VOM FREISCHWIMMEN DER FORM Stephan Geene über Marie Angeletti in der Galerie Lars Friedrich, Berlin
Die Ausstellung von Marie Angeletti in der Galerie Lars Friedrich ist in einer spezifischen Weise „offen“. Offen, als beträfe das mehr als nur Fenster, die man in diesem Fall vielleicht gerne öffnen würde, wäre das in Ausstellungsräumen nicht grundsätzlich ein No-Go – schließlich ist das Draußen des städtischen Alltags hier selten willkommen. Auch in der Galerie Lars Friedrich sind die hohen Altbaufenster geschlossen. Dass man sie gerne öffnen würde, liegt an den ausgestellten Objekten, von denen ein starker Geruch ausgeht. Man kennt das von der Malerei, vor allem von Bildern, die gerade erst fertiggestellt wurden: Es dauert einige Tage, bis das in der Farbe enthaltene Lösungsmittel verdunstet und sein Geruch verfliegt. Zur Malerei gehört der Geruch also unter bestimmten Umständen dazu, und doch ist er nicht Teil der Gestaltung.
In Marie Angelettis Ausstellung herrscht ein ähnlich chemischer Geruch, wie er auch von frischen Gemälden ausgeht. Olfaktorische Unterschiede von Produkten der chemischen Industrie sind, obwohl sie jeweils spezifisch sein mögen, für Fachfremde schwer zu bestimmen. Es riecht nach Farbe oder, wie hier, nach Kleber, oder einfach: nach Kunststoff. Unterschiede man hier genauer, wäre man gedanklich schon mittendrin in den Geruchswelten, die Angelettis Materialien eröffnen: in Polyesterharzen und Glasfaserkomponenten, würde darin einzelne Geruchselemente wie zum Beispiel „Mandel“ entdecken. Was Polyester technisch so vielseitig macht – nämlich sein Ester – erzeugt in anderer Kombination Fruchtaromen: Das Butansäureethylester gibt auch Bananen ihren Geruch.
Angelettis Ausstellung „Witness“ teilt sich über den kleinen Flur der Galerie in zwei Räume, und die Entscheidung, erst nach rechts oder links zu gehen. Geht man – wie ich – erst nach links, stehen, unterschiedlich gruppiert, fast identische Gegenstände locker an die Wand gelehnt. Die sich wiederholenden Großformen erinnern an Surfboards, sind aber wesentlich komplexer innenstrukturiert, scheinbar eher an funktionaler Organisation orientiert als frei gestaltet. Aussparungen an den Seiten könnten Griffe sein, Höhe und Breite der Boards scheinen menschlichen Körpermaßen angepasst. Es handelt sich um Rescue Boards, wie sie in New Yorker Bädern massenhaft herumstehen, so zahlreich, dass sie über die Funktion, im Notfall als Bahre zu dienen, weit hinausgehen. Ihre schiere Menge im öffentlichen Raum – vielleicht eine Folge von 9/11 – macht sie zum städtischen Emergency Case Ornament. Indem die seit einigen Jahren in New York lebende Französin Angeletti die Boards zum Ausgangspunkt für ihre Berliner Ausstellung genommen hat, importiert sie diese formale Gefahrenmetapher in ihr Werk.
Anstatt die Boards einfach als Readymade in die Ausstellung zu stellen, hat Angeletti sie sich in einem aufwändigen Prozess angeeignet: Die Materialangaben der durchnummerierten und als Cast betitelten Arbeiten (alle 2024) weisen neben Glasfaser und Polyesterharz noch Jesmonite aus, einen Verbundstoff aus Gips und Acrylharz, der gern als Formmaterial genutzt wird. Um die Körper der Boards exakt nachzubilden, hat Angeletti eine Negativform angefertigt und mit unterschiedlichen Materialien experimentiert. Das Negativ ist hier nicht nur die Form, die mit Kunststoff ausgeschäumt wird; die Künstlerin möchte kein Fake herstellen, sondern schleicht sich ein in die spezifische Materialität des Originals, seines Gewichts und der notwendigen Schichtungen von Außenhaut, Aussteifungen, Glasfasermatten und Harzen. Nicht der Kopie selbst, sondern des Weges wegen, den der Reproduktionsprozess braucht. Am Ende hat Angeletti die Oberfläche wieder mit einem Mischmaterial aus Jesmonite, Fugenmasse und Farbe abgeschlossen, was den Objekten eine eigene, von der Glätte industrieller Kunststoffmassenfertigung weit entfernte Oberflächenanmutung verleiht.
