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VOM BLAUEN ZUM ROTEN PLANETEN Marlene Militz über „MarsOnEarth: Die Marsnahme“ von andcompany&Co

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

Wenn es um Ressourcenknappheit und Ersatzplaneten geht, ist der Name Elon Musk nicht weit und die Kritik an ihm einhellig. Wie der Streit um das Tesla-Werk in Brandenburg zeigt, wird die Lage komplizierter, wenn es darum geht, Forderungen der Klima-Bewegung mit gewerkschaftlichen zusammenzubringen: „Kann man gleichzeitig das Ende der Produktion und bessere Arbeitsbedingungen für die Produzierenden fordern?“ fragte kürzlich ein Autor der taz. Das neue Stück des Künstler*innenkollektivs andcompany&Co. verschaltet sozialistische Science-Fiction des vergangenen Jahrhunderts mit gegenwärtigen Zukunftsängsten und postkapitalistischen Visionen. Marlene Militz bespricht es vor dem Hintergrund seines literarischen Bezugspunkts – dem Buch Der rote Stern (1908) von Alexander Bogdanow.

Genau zu Beginn fängt es an zu gewittern. Es ist der letzte Abend der Aufführung von MarsOnEarth: Die Marsnahme, eines Stückes des Performancekollektivs andcompany&Co, auf dem Gelände der Floating University; die in einer Kleingartenkolonie nahe der Hasenheide ansässig ist. Es donnert bedrohlich und nieselt in das Regenwasserrückhaltebecken, an dessen Rand ein rundes Gebäude aus Brettern errichtet wurde. Das untere Geschoss ist offen für das Publikum einsehbar; auf ihm thront eine große weiße Kuppel.

Es regnet schon etwas stärker als die neun Performer*innen in roten Kostümen auf dem hölzernen Pfad, entlang der hölzernen Bauten der Floating University, der Bühne entgegenmarschieren. Die Bewohner*innen des Kuppelgebäudes richten sich ein – ein Grammophon wird aufgestellt, der kleine Hund, der mitmarschiert war, legt sich auf ein Kissen. Alle tragen sie individuelle, recycelte Kostüme in Rot mit silbernen Gummistiefeln. Dann formieren sie sich auf den Treppenstufen vor dem Gebäude und begrüßen gemeinsam, im Chor sprechend, das Publikum. Am ersten Abend der Vorführung hatte es bereits wochenlang nicht mehr geregnet, erzählt eine Performerin, die aus der Gruppe herausgetreten ist. Trocken wäre es gewesen. Und das in einem Regenwasserrückhaltebecken.

Die Aufführung beginnt mit der Situierung des Aufführungsortes, an dem die international zusammengesetzte Performancegruppe für das Projekt gemeinsam geforscht hat. Das heute von Gärten, Bäumen und Büschen umgebene Betonbecken diente ehemals dem Betrieb des Flughafens Tempelhof, um überschüssige Wassermengen aufzufangen. Seit Schließung des Flughafens fängt das Becken weiterhin Regenwasser auf – auch wenn das immer weniger wird. Über die Zeit haben sich hier Algen, Schilf und Schlamm angesiedelt – ein Biotop für Amphibien und Vögel, „eine vom Menschen geschaffene und von der Natur zurückgewonnene Umgebung, in der verschmutztes Wasser mit der relativ neuen Präsenz des pädagogischen Experiments koexistiert“. [1] Das Projekt der Floating University gibt es seit 2018; als „kollektives temporäres Experiment für erfahrungsorientiertes Lernen und transdisziplinären Austausch“ initiiert, ist es mittlerweile ein Verein und die geschaffene Infrastruktur am Rande des Beckens dauerhaft. [2]

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

Die vom Menschen beeinflusste Natur ist jedoch nicht nur Bühne, sondern auch Programm der hier dargebotenen Theaterperformance MarsOnEarth, die sich assoziativ mit den Folgen der Klimakatastrophe im lokalen Kontext – in Brandenburg – beschäftigt. Kapitalismuskritik und Degrowth-Kommunismus treffen auf spielerische Szenen, die sich im angesammelten Regenwasser von 10 bis 20 Zentimetern Höhe abspielen. Als inhaltlicher Bezugspunkt dient das 1908 erschienene Buch Der rote Stern des russischen Sozialisten Alexander Bogdanow, eines frühen Wegbegleiters Wladimir Iljitsch Lenins. [3]

Bogdanows utopischer Roman, der einen russischen Sozialisten auf den Mars versetzt, gilt als einer der ersten kommunistischen Science-Fiction-Romane. Der Autor entwirft das Panorama einer postrevolutionären Gesellschaft, die in ihrer sozioökonomischen Evolution der Erde um etwa zwei bis drei Jahrhunderte voraus ist. Der Übergang von einer kapitalistischen zu einer kommunistischen Ordnung hat hier ohne große Probleme stattgefunden. Es herrscht Geschlechtergleichheit, Kindererziehung findet kollektiv statt, das Konzept der traditionellen Kernfamilie wurde längst abgeschafft. Arbeit ist freiwillig und wird jenseits ökonomischen Zwangs zum freiwilligen Akt kommunaler Partizipation. Dabei können die Einzelnen selbst entscheiden, in welche Fabrik sie ihre Arbeitsstunden einbringen möchten. Hierzu werden in Echtzeit die benötigten oder überschüssigen Arbeitsstunden in den verschiedenen Produktionssektoren angezeigt, sodass sich die Arbeiter*innen entsprechend täglich neu verteilen können.

