UNSICHERE SUBJEKTE UND SELBSTBEWUSSTE STRATEG*INNEN Judith Siegmund über „Schule des Südens“ von Onur Erdur und „Die Welt nach den Imperien“ von Adom Getachew
Postkoloniale und dekolonisierende Theorien sind heute im akademischen und politischen Leben präsent, und auch in den bildenden und performativen Künsten werden sie viel gelesen, ausgelegt und angewendet. Zugleich kann man schon von einer gesellschaftlichen Spaltung sprechen im Hinblick auf ihre Rezeption in der Öffentlichkeit, denn medial wird postkoloniale Kritik und das, was sie in der Praxis initiieren soll, oftmals als Instantiierung partikularer Identitätsbewegungen abgetan. Auf der anderen Seite schützen sich postkoloniale Vertreter*innen nicht selten vor Einwänden durch die Performanz einer scheinbaren moralischen Überlegenheit. Universalismusvorwürfe an westlich-europäische Theoriegeschichte bleiben so in den geführten Debatten mitunter auf einem generalisierenden und plakativen Niveau, besonders im Streit über Auslegungen von theoretischen Texten. Dieser Streit anhand einer teilweise aggressiv thematisierten Gegenüberstellung von Partikularismus und Universalismus scheint praktisch gesehen im Moment keine konstruktive Denkfigur mehr abzugeben; wir sollten daher versuchen, spaltende Debatten voller gegenseitiger Vorwürfe in (selbst-)kritische und konstruktive Erzählungen und Dialoge umzuformen – Dialoge, in denen postkoloniale Geschichten und Erfahrungen als unhintergehbare Erkenntnisse und subjektive Einsichten ernst genommen und berücksichtigt werden, aber nicht separiert und absolut gesetzt werden müssen.
Zwei Bücher, die vor einiger Zeit erschienen sind, zeigen in diesem Sinn einen alternativen Umgang mit postkolonialen historischen Tatsachen. In Schule des Südens versucht Onur Erdur die wichtigsten französischen Theorien des Poststrukturalismus, die heutzutage oft in Medien und Universitäten einer starken Kritik ausgesetzt sind, unter dem Fokus von bisher vernachlässigten nordafrikanischen Einflüssen auf diese Theorien und ihre Autor*innen gegenzulesen. Die Philosoph*innen waren zwar zumeist als Vertreter*innen der Kolonialmacht Frankreich mit der politischen Situation und der Geschichte Algeriens, Tunesiens oder Marokkos im Kontakt, jedoch führte dies dazu, dass sie sich in verschiedenen Graden und auf verschiedene Weise für die Unabhängigkeit der Nordafrikaner*innen (teilweise erst im kolonialen Mutterland Frankreich) einsetzten. Hier bietet uns Erdur eine „Skala des postkolonialen Engagements“, die von beeindruckend engagiert (Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard) bis zu verschwiegen (Michel Foucault, Jacques Rancière) reicht, eine Beurteilung, die beim Lesen teilweise fasziniert und mitreißt, andererseits an einigen Stellen, zum Beispiel wenn es um das Beschweigen geht, einen leicht pejorativen Unterton mitschwingen lässt. Das postkoloniale Projekt war damals die zu erringende antikoloniale Befreiung nordafrikanischer Staaten vom Einfluss durch die Kolonisatoren. Eigene Schuld und Verstrickungen der Theoretiker*innen, aber auch Geschichten von in der Kindheit erlebter Ausgrenzung (Jacques Derrida, Hélène Cixous) führten zu einer Spezifik poststruktureller philosophischer Theoriebildung, so eine der Hauptthesen des Buchs. Der Überschlag von selbst reflektierten Subjektbiografien (die locker nacherzählt werden) in eine Theoriebildung der poststrukturalistischen Infragestellung von Subjektivität stellt eine der Thesen und systematischen Herausforderungen des Buchs dar.
