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Das Eingemachte. „Populismus“, „Political Correctness“ und dergleichen Diedrich Diederichsen

Nicht erst seit der Alt-Right-Bewegung treten Konservative als Regelbrecher der angeblich vorherrschenden Political Correctness auf. Doch kehrt die Auseinandersetzung darüber, wer radikal ist und wer sich an die Regeln hält, seit einigen Jahren durch die Sozialen Medien und insbesondere seit der Corona-Pandemie verstärkt zurück. Diedrich Diederichsen, der bereits 1996 seine Kritik an dieser Debatte als „Politische Korrekturen“ veröffentlicht hat, fragte sich 2017 in seinem Text für Heft #107 zum Thema „The New New Left“, was eigentlich passieren würde, wenn PC tatsächlich die Macht hätte, die ihre Kritiker*innen ihr zuschreiben. Vorausblickend auf unser Dezemberheft zum Thema „Collectivity“, das nach dem Verhältnis von Kunst und Aktivismus und dem Selbstverständnis von Künstler*innen, die in und mit Kollektiven arbeiten, fragt, wiederveröffentlichen wir hier Diederichsens Text.

Ende März saß ich in einem traditionsreichen schwul-lesbischen Café im Herzen Berlins und musste mitanhören, wie am Nebentisch von drei Herren der Populismus beschimpft wurde. Zuerst ging es gegen „Schulzomania“ und den „wahnsinnigen“ Gedanken, „wir“ hätten ein Gerechtigkeitsproblem. Hat man denn keine anderen Sorgen in Europa? Dann gegen das „Gentrifzierungsgejammere“. In London könne ja auch offensichtlich jemand die Mieten bezahlen; sind zwar teurer, aber dafür verdienen die Leute halt mehr. Aber das sei der Populismus, der linke Populismus notabene, der genauso schlimm sei wie der rechte. Die Lobrede auf einzelne Positionen von CDU und FDP gipfelte in der Feststellung, man könne der CDU ihre Homophobie nicht vorwerfen, das sei schließlich eine konservative Partei, der SPD könne man aber schon vorwerfen, dass sie nur aus bloßer Koalitionsräson nicht mit den Stimmen von Grünen und Linken die „Ehe für alle“ durchgesetzt habe. Eine Woche später hatte sich „Linkspopulist“ für Schulz durchgesetzt. Mitte April hieß auch der französische Präsidentschaftskandidat Mélenchon nur noch „der linke Populist“, der so schlimm sei wie die rechte Populistin.

1. Linkspopulismus und fromme Intersektionalität

Die neue Distanzierungsformel gegen „Populismus von links und rechts“ dient wie ihre Vorgängerin (gegen „Extremismus von links und rechts“) einer strukturell rechten Depolitisierung und ihren sich pragmatisch gebenden Protagonisten dazu, eine alternativlose Äquidistanz für sich zu reklamieren und den tatsächlich einzigen politischen Unterschied, um den es geht, den zwischen links und rechts, zu einem zunächst unpolitischen (den zwischen populistisch und unpopulistisch) einzudampfen; einen Unterschied der Kommunikationsmethode (zu einfache Darstellung der Verhältnisse versus angemessen komplexe).

