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Isabelle Graw

Kleiner Tigersprung ins Vergangene

Alexander Rodschenko, Arbeiterklub für die Internationale Kunstgewerbeausstellung in Paris, 1925

Betrachtet man den russischen Konstruktivismus als einen Diskussionszusammenhang, dann nimmt er sich wie die Keimzelle all der künstlerischen Fragen aus, die uns derzeit umtreiben. So stammt z.B. das Modell des transdiziplinär verfahrenden Künstler-Kritiker-Designers aus den frühen 1920er Jahren. Die Aufhebung einer als rigide erlebten Arbeitsteilung war gleichsam Ehrensache und Künstler wie Tatlin oder Rodschenko dehnten ihr Tätigkeitsfeld entsprechend auf den angewandten Bereich aus. Ziel war der Übertritt in die industrielle Produktion, weshalb man heute zwischen einer ersten, frühen Phase des „Konstruktivismus“ und einer zweiten, späteren Phase des „Produktivismus“ unterscheidet. Dieses Phasenmodell übersieht jedoch, dass das Insistieren auf einem gesellschaftlichen Nutzen der Kunst ein durchgehendes Motiv war. Man wollte dem kommunistischen Projekt nützlich sein. Aus heutiger Sicht noch entscheidender ist jedoch meines Erachtens, dass das schriftliche Statement einen Aufstieg zum integralen und ebenbürtigen Bestandteil künstlerischer Praxis erlebte. Noch vor dem linguistic turn der 1960er Jahre wurde Visuelles und Textuelles hier auf eine Ebene gestellt. Diese Aufwertung des Texts, der Erklärung zumal, die einen weiteren Schub im Zuge der frühen Conceptual Art erlebte, hat sich heute in die normative Erwartung an den Künstler verkehrt, doch bitte selbst seinen Pressetext zu verfassen. Was einmal der Entmystifizierung der Kunst diente, läuft heute oft auf ein Bedürfnis nach „Wegerklären“ hinaus. Dennoch ist die Erhebung des Textes zu einem gleichberechtigten Element künstlerischer Praxis als historische Errungenschaft zu betrachten. Die Konstruktivsten betteten ihre Arbeiten in oft absichtlich pathetisch gehaltene Stellungnahmen oder Deklarationen ein, die ersteren den Anschein von Sprechakten verliehen. Interessant ist auch aus heutiger Sicht, dass dem Format „Diskussion“ damals eine enorme Bedeutung zukam. Die Frage, welches das angemessene Künstlerbild sei und welches das anzustrebenden künstlerischen Verfahren; war höchst umstritten und wurde in Arbeitsgruppen und rivalisierenden Untergruppen zumeist monatelang ausdiskutiert. In einer Art Mimesis an die Ästhetik der Partei mit ihren Verwaltungsakten wurden diese Debatten sorgfältig protokolliert. Da die Künstler vom kommunistischen Staat angestellt und bezahlt wurden, mussten sie selbstredend über ihre Tätigkeit Rechenschaft ablegen. Selbstevaluierung avant la lettre. Doch während in den 1920er Jahren die Diskussionen etwa um das Gegensatzpaar „Komposition versus Konstruktion“ kreisten, und dies vor allem im Hinblick auf die Frage, wie künstlerische Produktion überhaupt zu legitimieren sei, fungiert der Topos „Diskussion“ heute in der Kunstwelt eher wie eine Art Fetisch. Diskussionen haben weder Dringlichkeitscharakter, noch wirken sie sich unmittelbar auf künstlerische Verfahrensweisen aus. Eher schon inszenieren sowohl Künstler als auch Institutionen Diskussionen heute oft allein um der Diskussion Willen. So als wäre die Diskussion an sich schon ein Wert für sich. Bemerkenswert an der Formation „Russischer Konstruktivismus“ ist zudem aus heutiger Sicht, dass Künstlerinnen in ihr eine große Rolle spielten und über enorme Definitionsmacht verfügten. Künstlerinnen wie Stepanova z.B. waren zentrale Vordenker dieser Bewegung und hielten die entscheidenden Vorträge. Doch im Anschluss an Stepanovas Präsentation „On Constructivism“ (1921) sollte sich eine in ihrer Heftigkeit unübertroffene Debatte entfalten, die vor persönlichen Beleidigungen nicht zurückschreckte. Stepanova wurde derart herabwürdigend behandelt, dass sie damit drohte, die Sitzung zu verlassen. Obgleich also die Konstruktivisten formal die Gleichberechtigung der Frau zu ihrem Ideal