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Kulturelle Ressourcen Sabine Hark und Sighard Neckel im Gespräch über Ressentiments und Rachegefühle

Sabine Hark and Sighard Neckel, Vierte Welt, Berlin, April 2017

Sabine Hark and Sighard Neckel, Vierte Welt, Berlin, April 2017

Erfolg ist nicht eindeutig festgelegt; was wir jeweils darunter verstehen, verschiebt sich bereits in dem Moment, in dem er mehr Personen offensteht. In den letzten Jahrzehnten ist in den Sozialwissenschaften eine zunehmende Prekarisierung von Arbeiter*innenklasse und unterer Mittelschicht konstatiert worden und damit verbunden eine immer größere Diskrepanz zwischen Leistung und Anerkennung. Der verletzte Stolz und die Scham, die daraus resultieren, sind u. a. auch Ursachen für den derzeit zunehmenden Populismus in Europa und in den USA. Im Vorausblick auf unsere Septemberausgabe zum Thema „Neid“ wiederveröffentlichen wir hier ein Gespräch aus Heft Nr. 106 zwischen der Geschlechterforscherin Sabine Hark und dem Soziologen Sighard Neckel, in dem die beiden erörtern, wie diese „negativen Gefühle“ Teil einer kulturellen Identität werden, die dann von rechter Seite politisch instrumentalisiert werden kann.

Sabine Hark: Wenn wir uns die autoritären Bewegungen der letzten Jahre anschauen, zeigt sich europaweit darin auch ein vehementer, hasserfüllter Affekt gegen Politiken des Gendermain-streaming, gegen Gleichstellungspolitiken generell, gegen jegliche Form sexueller Aufklärung, auch gegen die Gender Studies selbst – was mich nicht zuletzt auch persönlich in unterschiedlichen, auch hasserfüllten Weisen getroffen hat und trifft. Die AfD hat sich die Abschaffung der Gender Studies explizit zum politischen Ziel setzt. Auch die CSU positioniert sich in ihrem Grundsatzprogramm klar gegen die Gender Studies. Das ist erst einmal etwas, was es zu kritisieren und auch politisch zu bekämpfen gilt. Frauenbewegungen haben im Grunde seit 1995, seit der Frauenrechtskonferenz in Beijing, weltweit das Bündnis mit dem Staat gesucht, um Frauenrechte und Gleichstellung durchzusetzen. Obwohl dieses Bündnis von Feminismus und Staat aus einer emanzipatorischen Perspektive auch kritisch reflektiert werden muss, gibt es doch an vielen Punkten keine Alternative dazu. Aber es gibt eben auch einen ressentimentgeladenen Affekt gegen Gleichstellungspolitik. Und sie lässt sich seitens autoritärer, neoreaktionärer Kräfte instrumentalisieren. Und es ist ja auch nicht nur ideologische Rhetorik, wenn die AfD, wenn die Junge Freiheit , wenn die NPD und ähnliche Kräfte meinen: Die in Brüssel sagen uns jetzt, wie wir unsere Beziehung leben sollen und wie wir unsere Kinder erziehen sollen etc. – in der Tat ist es so. Es sind zu Recht neue Rechtsnormen geschaffen worden. Dass Eltern ihre Kinder nicht schlagen dürfen und Frauen gleichberechtigt sind, dass Vergewaltigung in der Ehe strafbar ist oder die Partnerschaften von Lesben und Schwulen (fast) gleichgestellt sind, um jetzt nur mal einige der basalsten Dinge zu nennen. Dagegen lässt sich Politik machen. Die rechte Seite hat erkannt, dass das ein Feld ist, auf dem sehr trefflich die politischen Widersprüche artikuliert und zugespitzt werden können.