Klar wird, dass die Philosoph*innen einerseits als Vertreter*innen der Kolonialmacht teilnahmen, wenn sie Stellen in Algier innehatten oder sich als Tourist*innen in den Kolonien aufhielten, andererseits aber auch als Kritiker*innen bzw. Opfer französischer staatsterroristischer Unterdrückung im Rahmen der Verfolgung antikolonialer Bewegungen auftraten. Thematisiert wird auch, dass die Abarbeitung an den Thesen des Marxismus einen steten Hintergrund und Rahmen bildete: Es sei um den (internationalen) proletarischen Kampf um Emanzipation gegangen, der, so Erdur, nicht ausreichend mit dem Einsatz für postkoloniale Anliegen der Unterdrückten verbunden worden sei.
Adom Getachew, Politikwissenschaftlerin aus Chicago, geht in ihrem Buch Die Welt nach den Imperien, das 2022 in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen ist, einen anderen Weg. Ähnlich wie Erdur fragt sie nach größeren geschichtlichen Zusammenhängen, aus denen unter anderem auch die heutigen postkolonialen Diskurse geschichtlich hervorgegangen sind.
Das Buch ist sehr umfangreich und quellenreich, es bezieht sich wesentlich auf afrikanische, westindische und europäische Archive. Als wissenschaftliche Abhandlung legt es Wert auf eine historische und politikwissenschaftliche Genauigkeit, die über die Bildung von Metathesen hinausgeht. Das hält Getachew nicht davon ab, das Weltgeschehen auf eine erhellend neuartige Weise historisch zu deuten, nämlich indem sie belegte Quellen, die oft als getrennte Narrative gelesen werden, zusammenführt. Der westlich geprägten Leserin wird bei der Lektüre unmittelbar sehr deutlich, dass im gewöhnlichen westlichen Geschichtswissen wesentliche Momente, Quellen und Autor*innen Black-atlantischer Weltgeschichte fehlen, und vor allem fehlt der Zusammenhang, in dem die Narrative antikolonialer Befreiung mit der Geschichte des Sozialismus bzw. Kommunismus, einer weltweiten Rezeption des revolutionären Marxismus, dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sowie den bestimmenden Narrativen des Kalten Kriegs stehen. Sowohl Kolonialist*innen als auch Antikolonialist*innen haben sich zum Narrativ einer proletarischen Weltrevolution verhalten, so oder so; Antikolonialist*innen eben auch unterschiedlich aufgrund regionaler und lokaler Besonderheiten afrikanischer und westindischer Geschichte und verschiedener intellektueller Ideen einer gerechteren postkolonialen Gesellschaft. Deutlich wird an den Abhandlungen antikolonialer Intellektueller (Nnamdi Azikiwe, W. E. B. Du Bois, George Padmore, Kwame Nkrumah, Erik Williams, Michael Manley, Julius Nyerere), dass der Schwarze internationale Befreiungskampf einen anderen als einen poststrukturalistischen Subjektbegriff voraussetzte. Die Theoretiker und Autoren des geteilten Projekts einer neuen Weltgestaltung waren nicht selten auch seine Staatsmänner. Sie mussten realpolitisch in konkreten, historisch gewachsenen Situationen agieren. Ihre Ideen einer gerechten Weltordnung, in der auch ökonomische Gerechtigkeit zwischen dem Westen und den neuen unabhängigen Staaten herrschen sollte, gaben sie nicht auf. Sie wiederholten jedoch auch nicht das marxistische revolutionäre Programm der Sowjetunion, sondern modifizierten es. Am Ende ihrer theoretischen Reflexion und ihres politischen und ökonomischen Kampfes steht Getachew zufolge der „Niedergang der Selbstbestimmung“ als das Scheitern der (letztlich auch marxistisch geprägten) Idee eines gerechten Internationalismus. Dennoch endet das Buch nicht pessimistisch, sondern mit einer Kontextualisierung der heutigen Kooperationen, die sich einer „antiimperialistischen Zukunft“ zuwenden. Das Buch schließt mit dem Gedanken, dass ein Nachdenken über imperiale Vergangenheit und die verschiedenen Versuche, den kolonial grundierten Rassismus zu beenden, für unsere heutigen Projekte einer neuen Zukunft hilfreich sein kann.