Wenn man allerdings sagt, dass alle Positionen der sogenannten Rechtspopulisten als vor allem rechte Positionen kenntlich zu machen und zu skandalisieren sind, muss man klären, wieso es viele davon eben auch bei Linken gibt: Homo- und Transphobie bei solchen Linken, die LGBTQ für einen Mittelklasseluxusclub halten, Antisemitismus bei klassischen Antiimperialisten. Deswegen gibt es ja – zunehmend – Querfronten, insbesondere bei einer nationalistischen Linken mit Mélenchon, Lafontaine und Wagenknecht und vielen anderen, für die „die Rechte von Frauen, von Schwarzen, von sexuellen Minderheiten, Migranten oder ökologische Fragen nur egoistische Anliegen der Mittelschicht [sind], denen man als den einzig wichtigen Kampf den sozialen und wirtschaftlichen entgegenstellen müsste“ (Didier Eribon). Um eine nicht rechte Linke abgrenzen zu können, braucht man eine Kategorie „links“, die, wie etwa von Étienne Balibar konzipiert, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit einerseits und „bürgerliche“ Freiheiten samt Minderheitenrechten andererseits dialektisch verbindet, eine „Gleichfreiheit“. Diese hatte das kulturrevolutionäre 68 ausgemacht, vom auf eine Koalition von Arbeiterklasse und Studenten zielenden Anarchismus der Studentenrevolten bis zu den sozialliberalen Koalitionen weltweit, in denen sich – kurz – ein bürgerrechtlich liberales Bürgertum mit der fortschrittlicheren Seite der Sozialdemokratie getroffen hat (Brandt, Allende, Palme et al.). Nur von dieser historischen Kontrastfolie aus lässt sich wirksam die Kategorie „rechts“ ex negativo bestimmen: als antisozialistisch und antiliberal, als völkisch und autoritär, als leitkulturell und antigenderistisch. In der politisierten Kunstwelt geschieht eine solche Bestimmung allerdings meist idealistisch und unpolitisch moralistisch; es wird davon ausgegangen, dass etwa LGBTQ-Communities und anti- bzw. dekoloniale Kämpfe immer schon an einem Strang ziehen und Intersektionalität nur eine Frage des guten Willens und der „Achtsamkeit“ sei. Die auf der guten Seite stehen, sind auch gut. Dabei werden Queere in aller Welt unter Berufung auf antikoloniale Argumente gejagt, gefoltert und ermordet. Die fromme Intersektionalität, in der so viele kunstlinke Texte baden, kann überhaupt nur unfromm politisch wirksam werden, wenn klar ist, dass ihr nicht böse Menschen entgegenstehen, sondern deren in ideologisch-institutionalisierte Interessengegensätze gegossene objektivierte Form.

Wenn man dem Begriff „Populismus“ mehr Substanz zuschanzt, als er normalerweise hat, kommt man dem Problem näher: Nicht als (unterkomplexe) Methode (Form) der Propaganda (die nach links und rechts wandern kann), sondern als (rechte) Ideologie, die um den Begriff des Volkes kreist. Dann ist der Populismus ein erfolgreicher Fall der unmittelbar mit dem Neoliberalismus verbundenen ideologischen Formation des Neotraditionalismus. Überall, wo aus aufklärerischen Traditionen hervorgegangene Fortschritts- und Demokratiemodelle wie Sozialismus, Sozialdemokratie, soziale Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat neoliberal abgebaut wurden (oder immanent gescheitert sind), sei es einigermaßen sanft wie in Deutschland und Nord-europa, sei es brachial wie rund ums Mittelmeer, in der arabischen Welt, in Teilen Südamerikas oder in den USA, entstand in den letzten 30, 40 Jahren eine neue Besinnung auf eine erfundene oder künstlich wieder ausgegrabene traditionelle Ideologie, die sich, typisch Ideologie, nicht gegen den Verursacher der Machtlosigkeit, den ökonomischen Neoliberalismus, richtet, sondern gegen die bürgerlichen Freiheiten und andere Errungenschaften, die dessen Nutznießern, zu Privilegien verhunzt, noch zugänglich sind. Zu diesen Neotraditionalismen gehören so verschiedene Bewegungen wie der politische Islam, Evangelikale in Süd- und Nordamerika, der Machismo in dem ansonsten so wichtigen globalen Verständigungsmittel Hip-Hop, aber eben auch xenophobe und rassistische Parteien wie AfD und Front National und autoritäre parafaschistische Charismatiker wie Erdogan, Orbán und Trump. Populismus ist diejenige Form von Neotraditionalismus, die konventioneller Parteipolitik noch am nächsten steht.

Diese Berufung aufs Volk kombiniert Neotraditionalismus mit einer Identitätspolitik, die strukturell nicht auf Traditionen bezogen war, sondern sich minoritär aus den linken, antirassistischen und feministischen, antihomo- und -transphoben Kämpfen entwickelte: Sie erfand ursprünglich gerade andere Kollektivitäten gegen die Tradition. Doch im Laufe der Zeit entstanden immer wieder Überschneidungen mit neotraditio-nellen Verortungen, zumal der Neotraditionalismus im Gegensatz zu früheren Konservativen und Reaktionären auf institutioneller und infrastruktureller Ebene durchaus zeitgemäß operiert. Hier geht es nun ans Eingemachte.