Sighard Neckel: Ich glaube, dieser Affekt ähnelt dem, was die amerikanische Soziologin Arlie R. Hochschild in ihrem Buch „Strangers in Their Own Land“ geschildert hat. Sie schreibt, dass mit der Gleichberechtigungs- und Antidiskriminierungspolitik praktisch auch gewisse „feeling rules“, also so etwas wie öffentliche „Gefühls-regeln“ verbunden sind. Dazu gehört der Verzicht auf Neid und auf die Artikulation aggressiver Gefühle und ebenso die öffentliche Belobigung von Mitgefühl. Diese auferlegten Gefühls-regeln werden offenbar vor allem dann als eine Last empfunden, wenn man meint, selbst kein öffentliches Interesse mehr auf sich zu ziehen, die eigenen Gefühle nur in der geschützten Welt des eigenen Milieus artikulieren zu können. Es scheint hier einen Widerstand zu geben, der auf dem Eindruck basiert, dass Differenz prämiert wird und Aufmerksamkeit findet, während man selbst bedeutungslos ist. Das ist, glaube ich, eine Erklärung dafür, warum es ja nicht nur den neu aufgebrochenen Graben zwischen oben und unten gibt, sondern auch den zwischen Metropole und Peripherie, Stadt und Land – paradoxerweise, insofern dieses „Land“ heute ja vielfach so gar nicht mehr existiert. Doch in der Provinz verbreitet sich die Wahrnehmung, zu den interessanten Erweiterungen der Lebensführung, die so viel Aufmerksamkeit finden, selbst nichts mehr beitragen zu können. Daraus entstehen Gefühle der Zurücksetzung, und solche Emotionen warten auf ihre Entlastung, als Bedürfnis nach Rache und Revanche.

Hark: Ressentimentgeladene Politiken gegenüber dem, was du jetzt die „interessanten Erweiterungen der Lebensführung“ genannt hast, sind ja weltweit auf dem Vormarsch. Das hat sicher damit zu tun, dass Fragen der Lebensführung eben eine große Unmittelbarkeit haben. Der amerikanische Soziologe Rogers Brubaker hat in seinem neuen Buch „Trans: Gender and Race in an Age of Unsettled Identities“ den Fall der Rachel Dolezal, die sich als Afroamerikanerin ausgegeben hat, mit dem von Caitlyn Jenner, der TV-berühmten Transfrau aus dem Kardashian-Clan verglichen. Unter dem Begriff des „Trans“ hat Brubaker untersucht, warum im US-Kontext offenbar die Fragen von Transgender-Identitäten viel unproblematischer sind als es die Frage von Transracial-Formationen ist, die deutlich umkämpfter sind – auch identitätspolitisch, beispielsweise in afroamerikanischen Communities. Aber er sagt auch: Für die Rechten sind die Fragen von Geschlecht und Sexualität, Familie und Lebensführung immer schon die problematischeren gewesen. Dem würde ich zustimmen. Zugleich sind diese Themen aber auch hervorragend als Politikfeld geeignet, weil sie so vermeintlich dicht an den Menschen dran sind, weil alle sofort das Gefühl haben: Männer und Frauen, da wissen wir, worum es geht, da haben wir alle was zu sagen, das betrifft uns alle ganz unmittelbar, und da soll uns niemand reinreden – keine Brüsseler Bürokratie, keine Gender-Professorin und auch keine Lehrerin, die in ihren Sozialkundeunterricht ein queeres Aufklärungsprojekt holt.

Neckel: Unbestritten. Doch finde ich die Position von Angela McRobbie interessant, die aus dem Feminismus heraus eine Art Selbstkritik formuliert hat. Feministische Bewegungen, so McRobbie, sollten reflektieren, inwiefern sie selbst zu einem Element der Ausweitung kapitalistischer Konkurrenz geworden sind. Das ist ja ein Thema, das auch im Zuge der Wahl von Trump und der Niederlage von Hillary Clinton hochgekommen ist.

Hark: Wir dürfen hier nicht vergessen, dass Clinton die Wahl aufgrund des US-amerikanischen Wahlsystems verloren hat. Die Mehrheit der Wähler*innen hatte sie hinter sich. Aber was ich an McRobbies Position interessant finde, ist, dass sie nicht sagt: Feminismus ist ideologisch korrupt, sondern er wird in bestimmten gesellschaftlichen Formationen jeweils neu artikuliert, und diese Artikulationen gilt es daher zu untersuchen. Und dann können wir schauen, welche davon fügen sich wie in beispielsweise neoliberale Transformationen ein, in bestimmte spätkapitalistische Dynamiken. Aber wir können auch fragen: Wo sind Momente, wo Feminismus durchaus noch ein widerspenstiges Projekt ist?