Die Museen präsentieren selbstverständlich, wenn auch nicht ausschließlich, proletarische Kunst, deren bevorzugtes Genre die realistische Skulptur marsianischer Körper ist. In den Krankenhäusern werden routiniert Bluttransfusionen vorgenommen, was das hohe Alter vieler Bewohner*innen in augenscheinlich jung gebliebenen Körpern erklärt. Blut wird als eine kollektive Ressource begriffen, die in einer transhumanen Zirkulation zwischen den Individuen fließt. In jedem Krankenhaus gibt es einen Raum, in dem auf Wunsch Sterbehilfe geleistet wird. Für den sozialistischen Erdling ist das Leben auf dem Mars höchst beeindruckend: Alles wird im Kollektiv erschaffen und entschieden, ohne dass unlösbare Konflikte entstehen. Zudem sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaften weit fortgeschritten und werden innovativ eingesetzt, um gesellschaftliche Probleme zu lösen.

Doch die Marsianer stehen vor einem existenziellen Problem: Da ihr Planet um mehrere Jahrtausende älter ist als die Erde und zudem nie genau so ressourcenreich war, gestaltete sich das Leben auf ihm schon immer weitaus härter. Doch durch die fortschreitende Entwicklung der wachsenden kommunistischen Gesellschaft auf dem Mars steht ihm nun der Kollaps bevor; in 30 Jahren wird nicht mehr genügend Nahrung zur Versorgung der Bevölkerung vorhanden sein, weshalb die Kolonisierung der nächstgelegenen Planeten Erde oder Venus ins Auge gefasst wird. Der Erdling erfährt, dass bereits vor 70 Jahren, als alle „Steinkohlevorräte versagten und der Übergang zur Wasser- und Elektrizitätskraft noch lange nicht bewerkstelligt war“, ein bedeutender Teil der Wälder abgeholzt werden musste, „um die gewaltigen Maschinen herstellen zu können, [...] was auf Jahre hinaus den Planeten verunstaltete und das Klima verschlechtert hat“. [4]

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

Was Bogdanov 1907 über den Mars und dessen um zwei bis drei Jahrhunderte fortgeschrittene kommunistische Bevölkerung mitsamt des dadurch verursachten Klima- und Ressourcenkollapses spekulierte, hat die in weiten Teilen kapitalistisch organisierte Erde in weit kürzerer Zeit Realität werden lassen. In MarsOnEarth bietet der Chor aus neun Performer*innen deshalb Elon Musk die Erkenntnis als Wette an, dass die Wahrscheinlichkeit, aus dem Mars in diesem Jahrhundert eine zweite Erde zu machen, weitaus geringer ist, als aus der Erde einen Mars zu machen – auf die Raumfahrt könnte man demnach verzichten.

Die Aufführung, weit entfernt von einer konventionellen Inszenierung des roten Sterns, verwebt den Stoff des utopischen Romans frei mit den persönlichen Geschichten der Darsteller*innen, die sich allesamt selbst spielen. Ohne Kenntnis von Bogdanows Werk dürfte es schwerfallen, die assoziativen Bezüge zum Originalwerk herzustellen und einzuordnen. Leichter zugänglich sind hingegen die Verweise auf aktuelles Zeitgeschehen: So taucht Elon Musk wiederholt als Motiv auf. Einige der Performer*innen haben, wie der Rest der Gruppe berichtet, bereits kleine Fehden gegen ihn angezettelt. So zum Beispiel der Künstler Heimo Lattner, der seit dem Bau der Tesla-Firma in Brandenburg nur noch 120 Liter Wasser am Tag benutzen darf. Oder Vettka Kirillova, die schon in ihrer Heimat Kasachstan dem Austrocknen des Aralsees zusehen musste und die nun auch in Deutschland Zeugin von menschengemachter Wasserknappheit wird. Jede*r aus der internationalen Performer*innentruppe hat eine spezifische Verbindung zum Klimakollaps auf der Erde (und speziell in Brandenburg): Ulf Soltau ist Biologe, Mariana Senne dos Santos ist Aktivistin, Wang Wang Planetenforscher. Alle drei singen im Laufe der Aufführung Lieder im Stil von retro-futuristischem Pop.

