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WALTER DAHN (1954–2024) Von Andreas Gehlen, Nschotschi Haslinger, Christof John, Friedrich Kunath, Kalin Lindena, Antje Schiffers, Ralph Schuster, Marcus Steinweg, Malte Struck und Anna Virnich

Walter Dahn, 2014

Walter Dahn, 2014

Bevor ich Walter 1994 in Köln kennenlernte, kannte ich nur ein paar seiner Arbeiten. Die Ex-Voto-Bilderserie zum Beispiel, die einer Gottheit zum Opfer dargebrachte Figuren darstellt. Walter scheute sich nicht, das Thema der Magie sowie des religiösen Rituals oder auch Wunders zu verhandeln. Selbst wenn er sie nicht explizit thematisierte, gibt es in seiner Arbeit eine Magie wider besseres Wissen. Manche Fotoarbeiten orientieren sich an Sigmar Polke, an dessen Bildalchemie und manchmal auch an dessen Humor. Nicht alles, was Walter tat, sollte in Wissen aufgehen. Dennoch widerstand er der Versuchung zum Obskurantismus. Er erzählte, dass Joseph Beuys, bei dem er früh an der Kunstakademie Düsseldorf studiert hatte, ihn und die anderen Studierenden statt nur in die Kunstmuseen ins Naturkundemuseum schickte. Wissen war ihm wichtig. Lesen, forschen. Zugleich wusste er, dass Wissen nicht alles ist, dass Kunst sich nicht im Wissen erschöpft. Auch nicht in der Kritik. Nicht im Dagegensein. Hierin glich er Gilles Deleuze.
Bevor Walter von 1995 bis 2017 Professor an der HBK Braunschweig war, hatte er seine Anfangserfolge als Mitglied der Künstlergruppe Mülheimer Freiheit. In der Zeit unserer Freundschaft blickte er auf die „Wilde Malerei“ als auf etwas Vergangenes zurück. Er suchte einen leiseren, reflektierteren Ton. Das Medium Malerei wurde von ihm durch andere Medien wie Zeichnung, Collage, Fotografie erweitert. Bei einem meiner Atelierbesuche Mitte der 1990er Jahre schenkte er mir die von ihm mit Bleistift vollgekritzelte Ausgabe von Deleuze’ Kleine Schriften. Das Merve-Büchlein war unter seiner Hand zu einem Kunstwerk geworden. Er hatte es sich durch seine Zeichnungen angeeignet. Dieses Sichaneignen war bei ihm Methode. Immer drückte es sein Gefallen am Angeeigneten oder Gesampelten aus. Er setzte alles ins Verhältnis. Sprachfetzen, Zitate, Songtitel, Plattencover, Musik. Alles konnte Material für eine künstlerische Setzung oder eben Reflexion sein. Nichts, das nicht kunstwürdig gewesen wäre. Mit einer Ästhetik des Erhabenen hatte Walter nichts zu tun. Eher mit einer Magie der Alltäglichkeit. Ein von ihm auf dem Weg ins Café fotografierter überfüllter Mülleimer wurde Poesie, Zufallsarrangement, fast übersehene Skulptur. Walter hatte einen Sinn fürs nichtverordnete Schöne. Als er mich 1996 einlud, einen Text für den Katalog seiner Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam zu schreiben, nannte ich diesen Text „Gestattung des Schönen“, um Walters Schönheitssinn Ausdruck zu verleihen. In allem war er dem Schönen auf der Spur. Mit wenigen künstlerischen Entscheidungen konnte er einen Ausstellungsraum definieren. Das war das Magische seiner Praxis. Er brachte die Dinge zum Sprechen, wie es auf seine Art Walter Benjamin tat. Und er ließ andere zu Wort kommen, in seiner Kunst wie im Gespräch mit ihm: Claude Lévi-Strauss, Blinky Palermo, Pier Paolo Pasolini, Rainer Werner Fassbinder, Rosemarie Trockel, Elvis Presley, Richard Prince, George Condo. Auch Martin Kippenberger, über den er sich selbst dann noch positiv äußerte, als dieser ihn hart angegangen war.
Walter war verletzlich und machte keinen Hehl daraus. Aber auch keine Tugend, weshalb die Zartheit bei ihm souverän ausfiel. Sie war seine Kraft. Er blieb positiv und großzügig. Mitte der 1990er Jahre schlug er mir eine kleine gemeinsame Publikation im Kölner Salon Verlag vor: The Abandoned House. Da war ich 25, und sein Vertrauen in mich hat mir Mut gemacht. Walter teilte auch sein Interesse an Literatur und Philosophie. Er empfahl mir, Cormac McCarthy und James Agee zu lesen. Ich erzählte ihm von meinen Lektüren, damals viel Jean-Paul Sartre und Jacques Derrida. Jede Begegnung war ein Arbeitstreffen, ohne dass es als solches definiert war. Alles wurde im Hinblick auf die eigene Arbeit oder Zusammenarbeit weitergedacht. Oft schenkte er mir eine kleinere Fotoarbeit oder Zeichnung, die er während unseres Treffens angefertigt hatte. Es gab für ihn kein Leben außerhalb der Kunst, weil die Kunst, so, wie er sie wahr- und ernst nahm, mitten ins Leben gehörte. Das war seine spezifische Erweiterung des Kunstbegriffs. Gelebte soziale Plastik, die, ohne auf Magie zu verzichten, ohne Mythenschwere auskam.
Marcus Steinweg