Früher hat man sich mit der Formel beholfen, dass Identitätspolitik aus strategischen Gründen okay ist, wenn sich Ausgeschlossene ihrer bedienen („strategischer Essenzialismus“), aber potenziell faschistoid, wenn dies Privilegienbesitzer tun. Heute würde ich diskurspolitisch eher unterscheiden zwischen einem Beharren auf identitätspolitischer Zuständigkeit, die zu einer Erweiterung des Diskurses beiträgt, Wissen und Stimmen laut werden lässt, die bisher geschwiegen haben, und Identität als Argument, das darauf beharrt, qua Identität etwas besser zu wissen als die nicht unmittelbar Betroffenen. Letzteres wäre zurückzuweisen; aus (bisherigem) Ausschluss lässt sich zwar immer verstärktes Rederecht ableiten, aber nicht ein die anderen zu Agnostizismus verurteilendes Rechthaben. Da dieser Komplex sowohl mit Identitätspolitik zu tun hat wie auch mit jener Diskurspolitik, die normalerweise unter Political Correctness abgelegt wird, müsste man die Frage nach dem Unterschied zwischen der Legitimität der Berufung auf „Zuständigkeit“ oder „Betroffenheit“ (meist einer konkreten Minderheit) und der Berufung auf das phantasmatische Großbegriffsmonster „Volk“ auch von da aus anschauen. Die Berufung auf das Volk schränkt die Anzahl legitimer Diskurse ein, die Berufung auf eine Minderheit, auf die Nichtidentität mit dem Volk, erhöht deren Zahl.

In einer Replik auf einen ausnahmsweise klugen Artikel zum Thema, der daran erinnerte, dass sich noch niemand je zu Political Correctness als politischem Inhalt bekannt habe und der Begriff eine reine Schmähkategorie der Gegenseite sei, daher auch völlig beliebig zu füllen, entblödet sich Josef Joffe in der Zeit nicht, die Erwähnung von LGBTQ-Rechten im aktuellen Regierungsprogramm der rot-rot-grünen Koalition (bei gleichzeitiger Abwesenheit der Worte „Christ“ und „christlich“) in Berlin als Beispiel für die inhaltliche Hegemonie von PC zu benennen, so als gäbe es irgendwo einen programmatischen Link zwischen einer (welcher?) inhaltlichen Politik der LGBTQ-Community und der doch meist wegen formaler Sprachregelungen geschmähten Political Correctness. Gerade weil Joffe aber mit Schmackes sein Thema verfehlt, lädt sein Text ein, zu fragen, was denn die Politik von PC sein könne, wenn man die Schmähkategorie Political Correctness – den erklärten Hauptfeind der aktuell erfolgreichen rechten Politiker – versuchsweise ins Positive wenden und, analog zum Populismus, als Inhalt behandeln will?

Mein Vorschlag: Eine Diskurspolitik, die nicht selbst eine unfromm-politische Intersektio-nalität realisiert, sondern die Voraussetzungen dafür schafft. Political Correctness will in ihren Vereinbarungen die Umsetzung theoretischer Forderungen nach Vielstimmigkeit und heterogenen Stimmen in praktische Kommunikationsordnungen, gewissermaßen als Geschäftsordnung der Debatte, garantieren, als Ergänzung und Erweiterung von rein formalen Diskursregeln in Anerkenntnis der real unterschiedlichen Zugänge zur Macht und zur Macht, zu sprechen. Rederechte und Diskurszugänge sollen so geregelt werden, dass die bisher Nichtbeteiligten sprechen können: Den Status quo angeblich natürlich gewachsener Schnauzen gilt es als Ergebnis einer hegemonia-len Bevorzugung der Mächtigen kenntlich und kritisierbar werden zu lassen. Dies wäre (und ist an vielen Stellen des akademischen wie des Kunstdiskurses) im Resultat eine Erhöhung der Anzahl und der Anzahl an Hintergründen von Sprechenden – also nicht die Diskursverknappung, die PC immer vorgeworfen wird („Sprachverbote!“), sondern Diskurserweiterung. Am Gelingen von Diskurspluralisierung müssen sich PC-Regelungen allerdings auch messen lassen.