Für mich persönlich ist das als Kritik interessanter als beispielsweise die Kritik von Nancy Fraser, die ja auch argumentiert, dass der Feminismus in eine Art Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus geraten ist oder womöglich nicht nur komplizenhaft daran mitgewirkt, sondern ihn aktiv in einer bestimmten Weise forciert hat. Der Weg bis zu jener Behauptung, dass Feminismus mitverantwortlich ist für den Aufstieg neoreaktionärer Politiken, ist dann nicht mehr weit. Fraser versucht in letzter Zeit ja, davon Abstand zu nehmen und das auch differenzierter zu sehen, also nicht mehr von dem Feminismus zu sprechen, sondern von bestimmten Strömungen darin, die wir mit McRobbie vielleicht als Erfolgs- oder Leistungsfeminismus bezeichnen könnten, der Feminismus des einen Prozents gewissermaßen, und der ja in der Tat vielleicht ein Stück weit auch Clinton zum Verhängnis geworden ist, weil viele in ihr eben auch die Verbündete der Interessen des Finanzkapitals gesehen haben.

Neckel: Also, was ich an deiner Kritik an Nancy Fraser nachvollziehen kann, ist, dass es verfehlt wäre zu sagen, der Feminismus hat sich als eine Ideologie erwiesen und sich korrumpieren lassen. Das stellt viel zu sehr auf bewusste Intentionen ab. Was wir aus dieser ganzen Diskussion vielmehr lernen könnten, ist, dass wir uns in einem gesellschaftlichen Prozess befinden, dessen Folgewirkungen uns teilweise erst sehr viel später bewusst werden. Und dieser Prozess – und hier hat Fraser aus meiner Sicht etwas Richtiges bemerkt – ist dadurch gekennzeichnet, dass wir eine zweifache Form von Liberalisierung in den letzten 20 Jahren erlebt haben: eine wirtschaftliche Liberalisierung – was man gemeinhin Neoliberalismus nennt – und eine kulturelle Liberalisierung, die sich u. a. dadurch ausdrückt, dass Ungleichbehandlung durch Diskriminierung zwar noch vorhanden ist, aber erheblich effektiver bestritten werden kann, sodass Ungleichheit aufgrund von Diskriminierung insgesamt zurückgegangen ist. Die Vielzahl von gesellschaftlich akzeptierten Lebensformen und Lebensentwürfen hat deutlich zugenommen in den letzten 20 Jahren, gerade auch weil es heute viel stärkere institutionelle Formen ihrer Anerkennung gibt.

Die Akteure der kulturellen Liberalisierung verstehen sich häufig als Opponenten der ökonomischen Liberalisierung, obgleich sie faktisch zu ihr beigetragen haben. Die ökonomische Liberalisierung kann mit der kulturellen Liberalisierung eine Menge anfangen. Sie kann deren Ergebnisse verwerten, es werden neue Märkte aufgetan, es finden Innovationen und Erweiterungen statt, die ein typisches Beispiel für das sind, was Luc Boltanski und Ève Chiapello bekanntermaßen als „neuen Geist des Kapitalismus“ beschrieben haben. Der Kapitalismus hält sich dadurch dynamisch und wandlungsfähig, dass kritische Elemente „endogenisiert“ werden, wie Boltanski und Chia-pello das nennen.

Ich glaube, durch die gegenwärtigen Erfolge der autoritären Rechten werden wir jetzt gemeinsam darauf gestoßen, dass die oppositionelle Selbstwahrnehmung vieler Protagonisten der kulturellen Liberalisierung vielleicht ein Selbstmissverständnis ist.

Hark: Ja, ich meine, so weit würde ich dir zustimmen, dass wir in der Tat sprechen können von so etwas wie einer Kollusion, also einer Art geheimen Einverständnisses zwischen dem, was du jetzt kulturelle Liberalisierung genannt hast, und einer – wie auch immer – ökonomischen Liberalisierung. Wobei ich statt von ökonomischer Liberalisierung eher von Marktradikalisierung sprechen würde. Und bei kultureller Liberalisierung geht es ja um emanzipatorische Kämpfe. Wo ich, denke ich, nicht mitgehen würde, ist die daran geknüpfte Unterscheidung zwischen Kämpfen um Anerkennung und Verteilungskämpfen. Das ist ja auch eine Debatte, die schon sehr alt ist. Schon in den 1990er Jahren gab es den Disput zwischen Nancy Fraser und Judith Butler, ob es um soziale oder kulturelle Ungleichheit geht. Butler hat in ihrem Aufsatz „Merely Cultural“ diese Trennung zu unterlaufen versucht. Auch der französische Soziologe Michel Wieviorka hat wiederholt sehr klar argumentiert, dass wir, wenn wir über sozia-le Ungleichheit reden, auch über Prozesse der kulturellen Differenzierung reden müssen, über die Zuschreibung von kulturellen Eigenschaften und über Stereotypisierung – wir können das eine nicht vom anderen trennen.

