sind mit statischen Bildern eisiger Fjordlandschaften und Schneestürme verschnitten, in denen vereinzelte Figuren in überdimensional wirkenden, grellfarbigen Anoraks von hinten zu sehen sind. Eine dritte Ebene des Videos gilt Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, und ihren neun Töchtern: den Musen und Göttinnen der Künste. Sie werden angerufen bzw. eingesetzt, um für die von sozialer und geografischer Kälte isolierten Figuren einen Kontext der Anerkennung zu (er-)finden: etwa Kontext in Gestalt jener Spuren von Verbindungen mit anderen Figuren, die wesentlich mithilfe von Archivbildern hergestellt werden.

In einem vor wenigen Tagen mit Tina Campt, Saidiya Hartman und Ekow Eshun geführten Gespräch zur Aktualität der Handsworth Songs im Kontext der aktuellen Proteste in den USA weist Akomfrah einmal mehr darauf hin, dass diasporisches Leben ohne greifbare oder gar monumentale Verankerungen und Bestätigungen in den Ankunftsländern auskommen müssen und deshalb visuelle und sonische Fragmente als immaterielle Manifestationen von sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart umso wichtiger werden. In diesem erinnerungspolitischen Sinn mit Bildern und Sound zu arbeiten, sei deshalb seine „obligation to the dead“ [6] . Nichts anderes ist auch in Peripeteia Programm.

Peripeteia nimmt seinen Ausgang bei zwei Porträtskizzen Schwarzer Menschen von Albrecht Dürer, über die so wenig bekannt ist, wie von jenen bleibt, die die Infrastruktur Großbritanniens mit aufgebaut haben. Die Skizzen tragen die Titel Porträt eines Afrikaners (1508) und Porträt von Katharina (1521). Ganz ähnlich wie in Mnemosyne wandern die zwei Protagonist*innen des Videos, ein Schwarzer Mann und eine Schwarze Frau, die in diesem Fall den von Dürer Porträtierten ähneln, durch unwirtliche, von Wind und Schneeregen gepeitschte Nordlandschaften an diversen Wassern entlang. Unterbrochen werden ihre Wanderungen von Wind-, Wasser- und Tiergeräuschen sowie von Schwarz-Weiß-Fotografien Schwarzer Menschen, die dem Abspann zufolge dem Königlichen Museum für Zentralafrika in Tervuren nahe Brüssel entstammen. Trotz der Interferenzen zwischen den Körperhaltungen, Kleidern und Blicken der beiden Protagonist*innen und den Fotografierten bzw. von Dürer gezeichneten Menschen bleiben die Verweise vage. Sie zeigen weniger, wie das Leben der beiden von Dürer Porträtierten war oder hätte sein können, sondern viel eher, wie viel von ihnen fehlt oder wie sehr sie am Auftauchen aus den Archiven und Eingehen in die (Kunst-)Geschichte gehindert wurden. Der plötzliche Umschlag, den der Titel Peripeteia behauptet, sollte demnach wohl weniger im momenthaften Zusammentreffen der beiden Protagonist*innen gegen Ende des Videos gesehen werden als vielmehr in den Gewalthandlungen, die den beiden nicht nur ihre vollen Namen, sondern ihre Geschichte und Sozialität geraubt haben.

John Akomfrah, „Vertigo Sea“, 2012, Videostill

John Akomfrah, „Vertigo Sea“, 2012, Videostill

Mit der Dreikanalinstallation Vertigo Sea fügt sich eine neue thematische Schicht in Akomfrahs Bewegtbild-basierte conversations – eine tektonische Umwälzung geradezu –, die in den früheren Arbeiten nur in homöopathischen Dosen präsent war: die ökologische Zerstörung. In der Montage, die bei Akomfrah nie als dialogisches Versöhnungsgespräch, sondern als heftige Auseinandersetzung angelegt ist, wird augenblicklich deutlich, wie sehr kapitalistische und koloniale Gewalt mit der gegen die Natur verbunden ist; nicht nur aufgrund der geradezu überwältigend zentralen Rolle des Meeres, das in Vertigo Sea Schauplatz von Versklavungsökonomien, Migrationsgeschichten und der Zerstörung von Tieren, Pflanzen und anorganischer Natur gleichermaßen ist. Bilder der Expeditionen zur Unterwerfung der Arktis bzw. der Antarktis und ihrer Tiere überlagern sich im Lauf von Vertigo Sea in diesem Sinn immer stärker mit den (neo-)kolonialen Expeditionen in wärmere Kontinente. Nicht umsonst heißt es an einer Stelle: „The way of killing beasts and men is the same.“

Man kann Vertigo Sea daher als Dialektik der Aufklärung des 21. Jahrhunderts bezeichnen. Denn die überwältigend schönen BBC Nature-Clips scheinen im vollkommenen Gegensatz zu den sich in einander spiegelnden und durch einander steigernden Gewaltformen stehen, die aus den drei Kanälen von Vertigo Sea immer wieder eine Farb- und Bewegungssinfonie machen oder, wie manche kritisieren, in eine kulturindustrielle Immersionsromantik abgleiten lassen. Darauf angesprochen, hat Akomfrah den großzügigen Einbezug von BBC Nature-Clips immer wieder verteidigt und meiner Wahrnehmung nach zu Recht. Vertigo Sea wird an keiner Stelle zum Naturfilm. Nicht nur, weil Akomfrahs Arbeit die katastrophale Klimaerwärmung nicht isoliert, wie das selbst bei den an die ökologische Katastrophe gemahnenden Kommentaren von David Attenborough in den letzten BBC Nature-Serien der Fall ist. Vielmehr bildet ihr Zusammenhang mit Migrationsbewegungen, mit kapitalistischer und kolonialer Ausbeutung von Anfang an das Zentrum. Dem tut auch die Tatsache keinen Abbruch, dass die massive Reproduktion der BBC Nature-Ästhetik in Vertigo Sea durchaus und offenbar mit Lust Bewegtbild-besoffen macht. Wahrscheinlich tut die Installation das auch nicht ganz ohne das Attenborrough’sche Schielen darauf, dass so viel Immersion in Naturerhabenheit den Widerstand gegen die nicht weniger allgegenwärtige Vernichtungs- und Ausbeutungsgewalt befördern kann. [7] Immerhin bezieht der Untertitel der Arbeit sich affirmativ auf das Erhabene: „Oblique Tales from the Aquatic Sublime“.