Was aber wird mit dem Politischen in Political Correctness? Es geht nämlich nicht um einen reinen Fetischismus der abzählbaren Diversität, sondern um deren Politisierung: nicht nur kompensatorisches Bevorzugen und Unterstützen von (vormals aus welchen Gründen und auf welche Weise auch immer) Ausgeschlossenen, sondern die Würdigung des spezifischen Wissens, das mit der jeweiligen Benachteiligung des Ausschlusses oder Schlimmerem wie Verfolgung in der eigenen oder in nahestehenden Biografien verbunden ist, soll eine entscheidende Rolle spielen.

Dies ist natürlich auch ein Einfallstor für einen gewissen Essenzialismus, der dem des Populismus ähnelt, auch wenn dessen neotraditionelle Anrufung des Volkes reale Erfahrung gerade abwertet. Betroffenheitsdiskurs und Zuständigkeitseinklagen in den einschlägig hochgekochten Debatten zu Cultural Appropriation und einem Dana-Schutz-Gemälde bewirken das Gegenteil von Diskurserweiterung: die Einschränkung der Zuständigkeit auf ein konkretes kulturelles oder anderes, politisch verstandenes Merkmal. Nun sind in letzter Zeit Essenzialismusvorwürfe oft auch vorschnell laut geworden, wo jemand nur ein bisschen genervt von weiß-kolonialen Achtlosigkeiten oder ungefragten Solidaritätszumutungen war, wo sich gut betuchte bürgerliche Empathieträger immer für das Leid der anderen zuständig erklären. Aber auch wenn manchem Essenzialismus mittlerweile jede Strategie abgeht, sodass er schon durch seine das Politische ontologisierende Begründungsfigur fragwürdig wird, so ist das eigentliche Kriterium doch immer die Gültigkeitsdimension, die ein Beitrag zur Debatte beansprucht. Zwei Dinge gehen nicht: der Anspruch darauf, letzte Worte gesprochen zu haben –, dies oft eine typische Hysterisierung von Internetdebatten – und die Aggression ad personam am digitalen Pranger. Die Perspektivierung und Partikularisierung von Zugängen in Debatten ist ja kein Selbstzweck, sondern muss zu den neuen Abstraktionen und Universalisierungen beitragen, die an die Stelle des alten westlichen (linken) Universalismus treten müssen (um die Welt zu retten, mit Verlaub).

2. Antiautoritäre Autoritäre/Haterism

So wie Populismus der strategische und falsche Name für die neue Rechte ist, so heißt die massenpsychologische Grundlage ihres Aufstiegs im selben Diskurs „der Hass“. Hass ist aber gerade die emotionale Gemengelage, die noch kein Ziel hat, die sich noch nicht gegen eine Person oder eine Personengruppe richtet, die man für seine Lage über eine ideologische Konstruktion verantwortlich macht. Sondern Hass funktioniert über eine persönliche Nähe: Man hasst seine Nachbarn, Partner oder Unfallgegner. Erst im nächsten Schritt wird daraus das Ressentiment. Früher haben sich die Leute jeden Abend in der Kneipe die Nase blutig gehauen oder zu Hause Frau und Kind, heute „artikulieren“ sie sich.