Sieht man beide Bücher nebeneinander, entsteht ein differenziertes Bild: Schule des Südens gibt Ausschnitte einer antikolonialen Geschichte, vor allem der Algeriens gegen Frankreich als Kolonialmacht, wieder – aus der Perspektive der Theorie französischer Intellektueller sowie Philosoph*innen – und thematisiert so die Einflüsse, die der Kampf um Unabhängigkeit auf die französische Theorie (als eine Theoriebildung im Kontext der ehemaligen Kolonialmacht) ausübte. Die französische Antwort ist eine Dekonstruktion, aber nicht Abschaffung des europäischen Subjekts, das sich im Zuge der gewaltvollen Kolonialgeschichte und ihres Endes in ein verunsichertes Subjekt verwandelt. Hier zielt das Credo des Autors darauf, die Einflüsse ehemaliger Kolonien in der Theoriegeschichte nicht mehr zu tilgen oder zu verschleiern, sondern vielmehr anzuerkennen.
In Die Welt nach den Imperien hingegen geht es um die Anerkennung Schwarzer antikolonialer englischsprachiger Kritiker*innen, die sich selbstbewusst ins Verhältnis zur rassistischen Politik und Geschichte des British Empire setzten. Ihnen als Theoriepositionen (und politischen Akteuren) denselben Raum zu geben wie zum Beispiel dem französischen Poststrukturalismus, den Erdur thematisiert, ist ein Ziel des Buchs, das es auch realisiert. Die antikolonialen Nationalist*innen Ghanas, Äthiopiens und Südwestindiens, die etwa die Panafrikanischen Kongresse mitgestalteten, fassen sich dezidiert nicht als Subjekte auf, die sich um die Anerkennung ihrer ehemaligen Kolonialmächte und ihrer Vertreter*innen bemühen, sondern als selbstbewusste Denker*innen und Stateg*innen, denen eine Idee der Weltgestaltung vorschwebt. Diese neue Weltgestaltung soll für alle gelten, so auch für die Angehörigen des (ehemaligen) British Empire. Aber genauso wie es im Bereich der performativen Theorien bereits diskutiert worden ist, können diese Denker auf nichts anderes als auf die imperiale Erfahrung zurückgreifen. Die revolutionäre Utopie, wie sie zum Beispiel dogmatische Formen des Marxismus eine Weile suggeriert haben, steht in der Epoche des Stalinismus auch den antikolonialen Denker*innen nicht mehr in ihrer reinen Form zur Verfügung. Die Sowjetunion hatte sich selbst zu einem Staat entwickelt, der seine antikolonialen Ziele missachtete. So wohnt dem antikolonialen Befreiungskampf dieser Spielart ein universeller Anspruch inne, der auch nicht mit den Dogmen realer Politik im Kalten Krieg zusammenfiel. Es waren Reflexionen und Versuche, die afrikanischen und westindischen lokalen Besonderheiten als wegweisend für eine gemeinsame antiimperiale Zukunft anzusehen, die zugleich als eine antirassistische Zukunft begriffen wurde. Erst vor einer solchen Folie fällt auf, dass wir heute im postkolonialen Theoriesetting oftmals von der Erfahrung einzelner Subjekte her denken und nicht von ökonomischen, politischen und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und Zielen her.
Onur Erdur, Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie, Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 335 Seiten;
Adom Getachew, Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022, 448 Seiten.
Judith Siegmund ist Philosophin und bildende Künstlerin, seit 2021 Professorin für philosophische Ästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie forscht u. a. zum Begriff künstlerischen Handelns in Settings rezenter und vergangener ästhetischer und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung.
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