Die Aufführung, deren Text von Alexander Karschnia und Nicola Nord &Co. verfasst wurde, erzählt den Science-Fiction-Roman nicht einfach nach. Stattdessen werden in fragmentarischen Szenen auf einer Metaebene die Themen der sozialistischen Naturkatastrophe umkreist, gibt es Bezüge auf das Werk und seinen Autor selbst, und reflektiert werden dabei immer der Aufführungsort, das Publikum und der lokale Kontext. Eine wiederkehrende Frage ist, warum Bogdanow nach Der rote Stern und dessen einige Jahre später erschienenem Prequel Der Ingenieur Menni keinen dritten Roman mehr verfasste. So bleibt offen, wie es mit dem Erdling auf der Erde weiterging. Vom roten Stern wird er jedenfalls wieder auf der Erde abgesetzt, wo er sich sofort in die Wirren der in Russland inzwischen ausgebrochenen Revolution stürzt.

Bogdanow selbst veröffentlichte nach seinen beiden fiktionalen Werken noch zahlreiche philosophische Schriften, unter anderen seine monumentale Tektologie (1912–1917), die sich mit Fragen der langfristigen Krisenresistenz und Beständigkeit von Systemen befasste. 1907 war es zum ideologischen Bruch mit Lenin gekommen, der in seiner polemischen Schrift Materialismus und Empiriokritizismus (1909) Bogdanow des philosophischen Idealismus beschuldigte, weil dieser versuchte, Marxismus mit der Philosophie von Ernst Mach, Wilhelm Ostwald und Richard Avenarius zu verbinden. Der Bruch führte schließlich zum Ausschluss Bogdanows aus der Bolschewistischen Partei. 1913 kehrte er aus dem finnischen Exil nach Russland zurück und widmete sich, zunehmend isoliert, in Folge der Revolution 1917 der kulturrevolutionären Proletkult-Bewegung, deren Ziel die Eröffnung proletarischer Universitäten landesweit war.

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

andcompany&Co., „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, 2024

Aufgrund seiner politischen Opposition zu Lenin, der Bogdanow insbesondere für seine philosophischen Positionen attackierte, die einen Gegenentwurf zum dialektischen Materialismus boten, geriet er im Laufe der Zeit in Vergessenheit. Auch seine beiden utopischen Romane wurden wenig rezipiert. 2016 widmete McKenzie Wark Bogdanow in ihrem Buch Molecular Red: Theory for the Anthropocene ein eigenes Kapitel. Darin betrachtet sie die Romane als Erweiterung seiner übergreifenden Systemtheorie der Tektologie. Wark positioniert Bogdanow damit als einen Systemtheoretiker, der sich früh mit der Rolle der menschlichen Gesellschaft innerhalb größerer biogeologischer Prozesse auseinandersetzte – der also bereits vor über 100 Jahren ein Kernthema der Anthropozän-Theorie bearbeitete.

In Der rote Stern dreht sich letztlich die Utopie zur Dystopie, denn die marsianische Gesellschaft befindet sich im fortgeschrittenen Anthropozän und ist existenziell bedroht – ihr einziger Gegner ist die Natur selbst. So haben der blaue Planet und Bogdanovs roter doch eine Gemeinsamkeit: Auf keinem von beiden wird Degrowth praktiziert. Der Kommunismus auf dem Mars ist nicht jener, den Theoretiker*innen wie zuletzt Kohei Saito (Marx in the Anthropocene. Towards the Idea of Degrowth Communism, 2022) imaginieren – im Gegenteil. Auf die Frage des Erdlings, ob man das Bevölkerungswachstum nicht begrenzen könne, entgegnet eine Marsianerin entsetzt: „Das bedeutete den Sieg der Natur. Bedeutete den Verzicht auf das unbegrenzte Anwachsen des Lebens, bedeutete das Stehenbleiben auf der gleichen Stufe.“ [5]

Die Ideologie der Naturbeherrschung durchdringt auch den kommunistischen Mars; sie ist geradezu das Fundament seiner Weltanschauung. Der rote Stern ist also – obgleich als fiktionale Auseinandersetzung mit Ideen und Konzepten der Anthropozän-Theorie früh dran– kein Vorreiter der Degrowth-Bewegung. Und so distanziert sich die Theaterperformance an ihrem Ende von Bogdanows marsianischer Utopie, indem sie Erkenntnisse der Gegenwart reflektiert, die 1907 noch nicht verfügbar waren. Der Schlussappell des Stückes lautet: „Schrumpft, aber schrumpft nicht falsch!“ MarsOnEarth endet, wie es begann: im Regen. – Trotz tragischer Hochwassermeldungen hier zunächst mal ein Hoffnungsschimmer, der das Rückhaltebecken vorerst vor falschem Schrumpfen bewahrt.

andcompany&Co, „MarsOnEarth: Die Marsnahme“, Floating University, Berlin.

Marlene Militz ist Kunstwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Image credit: © Courtesy of andcompany&Co, Fotos Barbara Braun

ANMERKUNGEN

[1]https://raumlabor.net/floating-ev/.
[2]https://floating-berlin.org/association/about/.
[3]Der russische Originaltitel Krasnaja swesda wurde für die deutsche Erstausgabe vom Verlag der Jugendinternationale 1923 mit Der rote Planet übersetzt.
[4]Alexander Bogdanow, Der rote Stern. Ein utopistischer Roman [1923], Berlin, 2023, S. 75.
[5]ebd., S. 76.