Das Ressentiment hat eine neue Massenpsychologie bekommen, die im Internetkommentar ihre pure Symptomatik zeigt. Das neue Ressentiment kommt nicht von sich gegenseitig anstachelnden kopräsenten Massen, die einer Parole, einer Person, einer sich gegenseitig verstärkenden Dynamik folgen, sondern von Einzelnen, die zu Hause – im mehr oder weniger übertragenen Sinne wichsend – an Sozialsimulatoren sitzen. In den 90er Jahren, als an soziale Netzwerke noch nicht zu denken war, gab es den Begriff der elektronischen Einsamkeit. Er bedeutete, dass die Bedingungen erfüllten sozialen Lebens, von Demokratie bis Bohemisierung – unerwartete Begegnungen und darauf folgende soziale Verkettungen im öffentlichen Raum – verschwinden, wenn alle im privaten elektronischen Raum (90er-Jahre-Stichwort: Bedroom Producers) genug finden, um sich auszubreiten und wunderschön vereinsamen können. Die sozialen Netzwerke schienen das Gegenteil zu beweisen; gerade in der dezentralen Vernetztheit kamen Begegnungen der unvorhersehbarsten Art zustande und mit ihnen das Entstehen neuer Codes, Haltungen, Redeweisen. Doch die Dialektik der digitalen Sozialität besteht darin, dass sie nicht durch soziale Beziehungen in ihren spezifisch komplexen Mischverhältnissen zwischen Einigkeit und Antagonismus in jeder einzelnen Kontaktperson geprüft, kontrolliert und bestätigt wird, wie jede realweltliche Sozialität bis hinunter zum Stammtisch, sondern kybernetisch verwaltet von einwertiger Zustimmung, Ablehnung und deren Zahl.

Dies ist kein kulturkritisches Argument gegen soziale Netzwerke und für die Piazza und die Kiezkultur, sondern will auf einen verstärkenden Faktor der neuen politischen Lage aufmerksam machen: Die einwertigen, körperlosen Bestätigungen treffen auf erregte, aber nicht mit anderen Körpern verbundene Einzelne, die (elektronisch) einsam Botschaften rausfeuern, deren asozialer Furor langsam, aber sicher zum Ressentiment hochbestätigt wird – zu einem rechten (rassistischen, sexistischen) Ressentiment, das sich aber in Kopf und Seele des Hassenden autonom und authentisch, „endlich mal gesagt“ anfühlt, im Gegensatz zur autoritären Persönlichkeit und ihren Gefühlen eben nicht gehorsam. Dieses einsame Ressentiment gegen Nichtanwesende, bestätigt durch andere Nichtanwesende ist die Massenpsychologie des „emanzipierten Faschismus“, der antiautoritären Autoritären, die keinem Führer mehr folgen, sondern einer programmierten asozialen Schwerkraft. Anonyme Bestätigung, Resultate, Treffer flashen sie hoch zu einer Sucht, die zur Weltanschauung wird. Der Habitus frecher Jugendlichkeit vermischt sich hier mit programmierten Bots und Eckensteher-Nazis aus Kleinstädten zu einem sich in der Tat während der letzten fünf Jahre viral verbreitenden Ton, der etwas Internationales hat. Mit dieser Aggression darf sich nicht verwechselbar machen, wer an der Kritik ad personam noch die klassisch materialistischen Effekte des Klatsches schätzt. Fundamentale Forderung: keine (moralistischen) Aggressionen von links ad personam. It’s always the institutions!