Schwerer wiegt in meinen Augen allerdings, dass Akomfrah die Erhabenheitsästhetik von BBC Nature auch dort, wo er sie sozusagen wörtlich und ausführlichst zitiert, nicht einfach reproduziert. Vielmehr erschüttert Vertigo Sea den Angelpunkt der Erhabenheitsästhetik, nämlich die Position der Betrachter*in, die sich aus der sicheren Distanz einem überwältigenden Spektakel hingeben kann, von Grund auf. Und zwar ohne zu behaupten, man könne diese Position und ihre Ästhetik nach 200-jähriger kolonial-hegemonialer Geschichte durch eine visuelle Dekonstruktion einfach abstreifen und nicht mehr nach ihr süchtig sein. Eine Gründungsfigur der erhabenen Distanz gegenüber der Natur, wie sie etwa aus Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (1818) bekannt ist, taucht in Vertigo Sea immer wieder auf. Sie schaut aber nicht nur auf das wilde Treiben des Meeres und seiner Nebel hinaus, sondern kommt immer wieder halb oder ganz zu den Zuschauer*innen gewendet ins Bild.

Das verunmöglicht die einfache Identifikation mit den Figuren der überlegen gesicherten Betrachter*innen, denen die Welt zu Füßen liegt – unabhängig davon, ob die distanzierten Betracher*innen im Bild auftauchen oder, wie in BBC Nature-Serien, hinter den Kameras verborgen bleiben, die sich der Natur aus Nanonähe oder im spektakulären (Dronen-)Überflug habhaft machen. In der Zurückwendung zu den Zuschauer*innen erweist sich die zentrale 18.-Jahrhundert-Figur in Vertigo Sea, die auf den befreiten Sklaven, Schriftsteller und Forschungsreisenden Olaudah Equiano (1745–97) referiert, darüber hinaus als Schwarze Person und durchkreuzt damit ein weiteres Axiom der Erhabenheitsästhetik bzw. legt es offen: die Unterstellung nämlich, dass das scheinbar neutrale Subjekt der Erhabenheitserfahrung von Natur, das sich die Welt auf gesicherte Weise spektakulär und spektakelhaft untertan machen kann, kein universelles ist, sondern ein weißes. [8] Anders gesagt, lokalisiert Vertigo Sea das Epizentrum der Gewalt im Dispositiv der erhabenen Überlegenheitsdistanz und verhält sich agnostisch zur Frage, ob es aus der Überlagerung von Gewalt und erhabener Schönheit bzw. dem Begehren nach beidem einen Ausgang und damit eine Zukunft gibt.

„John Akomfrah“, Wiener Secession, 21. Februar bis 21. Juni 2020.

Ruth Sonderegger ist Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschienen: Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung, zaglossus 2019.

Image credit: © Smoking Dogs Film. Courtesy Smoking Dogs Films und Lisson Gallery

Anmerkungen

[1]Auf der Website der Secession kann das Gespräch nachgehört werden: https://www.secession.at/exhibition/john-akomfrah/.
[2]Lisson Gallery, John Akomfrah in conversation with Ekow Eshun, 23.1.2016, https://www.youtube.com/watch?v=Rh9Rb0R_IyU.
[3]Vgl. dazu auch „An Absence of Ruins. John Akomfrah in Conversation with Kodwo Eshun“, in: Kodwo Eshun/Anjalika Sagar (Hg.), The Ghosts of Songs. The Art of the Black Audio Film Collective, Liverpool 2007, S. 130–137.
[4]Vgl. dazu auch das Interview von Coco Fusco mit dem Black Audio Film Collective in: Coco Fusco, Young, British & Black. A monograph on the work of Sankofa Film/Video Collective and Black Audio Film Collective, Buffalo, N.Y. 1988, S. 41–60, S. 47.
[5]Vgl. das Gespräch mit Akomfrah anlässlich des Sheffield International Documentary Festival 2015, https://www.youtube.com/watch?v=b6Mr2heCoeM.
[6]https://www.lissongallery.com/studio/john-akomfrah-tina-campt-saidiya-hartman.
[7]Vgl. zu diesem Argument Jakob Nilsson, „Capitalocene, clichés, and critical re-enchantment. What Akomfrah’s Vertigo Sea does through BBB nature“, in: Journal of Aesthetics & Culture, 10, 2018, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/20004214.2018.1546538.
[8]Vgl. zur weiteren Entfaltung dieser These mit Bezug auf Caspar David Friedrich, Geisterschiffe und Bilder der Migration: Moira Hille, Ghost(ed) Ships. Cruising Methods of Unghosting, PhD Thesis, Akademie der bildenden Künste Wien 2019.