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WILHELM HEIN (1940–2025) Von Gary Vanisian

Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht, als ich Wilhelm Hein 2012 bei einer Jack Smith gewidmeten Veranstaltung in Frankfurt/M. das erste Mal begegnete. Freund*innen hatten mir einen unbändigen, unverstellten Künstler angekündigt. Ich sprach ihn an, um zu fragen, ob noch eine Ausgabe seiner limitierten, zehnbändigen Publikation You Killed the Underground Film or the Real Meaning of Kunst bleibt … bleibt … (2007) zu erwerben sei, über die in cinephilen Kreisen wie über ein Arkanum gesprochen wurde. Zum Glück gab es noch eine Handvoll unverkaufter Exemplare. Nie werde ich seine quirlige Begeisterung vergessen, seinen lebendig vorpreschenden Gesichtsausdruck und die kantige, aber raumgreifende Bewegtheit seines Körpers bei diesem Gespräch. Unvergesslich werden mir auch alle weiteren unserer Treffen bleiben. Wilhelm wusste um seinen Status als einer der bedeutenden Künstler*innen des Avantgarde-, Experimental- und Underground-Kinos, doch waren ihm alle Eitelkeiten fremd. Ich unterhielt mich mit ihm … ja, wie mit einem Kundigen, der mich in seine Welt initiierte, sich jedoch stets auf Augenhöhe bewegte, nicht belehrte, sondern mitnahm.
Er und die Fotokünstlerin Annette Frick, seine Partnerin im Leben und in der Kunst seit den 1990er Jahren, schufen in ihrem Kunstraum CasaBaubou in der Seestraße 107 in Berlin-Wedding mit Performances, Filmvorführungen, Lesungen und Wein eine zeitversetzende Atmosphäre: Umgeben von Wilhelms großformatigen Gemälden und Annettes Fotos aus der queeren Szene Berlins, verließ ich hier die gezähmte Hauptstadt der 2010er Jahre und war mittendrin im Spirit der 1960er und 1970er Jahre, wie ich ihn aus Büchern und Wilhelms Erzählungen kannte. Im CasaBaubou, im Wohnzimmer oder in der Küche seiner Wohnung im Hinterhaus desselben Gebäudes, rühmte er – Erzähler und Chronist zugleich – in seinem leicht ruhrpottisch gefärbten Tonfall Jack Smith und Kurt Kren (zwei von ihm absolut verehrte Menschen) und zitierte aus dem Leben von Pionieren der modernen, widerspenstigen Kunst wie Raoul Hausmann, George Grosz oder Constantin Brâncuși. Wilhelm war eine lebende Enzyklopädie der Avantgardekunst wie überhaupt des Geisteslebens der Moderne. Ein umfassend gebildeter Mensch, der in Inspirationsketten dachte.
1940 in Duisburg geboren, studierte er ab 1962 Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in Köln. Immer wieder sprach Wilhelm euphorisch vom Soziologen Alphons Silbermann, dem Gründer des Instituts für Massenkommunikation in Köln, dessen Assistent er zeitweise war. Unverkennbar hatte Silbermann ihn mit seinem unbequemen Denken und seiner ungenierten Ausdrucksart beeinflusst – nicht zuletzt war dessen Schicksal als Überlebender der Shoah ein Anstoß für Wilhelms lebenslange Beschäftigung mit diesem Abgrund der Menschheit.
Jung hatten sich Wilhelm und Birgit Michaelis in Köln kennengelernt. Ab 1966 machten sie als „W+B Hein“ gemeinsam Filme und schufen in den folgenden zehn Jahren mit den von ihnen so bezeichneten „Materialfilmen“ richtungsweisende Werke des Experimentalkinos:
„In ihrem 1968 weltweit gefeierten Montagefilm Rohfilm bombardierte das in Köln lebende Paar […] das Publikum förmlich mit Bildern, die man nie hatte sehen sollen. Als Underground-Kinomacher und Filmvorführer hatte Wilhelm Hein Fetzen von Vorlaufbändern gesammelt, die nun eine sonst unsichtbare Materialität des Mediums sichtbar machten. ‚Es geht um Bilder und wie Bilder funktionieren‘ […].“ [1]
W+B Hein bewegten sich an der Grenze zwischen der Reflexion über die Dispositive der Kinotechnik, ihrem détournement und dem strukturellen Spiel mit Rhythmus und Textur der Bildsequenzen. Mit ihren gemeinsamen Werken waren sie unter anderem 1972 auf der Documenta vertreten, leiteten 1977 die Abteilung Experimentalfilm auf der documenta 6 und versammelten dort die ganze Vielfalt alternativer filmischer Formen, bevor knapp zwei Jahrzehnte später die Videokunst den analogen Film aus der Kunstwelt weitgehend verdrängte.
Zudem waren sie noch auf andere Art bahnbrechend für die westdeutsche Kino- und Kunstszene: 1968 waren sie Mitbegründer*innen von XSCREEN – Kölner Studio für den unabhängigen Film und Pionier*innen in der Vermittlung des weltweiten Underground-Films. Über den Underground, so wie sie ihn verstanden, schrieben sie 1971:
„Die Bezeichnung ‚Underground‘ ist kein Stilbegriff, der die Filme klassifiziert, sondern sie gibt Auskunft über eine Situation: die Filme existieren im Untergrund, d.h., es gibt für sie keine Vorführstellen, keine Finanzierungsmöglichkeiten und keine Publikationsorgane. Der Undergroundfilm gehört in den großen Bereich der Subkultur, die sich seit den 60er Jahren mit Musik, Theater und Literatur parallel zur offiziellen Kultur entwickelt hat und zu einer weltweiten Bewegung der fortschrittlichen Kunst geworden ist […].“ [2]