erklärt hatten, reagierten sie auf jene Frauen, die Definitionsmacht beanspruchten, nach traditionell sexistischem Muster. Plötzlich wurden jede Menge kaum nachvollziehbare spitzfindige Einwände vorgebracht, die ihren Sexismus durch ihre Heftigkeit und ihren beleidigenden Charakter verrieten. Man hielt die Frau in der Rolle der Vordenkerin eben doch nicht aus. Es ist darüber hinaus aufschlussreich, die zentralen Arbeiten der russischen Konstruktivisten – etwa „Oval Hanging Construction No.12“ (1920-21) von Rodschenko, gegen den Strich des für sie üblicher Weise Behaupteten zu lesen. Diese Arbeiten sollten sich durch ihre deduktive Vorgehensweise auszeichnen und ihr Produktionsprinzip dadurch auf Anhieb nachvollziehbar sein. Künstler wie Rodschenko verschrieben sich der (vermeintlich) gegebenen Logik des Materials, das ihnen die Vorgehensweise gleichsam in die Finger diktierte. Und sie setzten auf protoindustrielle, zum damaligen Zeitpunkt noch nicht nobilitierte Materialien wie Holz, Eisen oder Draht. Zwar wird bei der Betrachtung der spatial structures von Rodschenko durchaus deutlich, dass sie ein bestimmtes formales Prinzip – etwa den konzentrischen Kreis – variieren und aufgreifen. Gleichwohl ist das Produktionsprinzip dieser Arbeiten ebenso wenig transparent, wie sie in ihm aufgehen. Dies gilt um so mehr für die Versuche der Konstruktivisten, sich der Industrie anzudienen und rein funktionalistisch ausgerichtete Arbeiten zu produzieren. Noch die Textilentwürfe von Popova und mehr noch der berühmte „Workers Club“ (1925) von Rodschenko gehen über ihre Funktion hinaus, da sie eine spezifisch „ästhetisch“ zu nennende Sprache aufweisen. Wo die russischen Konstruktivisten dafür kämpften, dass ihre Entwürfe von der industriellen Produktion aufgegriffen, d.h. instrumentalisiert werden würden, hat sich die Situation inzwischen dahingehend abgewandelt, dass es speziell die Modeindustrie verstärkt darauf anlegt, markterfolgreiche Künstler einzubinden. Man denke nur an die Taschenaufträge, die Louis Vuitton an Künstler wie Richard Prince vergab, oder an die Kooperation zwischen Stella McCartney und Jeff Koons. Und während die Konstruktivisten zugunsten der Funktionalisierung ihrer Arbeiten bereitwillig jeden Kunstanspruch aufgaben, ist es einem Künstler wie, sagen wir, Jorge Pardo, heute durchaus möglich, zwar einerseits funktionale Objekte (Lampen) herzustellen, die jedoch andererseits von ihrem Anspruch zehren, dass sie „Kunst“ sind. Wer eine Pardo-Lampe besitzt hat gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen – er sieht sich im Besitz eines Kunstwerks und hat zugleich eine funktionstüchtige Lampe erstanden. Die russischen Konstruktivisten hingegen waren nur allzu bereit, die traditionell mit dem Etikett „Kunst“ verbundenen Privilegien (Zweckfreiheit, Wahrheitsanspruch) aufzugeben. Es galt, in einem ersten Schritt die Instrumentalisierung der Kunst zu forcieren. Dieser Schritt musste getan werden, um dann später in einem zweiten Schritt die Gefahren einer solchen Instrumentalisierung aufzeigen zu können. Doch schon damals stand – der heutigen Krisensituation vergleichbar – das Bild des Künstlers auf dem Prüfstand. Statt also in üblicher Weise eine Art Verfallsgeschichte der russischen Konstruktivsten zu schreiben und sie an ihren (fehlgeschlagenen) Ansprüchen zu messen, würde ich mich von einem solchen Effizienzdenken verabschieden wollen. Eben weil sich ihre Produkte und dies entgegen den Verlautbarungen NICHT auf Funktionen reduzieren lassen, interessieren sie uns heute. In der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt das Potential dieser Bewegung. Zudem sehen wir uns heute mit der perversen Einlösung einiger ihrer zentralen Forderungen, wie z.B. Aufhebung der Arbeitsteilung, Transdiziplinarität, Aufwertung von Theorie, Kommunikation und textueller Produktion etc konfrontiert. Nähert man sich dieser Geschichte mit einem Gespür fürs Gegenwärtige, dann lässt sich ihr viel abgewinnen.