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DIE VERDINGLICHUNG UNSERER SEELEN Isabelle Graw im Gespräch mit Joseph Vogl über die kommende Gemeinschaft der Netzbürger*innen und die Produktivkraft des Neides

Isabelle Graw im Gespräch mit / in conversation with Joseph Vogl, Screenshot

Isabelle Graw im Gespräch mit / in conversation with Joseph Vogl, Screenshot

Neid ist eine Projektion, ein innerpsychischer und auf Gesellschaft bezogener relationaler Affekt: Mir fehlt, was andere haben. Da die Produktion von Knappheit eine der wesentlichen Bedingungen für die Dynamik des Kapital- und Finanzmarktes ist, wird das Begehren dessen, was nicht ich, sondern jemand anderes besitzt, von den kapitalistischen Bewirtschaftungsprozessen zusätzlich geschürt. Diese Urszene der Ressentimentbildung diskutieren Herausgeberin Isabelle Graw und Kulturtheoretiker Joseph Vogl mit Blick auf sowohl die Auktionssphäre der Kunstwelt als auch heutige Formen der Onlinekommunikation. Wie ein roter Faden durchzieht dabei die Frage, inwiefern künstlerische und emanzipatorisch-aktivistische Praktiken von kapitalistischen Marktdynamiken besetzt, integriert und verwertet werden können, dieses Gespräch.

ISABELLE GRAW: Für mich besteht die zentrale Leistung deines Buches Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart (2021) darin, dass es die Fusion zwischen Finanz- und Informationsökonomie historisch präzise nachzeichnet. Du zeigst im Grunde genommen, wie die Informatisierung der Finanzmärkte einhergegangen ist mit einer Finanzialisierung von Informationen. Und es wird auch festgehalten, welche fatalen Folgen für eine demokratische Gesellschaft sich aus diesem Siegeszug der finanzökonomischen Machtordnung ergeben, wenn also Plattformunternehmen wie Google, Amazon, Facebook die Gesellschaft zu steuern und öffentliche Sphären zu beherrschen versuchen, oder wenn Zentralbanken quasi als Regierungsinstitute agieren, die demokratische Eingriffe ins Wirtschaftssystem abwehren. Du charakterisierst das Finanzregime treffend als eine „trans- oder intergouvernementale Handlungsmacht“, das heißt als eine Handlungsmacht zwischen den Regierungen und über diese auch hinausgehend. Du demonstrierst auch, wie die Marktdisziplin zu einem Leitfaden der Politik wurde und wie die regelmäßigen Regulierungsbestrebungen den parastaatlichen Aktivitäten der Plattformunternehmen nichts entgegenzusetzen vermögen. Gleich zu Beginn des Buches erklärst du „Informationen aller Art“ zu einer „neuen Quelle der Wertschöpfung“. Auch aufgrund meines eigenen Interesses an werttheoretischen Themen habe ich mich gefragt, mit welchem Wertverständnis du arbeitest. Wert ist ja, etwa bei Marx, nicht Preis, den er als Geldausdruck des Marktwertes versteht. Für Marx ist Wert vielmehr „Vergegenständlichung menschlicher Arbeit“, geht also auf menschliche Arbeit zurück und verwandelt diese zugleich in „abstrakte Arbeit“, was so viel heißt, dass der Wert von der Arbeit abstrahiert wird, sie verdeckt und unsichtbar macht. Da die Wertfrage auch für dein Nachdenken über die Finanz- und Informationsökonomie wichtig ist, wollte ich mich nach deinem Wertbegriff erkundigen.