Etwas Ähnliches gilt für die Diskussion infolge der Wahl von Donald Trump. Nicht wenige haben da gesagt: Die Identitätspolitiken der Minderheiten, der Feministinnen, der Queers, der People of Color haben dieses Ergebnis mitbefördert, als wären das vor allem Kämpfe um Identitäten gewesen, um kulturelle Anerkennung. Aber das sind immer auch Kämpfe um soziale Fragen, um Fragen von Verteilungsgerechtigkeit, um Zugang zu Bildung, Erwerbsarbeit, Gesundheitsversorgung usw. Black Lives Matter beispielsweise ist keine Bewegung, bei der es um die Anerkennung der kulturellen Identität von Afroamerikaner*innen geht. Im Gegenteil. Hier geht es um eine buchstäblich sehr existenzielle und materielle Frage, nämlich die Thematisierung von Polizeigewalt.

Diese Kollusion zwischen den Anerkennungsanliegen und den ökonomischen Projekten würde ich außerdem eher als eine Art von Appropriation beschreiben. Wir sehen das ja im Diskurs und in den Politiken von Diversität, die genau das tun: Differenz aufgreifen und zu einer kommodifizierten Diversität machen, die dann vermarktet werden kann. Wenn wir uns das beispielsweise für Gender anschauen, das ist ja in den letzten zwei, drei Jahren großes Thema geworden: „Gender-Marketing“, die Sexualisierung, die Verzweigeschlechtlichung von Spielzeugwelten etc. Das sind natürlich alles genau diese Formen, in denen Differenz angeeignet und kommodifiziert und in kommerziellen Weisen umgeformt wird. Ich würde aber auch mitgehen bei dem Punkt, dass wir uns diese Kollusion auch vonseiten der Emanzipationsbewegungen anschauen und fragen müssen, wo sie selbst aktiv daran beteiligt sind. Aber der Tenor in den letzten Monaten, dass wir jetzt wieder über Ungleichheiten reden müssen und die identitätsbasierten Bewegungen dies zu sehr vernachlässigt und sich eben nur für ihre Anerkennungsanliegen eingesetzt haben, das halte ich für eine unproduktive Verkürzung.

Neckel: Die Verschränkung von kultureller Missachtung und sozialer Benachteiligung trifft aber auch für diejenigen zu, die sich aus ihrer Perspektive gewissermaßen gerächt haben für die Demütigung, die sie meinen, durch die öffentliche Kultur zu erfahren. Das festzustellen, heißt nicht, es zu rechtfertigen. Aber es ist offensichtlich, dass bei denjenigen, die ansprechbar sind für diesen autoritären, völkischen Nationalismus, häufig materielle Benachteiligung mit dem Gefühl der kulturellen Deprivation einhergeht. Dieses Gefühl der kulturellen Deprivation kommt durch die Erfahrung eines Geltungsverlustes zustande, die nicht zuletzt dadurch bewirkt wird, dass andere Lebensformen an Geltung gewonnen haben. Und das Fatale an der gegenwärtigen politischen Situation ist, dass jene, denen das als Sündenböcken angekreidet wird, zugleich verantwortlich gemacht werden für den materiellen Niedergang. Die Wirksamkeit dieser Vorstellung reicht von der traditionellen weißen Arbeiterklasse bis in die klassischen Ansprechpartner des Rechtsradikalismus, also das Kleinbürgertum, hinein: Die kulturelle Liberalisierung wird für die Folgen der ökonomischen Liberalisierung verantwortlich gemacht.

Helke Sander, “Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers,” 1977, film still

Helke Sander, “Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers,” 1977, film still

Hark: Das können wir sehr deutlich sehen, wenn wir noch einmal das Beispiel USA nehmen: Wenn von der weißen Arbeiterklasse die Rede ist, dann ist diese natürlich niemals nur weiß gewesen, sondern eben auch afroamerikanisch und asiatisch-amerikanisch oder mexikanisch-amerikanisch. Jetzt findet sich aber der weiße Teil der Arbeiterklasse in einer Situation wieder, in der der afroamerikanische Teil der Arbeiterklasse schon lange, vielleicht schon immer gewesen ist, nämlich in einer prekarisierten, extrem instabilen und gefährdeten Lebenssituation. Dem weißen Teil steht aber der Rassismus als kulturelle Ressource zu Verfügung, um seine Situation zu deuten und um seine Ohnmachtserfahrungen und die damit verbundenen Gefühle der Zurücksetzung, der Entwürdigung auf die Schwarzen, die Fremden, die mexikanischen Immigrant*innen etc. zu verschieben. Auf jeden Fall scheint es, salopp gesprochen, naheliegender zu sein, xenophob zu reagieren, als einen Klassenkampf zu führen.