Nach ihrem letzten bedeutenden abstrakten Werk, den Materialfilmen (1976), veränderten sich in den 1980er Jahren Form und Inhalt ihrer Filme. Sie arbeiteten nicht mehr mit der Abstraktion technischer Filmbilder (Start- und Endbänder, Countdowns), sondern figurativ und stärker tagebuchartig, und begaben sich selbst, auch in teilweise sehr intimen Momenten, vor die Kamera. Hauptthema von Love Stinks – Bilder des täglichen Wahnsinns (1982), Verbotene Bilder (1985) und Die Kali-Filme (1987/88) ist die Auseinandersetzung mit den visuellen Tabus der weltlichen Bildkunst: Pornografie, Versehrtheit und Tod. Das Interesse daran war nicht neu: Die Filme der Wiener Aktionist*innen etwa hatten Wilhelm schon kurz nach ihrem Erscheinen begeistert. Diese radikale Änderung der Form begründeten sie später bezeichnend unverblümt:

„Zum entscheidenden Problem wurde die Kluft zwischen den Filmen und dem eigenen Leben. Der tägliche Überlebenskampf lässt die Filmarbeit nahezu lächerlich erscheinen. Zumindest kann die Arbeit nicht mehr die Befriedigung bieten, die notwendig gewesen wäre, um eine so miserable Existenz aufzuwiegen. Es hatte nur noch Sinn weiterzumachen, wenn die persönlichen Probleme auch zum Thema der Filme wurden.“ [3]
Ab den späten 1980er Jahren wurden aus W+B Hein Wilhelm Hein und Birgit Hein.
Die Filmografie von Wilhelms ersten zwei Jahrzehnten als kollaborativer Filmemacher würde mehrere Seiten füllen. Als Einzelkünstler wirkte er nach der Trennung des Künstler*innenpaares in anderen Kategorien. Wilhelm arbeitete an Langzeitprojekten: an To Those Who Found no Graves (1989–1994), in dem er die wenigen verbliebenen Spuren jüdischen Lebens in Polen sowie die der deutschen Vernichtungslager auf 16-mm-Film zu einem Zeugnis der Trauer bannte; am zwölfstündigen 16-mm-Werk You Killed the Undergroundfilm Or The Real Meaning of Kunst bleibt … bleibt … (1990–2013) und an das Große und das Kleine Tohuwabohu (1995–2018), die komplett auf Video entstanden – 100 Filme von jeweils einer Stunde Dauer.
Als wir, zwei Mitstreiter*innen und ich, 2013 das Filmkollektiv Frankfurt gründeten, einen Präsentationsraum für unterrepräsentierte Filmkultur, wussten wir sofort, dass wir zum Auftakt unserer Arbeit You Killed the Underground Film or The Real Meaning of Kunst bleibt … bleibt … zeigen wollten – wohl das sagenumwobenste Werk des zeitgenössischen deutschen Undergroundfilms überhaupt und nur in Anwesenheit von Wilhelm Hein vorführbar, der mit den Filmrollen und einem großen Konvolut an Musik anreiste, die er intuitiv während der Filmprojektion einspielte. Bis 2013 galt der Film als bewusst unvollendet.