JOSEPH VOGL: Ich habe mich, glaube ich, weniger auf ein eigenes Verständnis von Wert bezogen als auf Technologien einerseits und Theorien andererseits, die eine Engführung von Preisen und Werten vollziehen. Im Mittelpunkt stehen dabei natürlich Finanz- und Börsenmärkte, und hier kann man vielleicht zwei Dinge hervorheben: Auf der einen Seite lässt sich der Take-off der Finanzindustrie seit den 1980er Jahren spätestens, aber insbesondere in den 1990er Jahren nicht ohne die Implantation von Netzwerkarchitekturen beschreiben. Entscheidend ist hierfür die Auswanderung von Finanzgeschäften aus den umhegten Börsenschauplätzen zu dem Over the Counter-Handel, das heißt den unregulierten Schattenbanken, sodass ein Großteil der Finanztransaktionen tatsächlich im Netz passiert. Das hat zu einer doppelten Problemstellung geführt. Auf der einen Seite: Wie lassen sich Preisbildungsmechanismen technisch implantieren, also unter informationstechnischen Bedingungen? Und auf der anderen Seite: Wie lassen sich Finanzmarkttheorien in Informationstheorien transformieren oder übersetzen? Im Mittelpunkt steht hier die Hypothese, dass die auf den Märkten gebildeten Preise alle Informationen, die nötig sind, bereits enthalten. Das heißt, sie enthalten alle Wertschätzungen aller möglichen Akteur*innen, und somit erübrigt sich eine Analyse der fundamentalen Fragen nach Wertbildungen, also etwa nach Produktivität, Ertragslagen, Kostenstrukturen, erwartbaren Dividenden, Leistungsbilanzen, Eigenkapitalquoten, Managementqualität, Konjunkturentwicklungen oder Kaufkraft. Alles Fragen, die ein guter Buchhalter stellen würde. Es gibt vor diesem Hintergrund auch in der orthodoxen Ökonomik eine Auseinandersetzung zwischen der informationstheoretischen Innervierung des Marktes auf der einen Seite und dem, was man auf der anderen Seite Fundamentalanalyse nennt. Das, was du angesprochen hast, also eine marxistische Perspektive, würde natürlich eher in das Register einer Fundamentalanalyse gehören, zu fragen wäre also: Wie viel Arbeitszeit ist nötig, um bestimmte Gebrauchsgüter herzustellen, wie entsteht so etwas wie abstrakte Arbeit etc.? Wichtig aber, und das sei noch einmal wiederholt, ist bei dieser Symbiose von Finanzökonomie und Informationstechnologie die grundsätzliche Übereinstimmung von Preisbildung und Informationsrepräsentation.

GRAW: Bei der Lektüre deiner Beschreibung von informationsgesättigten Preisen auf dem Finanzmarkt musste ich unweigerlich an parallele und davon abweichende Entwicklungen in der Auktionssphäre der Kunstwelt denken. Die Auktionssphäre ist ja ein spezifisches Segment des Kunstmarkts, in dem hohe Preise häufig mit künstlerischer Relevanz gleichgesetzt respektive verwechselt werden. Entscheidend dafür, ob sich das Begehren der Akteur*innen hier in ein Kunstwerk investiert, sind aber weniger Informationen, etwa die Werturteile der Expert*innen, als das, was der Soziologe Jens Beckert als „fiktionale Erwartungen“ bezeichnet, also die für ein Kunstwerk imaginierten Zukünfte, die es langfristig bedeutungsvoll und glaubwürdig erscheinen lassen. Ich frage mich indessen: Wenn auch derartige Projektionen, wie von dir beschrieben, zur Wertschöpfung führen – du hast von „informationellen Tätigkeiten“ gesprochen, die sozusagen Wert bilden, was an Maurizio Lazzaratos Konzept der „immateriellen Arbeit“ denken lässt –, wie genau wird aus diesen „informationellen Tätigkeiten“ Wert?

VOGL: Einen wesentlichen Punkt hast du bereits genannt: dass der Handel auf Finanzmärkten – und zwar seit der frühen Neuzeit – als ein Handel mit Zukunftsaussichten und Risiken beschrieben wird. Vor diesem Hintergrund zählt tatsächlich eine eigentümliche Gleichordnung von Nachrichten und Meinungen, von Meinungen über Meinungen, von Behauptungen, Gerüchten etc. Das heißt, diese frühen Börsenschauplätze sind bereits, um dies mit einem Titel eines Theoretikers aus dem 17. Jahrhundert zu beschreiben, ein Ort der „Verwirrung der Verwirrungen“. Und diese Verwirrung von Verwirrungen ist, glaube ich, entscheidend in der Hinsicht, dass Nachrichten über Geschehnisse oder Tatsachen denselben Stellenwert haben wie Meinungen oder die Meinungen über andere Meinungen. Ich habe das in dem Buch so beschrieben, dass es hier eigentlich eine frühe Form von Meinungsmärkten gibt, die nur unter der Bedingung funktionieren, dass tatsächlich Risiken, Risikoeinschätzungen Zukunftsaussichten und Bewertungen dieser Zukunftsaussichten zum Gegenstand dieses Geschäfts werden. Die Differenz des Wissens wird damit also in einer gewissen Weise kassiert.