Den abgehängten oder sich abgehängt fühlenden Weißen steht als kulturelle Ressource also immer noch der Rassismus zur Verfügung. Auch das ist ja im Übrigen Identitäts-politik. Was heißt das aber für uns als kritische Sozialwissenschaftler*innen? Wenn wir, was ich absolut teile, diese Prekarisierungserfahrung und die daraus resultierenden Verunsicherungen etc. durchaus auch auf der Ebene der Emotion, der Affekte, also wie die Leute das für sich erleben und wahrnehmen, ernst nehmen und wir nicht einfach nur sagen wollen, ihr seid jetzt irgendwie ideologisch verblendet, so müssen wir doch auch fragen: Wer kann sich jetzt mit seiner Verunsicherung, seiner Erfahrung von Entwürdigung, von Demütigung Gehör verschaffen? Wenn diese Logik gilt, dann hätten ja die Afroamerikaner*innen in den USA, dann hätten Queers überall auf der Welt und viele andere Marginalisierte schon seit Jahrzehnten, letztlich seit Jahrhunderten das Recht auf autoritäre, ressentimentgeladene Politiken gehabt und darauf, sich irgendwelche anderen Sündenböcke zu suchen.

Der Begriff des Rechtspopulismus ist jetzt erstmal ein erster Versuch, diese Dynamiken einzufangen, aber wir müssen, glaube ich, noch besser und intensiver darüber nachdenken, wie das genauer zu beschreiben ist. Andere sprechen auch von „autoritärem Nationalismus“ – ich habe in letzter Zeit in diesem Zusammenhang vor allem über den Begriff der „nativistischen Politiken“ nachgedacht. Also Politiken, in denen es um die Privilegierung derjenigen geht, die von sich behaupten, zuerst da gewesen zu sein, und die gegen Zuwanderung beziehungsweise gegen die Ansprüche von Minderheiten kämpfen. Der US-amerikanische Soziologe Ralph Linton hat „nativistisch“ ja schon in den 1940er Jahren definiert als jeden bewussten, organisierten Versuch von Angehörigen einer Gesellschaft, ausgewählte Aspekte ihrer Kultur wiederzubeleben oder fortzuführen.

Neckel: Ja, klar, haben die Rechten immer gemacht.

Hark: Genau, und vielleicht noch ein Punkt, da spielt natürlich auch die Geschlechterpolitik eine zentrale Rolle: Ich habe im Vorfeld der US-amerikanischen Wahl eine Reportage über Männer in diesem berühmten Rust-Belt gesehen, die, weil die Industrie dort eben verschwunden ist, sich umschulen ließen auf medizinische Assistenten. Es sind ja vor allem ländliche Räume, ähnlich wie hier, in denen die medizinische Versorgung schlecht ist. Ein Teil der Männer konnte das für sich, so wie sie in diesem Bericht porträtiert waren, durchaus annehmen – der überwiegende Teil aber konnte das mit der eigenen Vorstellung von dem, was Männlichkeit ist, überhaupt nicht zusammenbringen. Die haben sich gesagt: O.K., wir machen jetzt diese Umschulung, das wird jetzt halt bezahlt. Aber alle setzten darauf, dass Trump gewählt wird und ihnen dann die Stahl- und Autoindustrie zurückbringt – was natürlich absurd ist, das wird nicht passieren. Aber nun gut: Diese Männer schaffen es offenbar nicht, andere Konzeptionen von sich als Mann zu entwickeln, neue männliche Identitäten zu generieren – die es ihnen dann zum Beispiel ermöglichen würden, einen Care-Beruf auszuüben –, und vertrauen stattdessen lieber einer rassistischen, autokratischen Politik.

Neckel: Die weißen Arbeiter verfügen über das kulturelle Instrument des Rassismus, wie du sagst. Und deren Problem ist nun, dass dieses kulturelle Instrument keine öffentliche Anerkennung mehr findet, sondern institutionell missbilligt wird.

Hark: Ja genau, das ist ein wichtiger Punkt.

Neckel: Und die Institutionen, die ihnen das antun, werden als Verräter der eigenen Interessen betrachtet: „Washington“, „die EU“, „die Eliten“. Die Frage ist: Wie überwindet man das? Wie trennt man etwa die Legitimität materieller Interessen von einem kulturellen Geltungsanspruch, der auf der erwarteten Unterordnung anderer Gruppen basiert?