3. Stand der Dinge

Deswegen war es z. B. richtig zu skandalisieren, dass das Theater in der Gessnerallee zu Zürich einen AfD-Politiker zur Diskussion eingeladen hat (auch das Thalia Theater in Hamburg hat einen in ihre Bar „Nachtasyl“ eingeladen, das Burgtheater Wien und das Theater Magdeburg leisteten sich Ähnliches). Theater, Museen, Off-Spaces, Galerien, Clubs, Zeitschriften, Webseiten sind Institutio-nen. Sie haben eine spezifische und generische Geschichte. Diese Geschichte hat zu gewissen Errungenschaften geführt, die man als Stände, Zwischenstände, Stand der Dinge beschreiben kann. Natürlich sind die umstritten, und natürlich gibt es Fort- und Rückschritte darin, aber es gibt ein Recht auf den Stand der Dinge, der für ein Theater, das etwas auf sich hält, verbindlich sein sollte. Es gibt nichts zu diskutieren mit Rechten, es gibt keinen Grund, ihnen eine Bühne zu geben. Dass man sich mit ihren Erfolgen soziologisch, politisch, medienpathologisch beschäftigen muss, ist etwas anderes. Man kann realistischerweise ein je zu diskutierendes, avanciertes Bewusstsein nicht prinzipiell dem Rest der Welt verpflichtend vorschreiben; alle haben natürlich das Recht, auch fortgesetzt Blödsinn zu produzieren und zu reden. Aber Institutionen sollten eine Verpflichtung auf das haben, worauf sich ihr Publikum, ihre Künstler/innen als einen Stand der Dinge einigen können. Fangen sie an, mit der Einladung irgendwelcher AfD-Gauleiter Provo spielen oder gar ernsthaft Argumente austauschen zu wollen, hilft es nicht, den je einzelnen Trottel zu denunzieren, der da kommt oder der das verantwortet, sondern dann werden Boykotte legitim. Dafür braucht es auch keine weiteren Gründe: Keine Bühne für Rechte! Keine Aufmerksamkeit, kein ständiges redundantes Beschwören der eigenen Ängste, das ja nur die so massiv herbeigesehnte Resonanz für das Kinderschreckgetue der Rechten liefert.

Ist dies nicht auch eine Diskursverknappung? Ein Entscheidungsdruck lastet immer auf den Diskursen. Definiert man sie als offen, erscheint der oft notwendige Abbruch gerade als gewaltsam, aber das ist auch angemessen; der Grund ist dem Diskurs äußerlich (Geschichte, Politik, Zeitdruck, Geld). Der Arbeitsbegriff des Standes der Dinge erlaubt es aber, die praktisch und politisch notwendige Schließung weniger zufällig zu gestalten und ihrerseits diskutierbar zu halten, etwa indem man erledigte von nicht erledigten Denkfiguren unterscheidet. Das situative Bestimmen eines solchen Standes für je bestimmte Institutionen im Lichte ihrer spezifischen Geschichte und der Funktion, die sie für bestimmte Positionen und kulturelle Praxen haben, ist dem linearen und allgemeinen Bestimmen von globalem Fort- und Rückschritt überlegen, kann auf lokale Ungleichzeitigkeiten und historische Pluralität Rücksicht nehmen – und ist dennoch nicht wehrlos gegenüber den Aufmerksamkeitsspekulationen naiver oder fieser Kuratoren/Kuratorinnen und Dramaturgen/Dramaturginnen. Schließlich hat die Vereinbarkeit von Diskursöffnung und diskursschließendem Handeln ja nicht nur im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Holocaustleugnung eine weitgehend unbezweifelte Richtigkeit. Gerade weil und wenn man ein sehr hohes Maß an Diskursbeteiligung fördern will, braucht man – natürlich diskutierbare – Grenzen. Das ist aber nicht zu verwechseln mit der neuen positivistischen Liebe zu Fakten, mit denen die Leute allerorten sich der bösen Postmoderne und ihres angeblichen Relativismus entledigen wollen, der die „Fake Facts“ vorbereitet haben soll. Die Perspektivierung der Fakten, die Öffnung auf insbesondere durch unterschiedliche Machtpositio-nen unterschiedliche Zugänge war gerade keine beliebige Relativierung – sie zeigte ja, dass nicht alles abstrakt relativ ist, sondern konkret perspektivierbar. Niemand wollte die Unbestreitbarkeit von Fakten aus der Welt schaffen, wohl aber sollte auf die politische Tatsache aufmerksam gemacht werden, dass Fakten für unterschiedliche Leute unterschiedliche Wirkungen und Bedeutungen haben. Auf diese Weise haben kritische und postmoderne Theorien den alten stumpfen Positivismus der Fakten zu Recht und sehr erfolgreich erledigt. Das Volk ist aber keine Perspektive, sondern, wie auf der anderen Seite der Positivismus, das Bestreiten von Perspektiven. Rechte Positionen lassen sich daher durch völkische Perspektivierungen nicht retten, ihre Erledigung hat die Geschichte ohnehin längst geleistet.

Alle Bilder: Stefanie Pretnar, aus der Serie „Frankfurt Classic“, 2009-14