GRAW: Das Meinungshafte als Motor der Wertbildung ist eine ganz wesentliche Beobachtung deines Buches. Wie ein roter Faden zieht sich die Kontrastierung von Information und Wissen durch deine Argumentation hindurch, die zu absoluten Gegenpolen erklärt werden. Für dich zeichnet sich Wissen durch Ungewissheiten und ungeklärte Problemlagen aus. Du betonst zudem, dass Wissen einem antialgorithmischen Pfad folgt, weshalb es also nicht unbedingt online zu finden wäre. Information hingegen wird von dir als „Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung“ definiert: Es handelt sich bei Informationen also um ein Wissen ohne das, was Wissen im Grunde ausmacht: experimentelle Versuchsanordnungen, neue Problemstellungen, Hypothesen, die begründet werden etc. Ich habe mich nun gefragt, auch mit Blick auf künstlerische Praktiken, die sich – Stichwort Artistic Research – als Wissensformen ausgeben, ob man Wissen und Information wirklich so klar voneinander abgrenzen kann? Schließlich können in künstlerischen Arbeiten dieses Typs Informationen ebenso verarbeitet worden sein, wie sie selbst Wissen abschöpfen und Formen des Wissens erzeugen. Müsste man nicht vielmehr einräumen, dass im Wissen grundsätzlich auch Informationsverarbeitung stattfindet, dass also auch im Wissen „Neuigkeiten“, „Meldungen“, „Korrespondenzen“, „Berichte“, „Briefe“ oder nur „Gerüchte“ enthalten sein können, in deren Gestalt Informationen dir zufolge auftreten?

VOGL: Deine erste Frage betrifft noch einmal das Verhältnis von Informationstechnologien und Finanzmärkten, die Voraussetzung für die Automatisierung von Märkten. Man darf nicht vergessen, dass inzwischen ungefähr 70 Prozent der Finanztransaktionen tatsächlich automatisiert sind, also über Algorithmen abgewickelt werden. Und das, was ich Überraschungsdifferenz nennen würde, das heißt schlichtweg die Irritation von Erwartungshaltungen (wie etwa Preisschwankungen), steht im Zentrum von technologisch und algorithmisch fassbarer Information. Vor diesem Hintergrund lässt sich vielleicht die Antwort auf deine Frage paradox formulieren. Auf der einen Seite macht Information vor diesem Hintergrund keinen Unterschied mehr zu Wissen, während umgekehrt Wissen einen Unterschied zur Information setzen kann. Das heißt in letzter Konsequenz, dass dieses Wissen nicht algorithmisierbar ist, wie du es erwähnt hast – dass es nicht automatisierbar ist und dass es vor allem nicht skalierbar ist. Wissen wäre in dieser Hinsicht prozedural und prozessual zu definiert also nicht von einem Ergebnis, einem Resultat, einem festgestellten Faktum aus, sondern ausgehend von einem offenen Rechercheprozess, von offenen Forschungsfragen, von unabsehbaren Wegen und Pfaden. Diese Prozesse sind nicht reduplizierbar durch eine automatische Verarbeitung, es handelt sich um Prozesse, die, wenn man so will, Endlichkeit verzehren.

GRAW: Wissen zielt nicht auf messbare Ergebnisse und ist zeitlich begrenzt durch die Lebenszeit der Wissensproduzent*innen?

VOGL: Anders formuliert: Zwar zielt Wissen auf messbare oder überprüfbare Ergebnisse, aber es wird nicht ausschließlich durch sie, durch bestimmte Resultatslogiken definiert. Natürlich sollte irgendwas dabei herauskommen, ein Produkt, eine Einsicht, eine überraschende Schlussfolgerung, eine Interpretation – all das aber unter der Bedingung, dass die damit verbundenen Wege, die Ab- und Umwege, die Sackgassen und Neuanfänge nicht vergessen werden. Dabei wird Lebenszeit verzehrt, hier ist man mit Endlichkeit konfrontiert, mit der Arbeit am Wissen erfährt man die eigene Sterblichkeit.

GRAW: Dem Wissen ist eine zeitliche Grenze gesetzt durch das Ableben der Wissensproduzent*innen. Deinem Befund eines Siegeszugs des Meinungshaften würde ich einerseits durchaus zustimmen – auch mit Blick auf die Zunahme von Meinungen im Seminar oder mit Blick auf die Kunstkritik, in der derzeit häufig ein Gestus des bloßen Behauptens vorherrscht, der auf Nachweis und Begründung (also Wissenspraktiken) verzichtet. Aber zugleich gibt es augenblicklich auch wichtige Bestrebungen, das vom Wissen ausgegrenzte Nicht-Wissen, also etwa magisches Denken, esoterische Praktiken, aber auch ganz grundsätzlich Affekte, all diese Dinge ins Wissen aufzunehmen. Dies geschieht auch im Zuge der Öffnung des Wissens hin zu nicht westlichen Wissensformen. Müsste dein Wissensbegriff vor diesem Hintergrund nicht doch erweitert und modifiziert werden, oder wird er derartigen Entwicklungen gerecht?