Im zweiten Ausstellungsaum ragt der Bug eines Bootes aus der Wand, oder: Ein abgeschnittener Bug liegt verkehrt herum auf dem Boden, „Temoin“ steht in Handschrift darauf. Ihrem Titel zufolge, der in englischer Übersetzung auch der dieser Ausstellung ist, bezeugt die Arbeit irgendetwas, doch wir wissen nicht, was. Auch Angelettis Pressetext – wie immer bei der Künstlerin– eher ein eigener poetischer, nicht explikativer Stream von Verweisen, enthält dazu keine Erklärung, stellt aber immerhin klar, dass es sich bei diesem Found Object um einen Prototyp handelt, nach dem andere Boote gebaut werden sollten. Es ist somit das Original, das im anderen Raum, in dem es nur Nachbildungen gibt, fehlt: in der Mitte zerschnitten, auf den Kopf gestellt, als lädiertes Boot im Galerieraum gestrandet.
Im selben Raum gegenüber finden sich die Reste eines Kunststoff-Kanus (Canoe, 2024), hier jedoch nicht als Readymade, sondern zugerichtet in drastischem Umgang mit dem Material: Auseinandergeschnitten und übereinandergeschoben bilden die Kanu-Fragmente ein doppeltes, semischützendes Dach, dem ein anderes, kleineres leicht verdreht unterstellt ist. Der ursprüngliche Bootskörper ist aufgebrochen, die Oberfläche von zwei sich beißenden pinken Farbtönen, Kratzern, Abschabungen und Gebrauchsspuren gekennzeichnet sowie thermoplastisch umgebogen, um eine „künstliche“ Innerlichkeit zu konstruieren; einen falschen Kern dieses eigentlich in der Oberflächlichkeit aufgehenden Plastiks, ein kleines Drama: Die Kunststoffhaut widerstrebte dem Schnitt; so sind die Schnittkanten unregelmäßig, ausgefasert, geben den Blick auf die sonst verborgene „Tiefe“ des Materials frei, auf seine „Stärke“.
Für mich bietet diese Arbeit am Ende der Ausstellung den besten Zugang zu Angelettis Arbeitsweise, die methodisch sprunghaft ist, ein fliegender Wechsel zwischen künstlerischer Entscheidung und materiellen Zufällen, zwischen konzentrierten Arbeitsprozessen und spielerischer Aufhebung dieser Akkuratesse, zwischen Anspruch und Verwerfung, Figur und Grund. Angelettis Arbeiten machen beiläufig sichtbar, woraus sie hergestellt sind, gehen bewusst das Risiko ein, dass sich Kern und Mantel, Weg und Ziel nicht mehr auseinanderhalten lassen. Aller ausgestellten Gegenständlichkeit zum Trotz wird die Arbeit zu einer Art Epiphanie, und was hindurchscheint, ist das Hinaustreten aus dem Kontext, der die künstlerische Arbeit definiert.
Angeletti hat für die Ausstellung ein kleines Plakat drucken lassen. Leicht angeschrägt ist darauf ein Hochhaus zu sehen, es flottiert in blauer Luft. Vielleicht haben wir uns aber im Maßstab vertan, und es handelt sich um eine Druckerpatrone oder irgendetwas Ähnliches, das im Wasser treibt. Solche Offenheit der Interpretation ergibt sich bei Angeletti nicht aus einer allgemeinen Relativität von Wahrnehmung, sondern aus dem Aufbrechen der materiellen Umstände. Und wenn Hochhaus, Wasser, Rettungsboards und Boote zu einem Szenario des Überlebens, Schwimmens und Untergehens zerfließen, dann hat man sich vielleicht schon etwas weit wegbewegt von Angelettis Anspruch, bei den Sachen selbst zu bleiben.
„Marie Angeletti: Witness“, Galerie Lars Friedrich, Berlin, 17. Januar bis 24. Februar 2024.
Stephan Geene ist Teil von b_books, übersetzt, schreibt und macht Filme. Zuletzt ist sein Buch Freiheit 71, Ricky Shayne, Musik und die Materialität des Nachkriegs (Berlin, 2022) erschienen. Zurzeit arbeitet er am Projekt stereo acryl (www.2222255.de).
Image credit: Courtesy of the artist und Galerie Lars Friedrich, Fotos © Marie Angeletti