Hark: Wir müssen diese Dynamiken, diese Verschiebungen sehr genau in den Blick nehmen und zu entschlüsseln versuchen. Aber heißt das auch, wir müssen ebenso denjenigen zuhören, die – im deutschen Kontext – die AfD wählen, die in Dresden mitmarschieren? Ich meine, ja, das müssen wir, aber ganz entschieden nicht im Sinne von Sich gemein Machen mit diesen Haltungen. Als Soziolog*innen, auch als Demokrat*innen, müssen wir verstehen wollen, wie sie sich artikulieren und warum in dieser Weise. In den Blick nehmen müssen wir aber auch, wie diese Stimmungen beispielsweise von Parteien wie der AfD ja nicht nur aufgegriffen, sondern auch angeeignet und ausgenutzt werden. Schauen wir uns die Wortführer der AfD an, die ja mitnichten aus diesen prekarisierten Schichten kommen. Bleiben wir hier in Berlin: Wer sind diejenigen, die jetzt für die AfD in den Wahlkampf ziehen? Es ist der leitende Oberstaatsanwalt (zuständig für die Abschiebung abgelehnter Asylantragsteller*innen), es ist eine Richterin, wir haben Professoren und Professorinnen – es sind also auch die kulturellen und intellektuellen Eliten dieses Landes, die diese Politiken mitforcieren. Das sind natürlich Allianzen, die wir uns sehr genau anschauen müssen und; wir müssen verstehen, wie neoreaktionäre Parteien und Bewegungen sich Verunsicherung und Prekarisierung für ihre nativistischen Zwecke zunutze machen.

Neckel: Aber, um es mal provokant auszudrücken, die AfD zeigt uns doch jetzt, wie man es machen muss. An deren Spitze steht eine reaktionäre bürgerliche Gegenelite, die schon seit Jahren nur auf eine passende Gelegenheit wartet, politisch einzugreifen. Mit dem Euro und der Flüchtlingsbewegung haben sie die zentralen Mobilisierungsthemen gefunden, und in der Folge sind sie immer stärker von einer wirtschaftsliberalen, konservativen Position zu einer völkisch-nationalistischen Politik übergegangen. Was ich meine, ist, dass diese reaktionäre Gegenelite in der Lage war, ein Bündnis zwischen den unteren und kleinbürgerlichen Schichten, die einen Großteil der Wählerschaft bilden, und dem rechten Bürgertum herzustellen, das sich in seinem eigenen Milieu seit Angela Merkel als Außenseiter fühlt. Ermöglicht wurde dieses Bündnis dadurch, dass man so tat, als würden sich in der AfD die sozial Abgehängten der unteren Schichten mit den kulturell Ausgegrenzten des Bürgertums treffen. Doch könnte es sein, dass der Aufschwung des autoritären Nationalismus für die Linke auch eine Chance ist, einen gemeinsamen Gegner, der uns noch die Grundlage des Austragens unserer Differenzen verunmöglichen würde, zu identifizieren.

Hark: Ja, der Beschreibung würde ich zustimmen. Dem rechten Lager ist es ja gewissermaßen gelungen, die Einheitsfront zu bilden. Ich habe in den letzten Monaten noch einmal Peter Weiss’ „Die Ästhetik des Widerstands“ gelesen, das haben ja viele getan, so auch ich, weil es da um genau diese Frage geht: Wie kann das Bündnis, in dem Fall zwischen den Kommunisten und den Sozialdemokraten, gegen den Faschismus gelingen? Wir alle wissen, historisch ist es eben nicht gelungen, der Faschismus hat zunächst gesiegt. Vielleicht haben wir ja jetzt eine Situation, in der es darum geht, von linker Seite die Widersprüche zuzuspitzen und zugleich darüber nachzudenken, wie diese Allianzen gebildet und wir von den Partikularismen zu einem neuen „Wir“ gelangen können.

Neckel: Wir!