VOGL: Der Wissensbegriff, den ich kursorisch eingeführt habe, ist nicht einer, der sich durch die Verpflichtung auf eine bestimmte Episteme definieren lässt. In diesem Wissensbegriff ist z. B. das enthalten, was man implizites Wissen nennt: mehr oder weniger bewusste Praktiken oder Fertigkeiten. In diesem Wissen sind Prozesse der Herstellung, der Hervorbringung enthalten, also „poiesis“ oder „phronesis“, also Klugheit und spezielle Einsichten, oder selbst „aisthesis“, Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung. Dieser Wissensbegriff ist also nicht strikt epistemologisch definiert, sondern umfasst alle möglichen – mentalen, seelischen, körperlichen – Beteiligungen an Hervorbringungsprozessen jeglicher Art.

GRAW: Du beschreibst die Finanzmärkte als einen Ort, wo dieses Wissen kaum Bedeutung hat: Die Kurse fallen oder steigen hier aufgrund von Information oder aufgrund des von dir sogenannten Meinungshaften, der „zur Norm gewordenen kollektiven Ansichten“. Auch in der Auktionssphäre der Kunstwelt können diese zur Norm gewordenen kollektiven Ansichten Kursschwankungen hervorbringen. Aber zugleich haben hier eher mit Wissen assoziierte Formen kunsthistorischer und kunstkritischer Bedeutungsproduktion durchaus Einfluss auf die Bildung von symbolischem Wert – wobei deren Einfluss im Auktionswesen derzeit stark zurückzugehen scheint. Dennoch scheint mir die Abgrenzung von Information zu Wissen in dieser Sphäre kaum sinnvoll zu sein.

Trevor Paglen, „They Watch the Moon“, 2010

Trevor Paglen, „They Watch the Moon“, 2010

VOGL: Mag sein. Aber lass mich an dieser Stelle noch einmal klarstellen, dass für mich dieser Informationsbegriff vor allem unter kybernetischen und informationstechnischen, aber auch finanztheoretischen Bedingungen relevant wird; hier ließe sich tatsächlich von der Entstehung eines Informationsstandards sprechen. Ich habe vor dem Hintergrund unseres Gesprächs natürlich auch darüber nachgedacht, wo eigentlich die Scharniere zwischen dem Kunstmarkt, auch den Auktionsdramen, und dem Finanzmarkt verlaufen. Und ein entscheidender gemeinsamer Punkt liegt wohl in spekulativen Geschäften. Auch der Kunstmarkt ist ein Kapitalmarkt. Umgekehrt würde ich einen radikalen Unterschied darin sehen, dass im Kunstmarkt – von wenigen Ausnahmen wie der Kryptokunst vielleicht einmal abgesehen – andere Kapitalbildungen eine entscheidende Rolle spielen. So etwas wie symbolisches Kapital, die Investition in Personen, in Stile, in künstlerische Strömungen, in Schulen oder kunstkritische Konjunkturen. Das heißt, der Kunstmarkt muss – und tut es auch ganz konkret – auf verschiedene Formeln der sozialen Kapitalbildung zurückgreifen, die nicht unter einen eng definierten Informationsbegriff subsumierbar sind.

GRAW: Ja, zwar gibt es Phänomene wie die augenblicklich viel diskutierten NFTs (Non-Fungible Tokens), die zahlreiche Schnittmengen zu Finanzprodukten bilden und auf symbolische Kapitalbildungen kaum angewiesen sind. Aber anders als bei Finanzprodukten hat man es auf dem Kunstmarkt in der Regel mit Objekten zu tun, die als materielle Unikate zirkulieren und mit symbolischer Bedeutung assoziiert sind. Es wird also davon ausgegangen, dass diese Objekte selbst einen Unterschied machen, dass von ihnen etwas ausgeht – Erkenntnisproduktion vielleicht, das Auslösen von Affekten oder die Reflexion sozialer Zusammenhänge etc. Und diese Unterschiede, die Kunstkritik und Kunstgeschichte häufig für Kunstwerke behaupten, sind etwas, was die Wertbildung in diesem Feld zu rechtfertigen scheint und zu etwas scheinbar Substanziellem macht. Der Wert der Kunst scheint also einen Grund in der Kunst selbst zu haben – und die Objekte geben dieser Vorstellung, dass ihr Wert Substanz habe, auch materielle Anlässe. Aber wenn ich bei dir lese, wie du etwa den Preisbildungsvorgang auf den Finanzmärkten beschreibst als, ich zitiere dich, „unendliches Spiegelbild ohne festen Angelpunkt, in dem das Geschick oder Glück oder Vermögen von jedermann nur von der Interpretation abhängt, was die anderen denken“, dann würde ich sagen: Ja, dieser Aspekt, das angenommene Denken und Begehren der anderen, spielt auch auf dem Kunstmarkt eine große Rolle. Nur haben wir es hier eben mit Produkten zu tun, die eine Art Eigenlogik entfalten und von denen selbst etwas auszugehen scheint.