Für einen einstündigen Auszug aus diesem Werk hatte er 2005 den Preis der Deutschen Filmkritik erhalten; für seinen Mut, in einer offenen, anarchischen Form „Triviales, Verspieltes und Pornographisches in scheinbarer Unbekümmertheit aneinander zu reihen“, so die Begründung der Jury. Was wir dann im September 2013 in Frankfurt sahen, erst als Einzel-, dann als Doppel- und schließlich als Dreifachprojektion, war eine scheinbar wirklich willkürliche, tatsächlich aber sehr bewusst zusammengestellte Mischung eben dieser Elemente. Man konnte Verbindungen suchen und erkennen oder sich unbekümmert im Sog der analogen Bilder verlieren.
Wilhelm war, wie seine großen Vorbilder, ein vielseitiger Künstler: Er malte, hatte eine an die expressionistische Form erinnernde Art zu schreiben – atemlos, ungehalten, direkt wie ein poète maudit, der er war. Zum Begriff Underground-Film erklärte er: „Aber grundsätzlich, wenn ich den Begriff Underground-Film benutze, dann meine ich damit eine Haltung. Das ist eine Geisteshaltung. Verweigern. Verweigern, zumindest in der künstlerischen Arbeit. Ich muss es ja trennen, sonst wäre ich tot.“ [4] Er arbeitete seit den 1970ern in allen von ihm (mit)verantworteten Publikationen im Stil der Underground-Collage, perfektioniert in der von ihm und Frick herausgegebenen Zeitschrift Jenseits der Trampelpfade oder auch in der weiter oben erwähnten zehnbändigen Publikation: Zeitungsausschnitte, kopierte Briefe und Texte verwoben zu einer berauschend-überwältigenden Fülle von Wissen, Gedanken, Polemiken und Elogen.
Der von ihm verehrte Filmdenker Amos Vogel schloss seine „Göttliche Komödie“ des Kinos mit den Worten: „[…] denn das Thema dieses Buches ist menschliche Freiheit, und ihre Wächter sind zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen die Rebellen.“ [5] Der große Rebell des deutschen Films, Wilhelm Hein, der konsequent den Geist der modernen bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts auf das Kino übertrug, ist am 15. März 2025 in Berlin verstorben.
Gary Vanisian, wohnhaft in Berlin und Frankfurt am Main, ist als Autor, Filmemacher, Filmproduzent, Kurator und Übersetzer tätig. Er hat Rechtswissenschaften, Kunstgeschichte und Klassische Archäologie an der Goethe-Universität Frankfurt und an der Université Paris-Nanterre studiert. 2013 war er Mitbegründer des Vereins Filmkollektiv Frankfurt, der in verschiedenen Veranstaltungsformaten einen unverstellten Blick auf alle Ausdrucksmöglichkeiten des Kinos ermöglicht.

Anmerkungen

[1]Daniel Kothenschulte, „Wilhelm Hein zum 85. Geburtstag – Zauber der Entzauberung“, Frankfurter Rundschau, 10. Februar 2025.
[2]„UNDERGROUND FILM: gegen Kommerz und Kulturbetrieb“, in: XScreen: Materialien über den Underground-Film, hrsg. von W+B Hein/Christian Michelis/Rolf Wiest, Köln 1971, S. 5–7, hier: S. 5.
[3]W+B Hein: Dokumente 1967–1985. Fotos, Briefe, Texte, Kinematograph Nr. 3, Redaktion Christiane Habich, Frankfurt/M. 1985, S. 62.
[4]„Passenger Books im Gespräch mit Wilhelm Hein“, in: You Killed the Underground Film or the Real Meaning of Kunst bleibt … bleibt …, Berlin 2007, S. 108.
[5]Amos Vogel, Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick, St. Andrä-Wördern 1997, S. 325.