Hark: Ja, ein neues „Wir“! Wie kann das aussehen? Etwas, das aber nicht die Partikularismen und Differenzen wieder an den Rand drängt und negiert und das auch nicht gerwissermaßen in din die Falle der anderen geht. Aber wo ist die Arbeiterführer*in, die das verkörpern könnte? Nehmen wir Frankreich, wo es Marine Le Pen zum Teil gelingt, das in einer bestimmten, nämlich rassistischen Weise zu verkörpern, wenn sie sich an die französischen Frauen richtet als diejenige, die die Säkularität, den Feminismus, die Gleichstellung, die Emanzipation verteidigt, als gewissermaßen letzte Verteidigerin der Laizität, mit allem was das für Frauen bedeutet, gegen die islamischen, mittelalterlichen Horden, die drohen, Europa zu überrennen und „unsere“ Frauen zu ihren Opfern zu machen. Auf der linken Seite haben wir dagegen kein Personal, dass in der Lage ist, diese Gruppen abzuholen und das neue „Wir“ zu verkörpern, ohne rassistisch oder auch sexistisch zu agieren. Da haben wir bislang weder inhaltlich noch von den Personen her eine Antwort gefunden.

Neckel: Aber wir haben auch noch gemeinsame Probleme, wenn ich jetzt von „uns“ als einem neuen „Wir“ spreche, die wir lösen müssen und mit denen wir es der nationalistischen Rechten mit ermöglicht haben, mit ihrer Politik eine so vergleichsweise weitreichende Zustimmung zu finden. Hierüber muss man sprechen, ohne eine Atmosphäre des Verdachts und der Verdächtigung. Nur zwei dieser Probleme will ich hier nennen. Das eine ist das Verhältnis von Öffnung und Schließung in modernen Gesellschaften. Die linke Position ist faktisch dadurch charakterisiert, dass sie immer für Öffnung ist und Schließung als etwas Problematisches empfindet. Ich glaube, dass wir das überdenken müssen. Indem wir uns zu fast bedingungslosen Anhängern der Öffnung gemacht haben, sind wir faktisch zu Parteigängern einer Globalisierung geworden, die zahlreiche negative Auswirkungen hat, die wir vermutlich am wenigsten spüren.

Das andere Problem ist aus meiner Sicht der normative Relativismus, der sich in der Linken ausgebreitet hat und der diesem „Wir“, was wir bilden wollen, den Vorwurf einträgt, die Werte, auf die man sich bezieht, nur zum eigenen Vorteil zu verwenden. Für mich war es geradezu ein Bild des Verrats, als eine Delegation der rot-grünen schwedischen Regierung, die sich selbst als „erste feministische Regierung der Welt“ bezeichnet, mit der Handelsministerin an der Spitze vor einigen Monaten in Teheran war und dort auf die Repräsentanten des iranischen Staates traf – und sich dann deren Moral unterwarf und bodenlange Mäntel und Kopftücher trug.

Wir haben aus Gründen der Vermeidung von „Islamophobie“ viel zu oft auf eine vollkommen berechtigte Kritik an einer offensichtlich wenig säkularisierungsfähigen Religion verzichtet und damit der nationalistischen Rechten die Möglichkeit gegeben, diese Kritik auszusprechen und sich auf Prinzipien zu berufen, die eigentlich unsere sind. Dazu gehört die Säkularität des Staates, dazu gehören die Gleichheit der Geschlechter und die performative Gleichheit der Körper, also das gleiche Recht der physischen Selbstdarstellung. Mal überspitzt formuliert: Die Linke hat sich nicht selten zur Fürsprecherin des Kopftuchs gemacht, doch diejenigen, die wirklich unsere Werte vertreten, allein gelassen, etwa die Frauenbrigaden der Peschmerga, die mit der Waffe in der Hand gegen ihre männlichen Feinde kämpfen, die sie versklaven wollen. Kritiker*innen der Islamisierung wurden seit den 90er Jahren von der Linken ausgegrenzt. Und wenn sich in den letzten Wochen so viele weltweit auf den „March for Science“ gemacht haben, dann sollten wir dabei auch an die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über Migration denken, die seitens der Linken bei der öffentlichen Diskussion über die Flüchtlingsbewegung vollkommen vergessen worden sind. Etwa, dass es in den meisten Migrationsbewegungen Push- und Pull-Faktoren gibt. Stattdessen hat die Linke dazu beigetragen, dass Flucht und Migration zum Spielball öffentlicher Affekte wurden.