VOGL: Wir müssen dieses Gebiet des Kunstmarktes bald verlassen, weil ich mich da wirklich auf Glatteis befinde. Aber wie wäre es mit der eher unreflektierten These, dass sich der Kunstmarkt in seiner längeren Geschichte zunächst aus quasi feudalen, auch mäzenatischen Finanzierungsstrukturen heraus entwickelt hat. Und von dort aus ist er gewissermaßen mit einem Sprung in Preisbildungsmechanismen geraten, die durchaus den Finanz- und Börsenmärkten entsprechen und einen zuweilen staunen machen. Staunen über Fantasiepreise, wie man ja auch über den hohen Börsenwert mancher Unternehmen, Startups und Internetfirmen staunen kann, die noch nie einen Gewinn eingefahren haben. Das heißt, auf dem Kunstmarkt ebenso wie in gegenwärtigen Finanzmärkten hat man es durchaus mit bestimmten Erhabenheitszumutungen zu tun, in denen Preisbildungen nicht mehr in konkrete Darstellbarkeit übersetzt werden können.

GRAW: Genau, Preisbildungen sind kaum plausibilisierbar, und gleichzeitig würde ich sagen, könnte einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Finanz- und Kunstmarkt darin bestehen – wir verlassen dieses Gebiet gleich –, dass Finanzprodukte anders als Kunstprodukte, wie von dir beschrieben, unbelastet vom Transport und von den Beschwernissen der Produktion sind.

VOGL: Ja, so steht es in jüngeren Finanzmarkttheorien, in Theorien, die von der Hypothese effizienter Märkte ausgehen. Demnach wären Finanzmärkte perfekte Märkte schlechthin, weil man dort von den Reibungen und Schwerfälligkeiten der physischen, materiellen Welt absehen kann.

GRAW: Stimmt, und im Unterschied dazu kann man ja von einigen Kunstwerken feststellen, dass sie häufig aufwendig transportiert werden müssen, was vielleicht auch ihr schwerfälliges, nahezu archaisches Moment ausmacht, das ihr Faszinationspotenzial gerade für Leute aus dem Finanzwesen steigert.

VOGL: Aber dann müsste man noch hinzufügen: Dort herrscht ein ungetrübter kapitalistischer Spaß, echtes Vergnügen an der Verknappung. Und das lohnt wohl jeden Preis – was immer ich da ersteigert habe, ist meins und nur meins und wurde jedem anderen weggeschnappt. Gehört das bloße Wegschnappen nicht zu den tiefsten und innigsten Befriedigungen der Kapitalist*innen?

John Kelsey, „Facebook Data Center, Rutherford County, NC V. Google Data Center, The Netherlands II.“, 2013

John Kelsey, „Facebook Data Center, Rutherford County, NC V. Google Data Center, The Netherlands II.“, 2013

GRAW: Ja. Man kürt sich qua Besitz des Kunstwerkunikats zum einzigartigen Ausnahmewesen, das den anderen etwas voraushat, was sie nicht haben können. Ich wollte jetzt aber doch vom Kunstmarkt weg noch mal hin zu Social Media kommen. Mein Eindruck war, und das liegt vielleicht an dem kulturkritischen Zuschnitt deiner Studie, dass du den Fokus mehr auf die wertschöpfenden Tätigkeiten der Nutzer*innen und weniger darauf legst, was die Nutzer*innen selbst sich von diesen Tätigkeiten versprechen. Ich habe mich gefragt: Warum posten die Leute unentwegt? Du sagst, die User*innen der Social Media machen das aufgrund ihrer Sorge, dass sie sonst soziale, ökonomische oder professionelle Vorteile verlieren könnten. Ist das freiwillige, unausgesetzte Posten online wirklich nur Ausdruck eines von den User*innen verinnerlichten kontrollgesellschaftlichen Regimes, oder ist es nicht ganz im Gegenteil situativ auch legitim und nachvollziehbar, wenn speziell marginalisierte Personen soziale Medien eben auch als Foren nutzen, weil es hier keine Gatekeeper, Schwellenhüter*innen oder Expert*innen gibt, die potenziell verhindern könnten, dass ihre Stimmen gehört werden? Ich würde Expert*innentum zwar immer gegen Populisten wie Trump etc. verteidigen, aber muss man nicht doch im Blick behalten, dass Expert*innentum auch fragwürdige Ausschlüsse implizieren kann? Und für meinen Geschmack kommt dieser Aspekt, nennen wir es das emanzipatorische Potenzial der Sozialen Medien, auch etwa mit Blick auf die #MeToo-Bewegung, zu kurz in deinem Buch. Frauen haben ihre sexual harrassment-Erlebnisse auf Facebook und Ähnlichem ja auch deshalb gepostet, weil sie hier nicht befürchten mussten, zum Schweigen gebracht zu werden. Zwar gibt es eine flip side dieses Möglichkeitsraums, und das ist eine tendenziell rechte calling out culture, Trolling etc., aber wäre es nicht sinnvoll, auch der Attraktion dieser Plattformen genauer nachzugehen?