Thomas Virnich kam 1994 in die Holzwerkstatt, um mit mir über neue Ideen für Arbeiten zu sprechen. Während des Austauschs schweifte er kurz ab und fragte: „Sag mal, wen fändest du denn als Malerei-Professor gut für die HBK Braunschweig?“ „Walter Dahn“, schoss es reflexartig aus mir heraus. Dessen frühe Malerei war mir dank bildgewaltiger Kataloge seit der Schulzeit sehr präsent. Seine Objekte, mit leichter Hand gefertigt, gingen mir nicht aus dem Kopf und mündeten in eine schüchterne Bewunderung. Ich erinnere mich an zwei Begegnungen. Die erste ergab sich im Café vor Bruno Wolkenaers Laden für Künstlerbedarf. Ich bemerkte Walter mit einem Freund neben mir am Tisch sitzend. Er rief zu mir rüber: „He, brauchst du den Zucker?“ Ich reichte ihm diesen kommentarlos. Die zweite Begegnung einige Jahre später: Thomas nahm mich mit in den Kunstverein Heinsberg zu Frances Scholz’ Ausstellungseröffnung. Dort saß Walter leicht verträumt vorm Schaufenster und flocht an einem Blätterkranz.
Walter left the building. Du fehlst.
Andreas Gehlen

Walter wollte keine neuen Bilder mehr malen. Er wollte Dinge, an denen ihm etwas lag, ins Verhältnis zueinander setzen. Diese Praxis des Ins-Verhältnis-Setzens ging von seiner künstlerischen Arbeit nahtlos in seine Art zu unterrichten über. Mir war aufgefallen, schon bevor ich Teil der Klasse wurde, wie alles, was dort entstand, miteinander harmonierte, auch wenn die Positionen formal und medial weit auseinanderlagen. Figurative Malerei gab es hier kaum. Das meiste, was entstand, war reduziert und zugleich groß in seiner Zartheit. Wir suchten zusammen nach Klarheit. Wir hörten gemeinsam Musik und schauten uns alle möglichen Filme an. Jede*r aus der Klasse hat ihre*seine persönlichen Erinnerungsfetzen.
Walter sprach davon, dass manche von James Ensors Bildern aus der Zukunft kamen. Er erzählte davon, wie Blinky Palermo auf einem Stuhl saß und alles mit sich machen ließ. Von der inneren Notwendigkeit von Kunst. Von Humor als einem Erkenntniswerkzeug. Davon, nicht nur gegen etwas zu sein, sondern selbst etwas Positives zu erschaffen. Mit ihm wurde die Klasse ein Raum, in dem die Kunst atmen konnte.
Nschotschi Haslinger