Hark: Das ist ja beispielsweise eine Frage in der Folge der berüchtigten Kölner Silvesternacht: Wie kann eine nicht rassistische antisexistische Kritik aussehen, die zugleich eine antirassistische nicht-sexistische Kritik ist? Um jetzt nur mal diese beiden Ismen zu nehmen. Die Alternative für mich als kritische Sozialwissenschaftler*in kann dagegen nur sein, mir anzuschauen, wie bestimmte Formen männlicher Herrschaft beispielsweise mit Religion beziehungsweise einer bestimmten Auslegung von Religion kollidieren. Es ist ja auch wichtig, nicht zu sagen, der Islam ist schuld, sondern eine bestimmte Interpretation des Islam und die Praktiken, die aus einer bestimmten Interpretation resultieren, die verschmelzen, die eine Allianz, eine Kollusion, wie auch immer wir es beschreiben möchten, eingehen mit einer bestimmten patriarchalen Vorstellung von männlicher Ehre, von dem Wert einer Frau etc. Wie aus diesen Pattsituationen, die auch medial mitproduziert werden, rauszukommen ist und präzise Beschreibungen generiert werden können, die sich weder mit falschen Universalismen noch mit falschen Relativismen gemein machen, ohne die eigene Positioniertheit zu vergessen, das ist doch die Herausforderung. Achille Mbembe hat in seinem Buch „Ausgang aus der langen Nacht“ davon gesprochen, dass es ein Denken der Verantwortung braucht, das sich auch damit auseinandersetzt, aus welcher Position heraus ich jeweils spreche. Also wenn sich beispielsweise Alice Schwarzer hinstellt und die Täter von Köln als die Vorhut der islamistischen Scharia-Brigaden darstellt und nicht reflektiert, dass sie natürlich aus einer relativ machtvollen Position spricht, dann haben wir ein Problem.

Neckel: Die Frage ist, inwiefern überhaupt progressive linke Bewegungen gut beraten sind, mit Sprechverboten und Verhaltensmaßregeln zu operieren. Das war eigentlich immer konservative Politik: Konventionen zu einem Wert an sich zu erklären. Und die linke Kritik daran stellte immer heraus, dass Konventionen bloße Übereinkünfte sind, die infrage gestellt werden müssen. Wir könnten in eine Situation hineingelaufen sein, wo wir mit den besten Absichten ein gewissermaßen klassisches Muster der Rechten von links wiederbelebt haben und uns damit nun die Reaktionen der Aufsässigkeit und die Lust an der Übertretung eingehandelt haben – vertauschte Rollen, wenn man so will.

Hark: Ja, das bringt uns noch mal zurück zum Anfang unseres Gesprächs, als wir anlässlich der feministischen Dilemmata die Notwendigkeit festgestellt haben, sich die eigenen Politiken noch einmal vorzunehmen und kritisch anzuschauen daraufhin, welche Art von auch problematischen Bündnissen mit gesellschaftlichen Dynamiken und politischen Haltungen der Feminismus eingegangen ist. Und dies gerade deshalb, weil wir uns in einer Situation befinden, in der wir erleben, dass sich andere gesellschaftliche Kräfte formieren und die Welt noch mal ein bisschen anders machen wollen. Insofern sind wir jetzt tatsächlich, bei aller Notwendigkeit der „Provinzialisierung Europas“, wie Dipesh Chakrabarty das formuliert hat, auch gefordert, bestimmte europäische Werte neu auszubuchstabieren und sie aber auch zu verteidigen! Wissenschafts- und Pressefreiheit und Redefreiheit beispielsweise, schauen wir nur nach Polen, schauen wir nach Ungarn, schauen wir in die Türkei! Mit Polen und Ungarn haben wir zwei EU-Länder, in denen diese Freiheiten schon massiv unter Druck gesetzt worden ind. Die Central European University in Budapest muss jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Exil gehen.

Neckel: Ich glaube, wir sehen uns politischen Prozessen gegenüber, die ungeahnte Gefährdungen heraufbeschwören können: Der Aufstieg der nationalistischen Parteien, die letzten politischen Umbrüche – die Wahl von Trump, der Brexit, Erdogans Autokratie, ähnliche Entwicklungen in Ungarn und Polen – konfrontieren uns mit der Aussicht auf eine denkbare Diskontinuität. Nicht die Diskontinuität der Revolution, auf die die Linke lange Zeit hoffte, sondern die Diskontinuität der Reaktion und der Katastrophe. Wir gehören ja einer Generation an, die in der Erfahrung gesellschaftlicher Kontinuitäten aufgewachsen ist. Vielleicht gab es im Deutschen Herbst 1977 einmal einen Moment, in dem man nicht wusste, wo das hinführen wird. Damals hat die Linke Mittel gefunden, um da herauszukommen …

Hark: Genau, das war die Geburtsstunde der taz und der Grünen. Wir werden sehen, was die heutige, ähnlich dringliche Lage hervorbringt.