VOGL: Du hast recht, dass ich diesen gesamten Bereich ausgespart habe und vielleicht auch mit gutem Grund. Den Seelenzustand von User*innen wollte ich ausklammern, der hat mich in einer gewissen Weise auch nicht interessiert. Und damit ist zunächst einmal ein argumentatives Muster aufgerufen, das nicht neu ist und das ich auch nicht erfunden habe, sondern das auf ältere Studien zurückgeht, wie beispielweise von Luc Boltanski und Ève Chiapello über den „neuen Geist des Kapitalismus“, verbunden mit folgender Frage: Inwieweit können künstlerische Praktiken, auch bestimmte emanzipatorische Dynamiken, selbstverständlich von kapitalistischen Bewirtschaftungsprozessen besetzt, integriert und verwertet werden? Mein Argument beginnt also nicht mit den schönen Kommunikationspotenzialen von Netzwerken, die ja spätestens in den 1980er Jahren auch mit bestimmten Versprechen der Dezentralisierung von Macht, der Demokratisierung der Kommunikationssphäre etc. verbunden waren. Der Ausgangspunkt meines Arguments ist vielmehr die radikale Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen, für die ja auch bestimmte Daten einstehen. Ich muss das an dieser Stelle vielleicht wenigstens kurz benennen, um den Angelpunkt klarzumachen. Für mich war die Mitte der 1990er Jahre ein wichtiger Einschnitt, vielleicht sogar epochaler Art, vorgegeben durch US-amerikanische Gesetzgebungsverfahren, die zwei wesentliche neue Bedingungen geschaffen haben für die Kommunikation in Netzwerken. Erstens, die Freigabe des World Wide Web für private Investitionen. Das war ein ganz wesentlicher Schritt für die unternehmerische Besetzung öffentlicher Infrastrukturen. Und zweitens die Herstellung dessen, was man Haftungsprivileg für bestimmte Unternehmen nennen könnte. Das heißt, dass Internetprovider seit 1996 durch den sogenannten Communications Decency Act, Paragraf 230, von jeglicher Verantwortung gegenüber eingestellten Inhalten befreit worden sind. Diese beiden Dinge kommen zusammen, und deshalb rede ich unter der Bedingung eines radikal privatisierten Netzwerks verbunden mit Haftungsprivilegien, die sonst keine andere Unternehmensform in dieser Weise für sich reklamieren kann. Vor diesem Hintergrund hat sich für die dann schnell expandierenden Plattformunternehmen – bis hin zu dem, was man Social Media nennt – die Frage gestellt: Wie lassen sich nicht rivalisierende Güter, das heißt Güter, die wie Information durch den Verbrauch nicht weniger werden (anders als das Bier in der Flasche oder das Benzin im Tank), so verknappen, dass damit gute Geschäfte gemacht werden können? Und das geschieht eben nur durch eine radikale Asymmetrierung von Informationen, was auf der einen Seite die Möglichkeit eines neuen Markts geschaffen hat mit einem völlig neuen Charakterprofil bei den Konsument*innen: Man wird mit kostenlosen Gütern gefüttert, mit allen möglichen Apps und Alltagshilfen, mit Gratisdiensten und anderen digitalen Herrlichkeiten. Der neue Konsumtyp pocht auf solche Schnäppchen, auf Kostenlosigkeit. Dies geschieht auf der anderen Seite allerdings nur unter der Bedingung, dass die damit produzierten Rohstoffe, und das sind eben Informationen, Daten und Metadaten, genau diesen User*innen nicht zugänglich sind. Sie haben keinen Zugriff darauf, dürfen keinen Zugriff darauf haben, damit das Geschäft funktioniert. Bevor sich also auf Facebook oder anderswo irgendjemand oder irgendetwas emanzipiert, haben er oder sie sich schon mit ihrer digitalen Enteignung abgefunden. Wenigstens das sollte man sich dann eingestehen – Anlass zu einiger Selbstironie.