Walter war für mich wie ein riesiger Planet, von dem ununterbrochen Energie ausging. Energie, die sich in unterschiedlichsten Aggregatzuständen äußerte, sei es in seinem eigenen künstlerischen Werk oder in der Lehre, im Austausch und Teilen von Wissen. Für die eine oder den anderen konnte dies zu einem gewaltigen Geschenk werden, das wiederum Kräfte in uns erzeugte, die noch immer und auch in Zukunft wirken werden.
Christof John

Wenn ein Mensch geht, wird augenscheinlich, was von ihm bleibt.
Wenn ich an Walter denke, habe ich immer das absurde Bild eines „kosmischen Hausmeisters“ im Sinn …
Walter hatte die Schlüssel in der Hand, uns, seinen Student*innen, die Türen zu einer radikal poetischen Sicht auf die Dinge zu öffnen.
Er brachte uns die existenzielle Grammatik bei, zu artikulieren, was uns bis dahin unartikulierbar schien.
Mit allem, was er war und tat, hat er uns vorgelebt, wie man sich in den Dienst der Kunst stellen kann und – zwingend, radikal, poetisch – muss!
Und dass diese bedingungslose Unterwerfung durchdrungen ist von Liebe, und – mit seinen Worten – „von Gnade“.
Walter ist gegangen. Und im endlosen Staffellauf des Lebens machen wir in seinem Sinne weiter.
Ich möchte es wagen, Joan Didion und Oasis in diesem Zusammenhang für Walter zusammenzubringen. Ich weiß, er hätte es geliebt.
We tell ourselves stories in order to live. In diesem Sinne: Walter lives forever.
Friedrich Kunath

Die Motive aus meinem ersten Gespräch mit Walter 1999 – es ging natürlich um Musik – male ich weiter, immer, alles. Das Gespräch hatte sehr viele Kapitel, es war eine Roller-Coaster-Fahrt seiner beiläufig getanzten, an guter Stelle platzierten – manchmal hat’s auch gesessen –, mich immer begleitenden Haltung. Ich habe erst im Laufe der Jahre gemerkt, was alles aus der Zeit meines Studiums bei ihm kam: Das ist der Boden, auf dem ich stehe. Wollte ich doch bei ihm studieren, um die Beuys-Luft zu atmen. Das nun weiterzugeben an meine Studierenden, seine „Enkel“ sozusagen, ist mir wichtig; ich sehe es als meine Aufgabe, jetzt noch viel mehr. Da ist noch so vieles … und du fehlst, Walter!
Kalin Lindena

In den ersten Jahren in Braunschweig hat Walter bei mir gewohnt, danach bei Gerd und Uwe. Er ist nicht gern allein gewesen. Es gab Ofenheizung, keine Dusche und Caro-Kaffee.
Wir haben viel Musik gehört. Jazz hatte für ihn unnötig viele Töne. In meiner Erinnerung hat er uns vor allem viel erspart: schlechten Stil, Distinktionsbedürfnis, autoritäre Gespräche, mit weißen Handschuhen hantieren, durch Vokabular und Diskurs bloßgestellt werden. Später bin ich für ein Jahr nach Mexiko gegangen und habe in den Bergen, in Chicahuaxtla, gelebt. Als ich zurückkam, wurde ich eingeladen, einen Vortrag über diese Zeit an der HBK Braunschweig zu halten. Walter hat mir geraten, ihn mit „Da, wo ich war“ zu beginnen, so, wie man es am Lagerfeuer tun würde. Es war der einzige kollegiale Hinweis, der einzige Unterricht, an den ich mich erinnern kann, und er war ausreichend.
Antje Schiffers