GRAW: Aber warum wird diese digitale Enteignung von den Nutzer*innen so bereitwillig in Kauf genommen? Ich denke hier auch an Bücher wie Glitch Feminism von Legacy Russell, die in ihrem Buch gezeigt hat, dass die Sozialen Medien eben auch ein Forum für das Ausleben jener Identitäten bilden, die offline marginalisiert und diskriminiert werden. Und eine Bewegung wie #MeToo hätte es ohne die Sozialen Medien wohl kaum gegeben. Man hat es hier also doch auch mit einem Möglichkeitsraum zu tun, der gleichzeitig durchkapitalisiert ist. Welche Erfahrungen hast denn du persönlich mit Sozialen Medien gemacht?

VOGL: Keine. Ich brauche das nicht, ich finde das nicht attraktiv, kurze Einblicke haben mich eher abgestoßen. Und mir genügt der bereits bestehende Zwang zur Hyperkommunikation, der Rest ist eine Frage des Selbstschutzes. Allerdings möchte ich die vorsichtige Frage aufwerfen, inwieweit man mit dem Anspruch auf die Kostenlosigkeit der Benutzung von privaten Infrastrukturen nicht Kräfte herbeiruft, die man dann nicht mehr loswird.

GRAW: Für mich ist die Gleichgültigkeit gegenüber diesen unfreiwillig herbeigerufenen Kräften das Erstaunlichste daran, auch wenn ich etwa die Generation meiner 14-jährigen Tochter betrachte. Natürlich spreche ich mit ihr darüber, dass ihre Daten gesammelt werden, dass aus ihrem Leben Mehrwert abgeschöpft wird, dass sie manipuliert wird etc. Ich spreche mit ihr auch über Trackingmöglichkeiten. Sie ist davon jedoch vollständig unbeeindruckt, verteidigt Social Media als Quelle alternativen Wissens, als ein Forum für globale Networking-Möglichkeiten, die sie sonst nicht hätte. Ich habe ihr auch klarzumachen versucht, dass mit den Plattformunternehmen die von dir beschriebene Gefahr einer Ablösung „des Netzbürgers vom Staatsbürger“ einhergeht, dass wir es derzeit mit dem „freiwilligen Beitritt ganzer Bevölkerungen zu einem privaten Onlinestaat“ zu tun haben. Aber diese Hinweise scheinen mir machtlos gegenüber dem Faszinationssog und der libidinösen Anziehungskraft der Social Media zu sein. Warum ist das so?

Pieter Bruegel der Ältere / the Elder, „Der Triumph des Todes / The Triumph of Death“, 1562

Pieter Bruegel der Ältere / the Elder, „Der Triumph des Todes / The Triumph of Death“, 1562

VOGL: Aber ist das nicht ein lange eingeübtes Konsumverhalten, das sich im Augenblick durch ein weiteres Spektrum faszinierender Vorteile beeindrucken lässt? Das Interessante ist doch, dass eine Situation entstanden ist, in der das freiwillige Abtreten von Informationen zur Weiterverarbeitung zur Attraktion geworden ist. Früher war es das „Paradies der Damen“, die Glückseligkeit der Kaufhauswelt wie bei Émile Zola, jetzt ist es der Anspruch der tätigen Netzbürger*in auf kostenlose Befriedigung. Man schließt Kontrollverträge ab: digitales Futter gegen die Abgabe von Daten, das Paradies der User*innen.

GRAW: Ja ein Paradies, dessen Vorzüge seine Nachteile wegzublenden scheinen. Jaron Lanier hat in seinem Buch Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst vorgeschlagen, dass wir alle unsere Social-Media-Accounts kündigen. Dadurch schaden wir vielleicht diesen Infrastrukturen, ihre Ideologien und Verheißungen schalten wir jedoch dadurch nicht ab.

VOGL: Das ist gut möglich. Und man kann Lanier nur zustimmen, wenn er über Social Media sagt: „garbage in, garbage out.“ Aber lass uns noch einmal auf eine grundsätzliche Frage zurückkommen: Mit welchen Innovationsschüben hat der gegenwärtige Finanz- und Informationskapitalismus Strukturen geschaffen, die seine Überbietung oder Unterbietung, seine Reduktion oder Regulierung ausnehmend schwierig machen? In diese Situation sind wir eingetreten, und natürlich kann man sagen, dass das Mikroverhalten von User*innen an diesem Modell nichts ändern wird. Auch das Verhalten von einzelnen Nationalstaaten wird daran nichts ändern. Man ist aber in eine Lage geraten, in der die Verhaltensüberprüfung tatsächlich zu einer Frage des Ethos werden könnte. Will man wirklich den Parasiten in den Kanälen weiterhin fette Nahrung geben? Soll man Kommunikationen, also die Hervorbringung des Sozialen, nur noch den Konzernen überlassen? Muss man sich auch noch die letzten verbleibenden Produktionsmittel, das eigene Wort, entwenden lassen? Müssen wir uns mit einer Lage abfinden, wie sie Kafka einmal in Aussicht gestellt hat: Die Parasiten, die Geister in den Leitungen „werden nicht verhungern, aber wir werden zugrunde gehen“? Oder noch einmal konkret: Würde es sich nicht lohnen, ganz materialistisch, die Frage nach dem Besitz dieser Produktionsmittel, mit denen wir inzwischen umgehen, auch hier in diesem Gespräch, zu stellen?