Die gemeinsame Zeit mit Walter Dahn in Braunschweig und Köln ist für mich ein Geschenk aus fein verästelten Erinnerungen und Anekdoten. Apfelschnüre von Haribo um Äste wickeln. Über Musik sprechen und Kunst meinen. Musik-CDs für Autobahnen brennen. Raststätte Rhynern, Burger King, Judee Sill, Marlboro Menthol und Red Bull. In der Dämmerung Misteln in Pappeln durch die Windschutzscheibe fotografieren. Die Türen zu kosmischen und poetischen Welten öffnen. Die Verwandlung von Dingen des Alltäglichen in Poetisches; die Verdrehung von Redewendungen in elementare Fragen; das Erheben von Nebensächlichem und Übersehenem zu Monumenten; usw. All dies mittels Gedanken, Sprache, einfacher Zeichen. Unsere Treffen begannen oft mit langen Gesprächen über Musik. Von Nische, bis Klassik und Mainstream. Während dieser Unterhaltungen wurde häufig in Nebensätzen alles Weitere schon besprochen.
Ralph Schuster

Die Zärtlichkeit im Death-Metal
A world that might have been …
„Wie auch immer“
Malte Struck

Die ersten Tage in der Dahn-Klasse fühlten sich für mich an wie das erste Mal auf einem Filmset. Alles war geschäftig, jede*r an ihrem*seinem Platz zugange. Alle folgten scheinbar einer mir verborgenen Choreografie, und über allem lag diese erwartungsvolle Spannung – wann geht es los? Während Kaffee gekocht, über Musik, die neusten DVDs und irgendwas gesprochen wurde, fielen beiläufig die ersten von vielen sehr genauen Sätzen, abgewandelten Redewendungen und Wortzerlegungen, die das ganze Studium, die ganze Welt, innehatten. Alles war Kunst, und wir waren die Transmitter. In diesem ersten Jahr bat Walter mich, für ein Beuys-Symposium in der Aula der Hochschule einen Text mit ihm vorzutragen. Er war er und ich Beuys. Irgendwann Jahre später verstand ich, dass dies der Inbegriff seiner Lehre war. Walters Genauigkeit der Kunst gegenüber war riesig. Hier verlangte er volle Aufmerksamkeit, immer bereit, die Kunst zu schützen. Vor was eigentlich, kam mir erst etwas später in den Sinn.
Anna Virnich

Image credit: © Alfred Jansen

Andreas Gehlen arbeitet in Köln/Brühl als Künstler, Unternehmer und Projektraumbetreiber.

Nschotschi Haslinger hat von 2004 bis 2010 bei Walter Dahn studiert. Ihre künstlerische Arbeit ist geleitet von Urspungsfantasien, in denen Kunst, Medizin und Mythologie einer gemeinsamen Keimzelle entspringen.

Christof John ist Künstler, er lebt und arbeitet in Köln.

Friedrich Kunath hat bei Walter Dahn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig studiert. Er ist Maler und Objektkünstler und lebt in Los Angeles.

Kalin Lindena studierte bei Hartmut Neumann, Johannes Brus und Walter Dahn in Braunschweig. Sie lebt in Berlin und Karlsruhe, wo sie seit 2014 Professorin für Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe ist.

Antje Schiffers ist Künstlerin und lebt in Berlin.

Ralph Schuster studierte von 2007 bis 2012 bei Walter Dahn in Braunschweig. Er lebt und arbeitet in Brüssel.

Marcus Steinweg ist Philosoph und wohnt in Berlin.

Malte Struck ist Künstler, er lebt und arbeitet in Hamburg und ist Mitbegründer und -kurator des Kunstvereins St. Pauli.

Anna Virnich ist Künstlerin, lebt und arbeitet in Berlin und Lillehammer.