GRAW: Ich glaube zwar nicht, dass wir zugrunde gehen werden an unseren User*innenaktivitäten, aber zugleich hast du auch recht: Zoom sollte uns gehören, während wir sprechen! Ich wollte jetzt noch auf den letzten Punkt deines Buches, den Sozialaffekt des Ressentiments, zu sprechen kommen, auch unter Berücksichtigung seiner Schwester, des Neids. Denn wir führen dieses Gespräch ja für unsere „Neid“-Ausgabe. Du hast das Ressentiment, und das fand ich sehr treffend und hilfreich, als Produkt und Produktivkraft zugleich des gegenwärtigen Wirtschaftssystems beschrieben. Das heißt, Ressentiments resultieren als Produkt aus dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem und sind zugleich dessen Triebfeder. Ich denke, dass auch der Neid so beschrieben werden könnte. Wie würdest du Neid vom Ressentiment abgrenzen, an welchen Stellen überschneidet sich beides und an welchen Stellen handelt es sich um jeweils sehr spezifische Sozialaffekte?

VOGL: Zunächst einmal könnte man sich ansehen, wie über Neid gesprochen wird. Vielleicht ließe sich sogar die These formulieren, dass über den Neid gesprochen wird, bevor er überhaupt irgendwo existiert. Denn seit den Kirchenvätern, seitdem man den Neid als Todsünde oder Hauptlaster deklarierte, fungiert er als Disqualifizierungsbegriff und bezieht sich damit auf irgendwie unlautere, ungerechtfertigte Ansprüche. Das geschieht etwa, wenn man heute von „Sozialneid“ spricht. Da wird eine Inkriminierung vorgebracht, die sich auf fremde und nicht ganz legitime Ansprüche beziehen soll. Solche Neiddiskurse zielen darauf ab, Forderungen nach einer berechtigten Teilhabe als bloßes und scheeläugiges Habenwollen zu disqualifizieren. Darin hat sich insbesondere der Liberalismus geübt: Schon Friedrich Hayek hat Gerechtigkeitsansprüche als reine Neidverfallenheit adressiert. Das wäre ein erster Punkt. Man sollte sich also zunächst einmal auf die Logik des Redens über Neid beziehen. Auf der anderen Seite geht der Neid, wenn man ihn in den Innenraum von Subjekten verlegt, immer mit der Feststellung von etwas einher, was man eine „Verdinglichung der Seele“ nennen könnte. Das heißt also, dass der Neid, und zwar über verschiedene Epochen hinweg, eine ökonomisierende Schlagseite hat und deswegen schon in der elementaren psychischen Ausstattung ein komplexes Relationsgefüge ist, das man folgendermaßen beschreiben kann: Im Neid wird erstens ein Verhältnis zu anderen hergestellt, das gleichzeitig – zweitens – ein Selbstverhältnis definiert. Wobei sich dieses Verhältnis, Selbst- und Fremdverhältnis, zugleich und drittens auf eine weitere Angelegenheit bezieht, nämlich auf das, was man im wörtlichsten Sinn eine Eigen-schaft nennen könnte, also etwas Besitzförmiges, das den anderen gewissermaßen zugesprochen wird.

Mark Leckey, „The Ecstasy of Always Bursting Forth“, 2013

Mark Leckey, „The Ecstasy of Always Bursting Forth“, 2013

GRAW: … oder unterstellt wird.

VOGL: Genau. Man hat es mit einer Projektion zu tun: Mir fehlt, was andere haben. Und es kommt noch ein vierter Aspekt hinzu: dass nämlich dieses Selbst- und Fremdverhältnis, das sich auf fremde Eigenschaften oder Besitztümer bezieht, in einen Vergleichsrahmen gestellt wird – eine rechnende, messende Vernunft ist dabei im Spiel. Es handelt sich also um ein überaus komplexes Verhältnis von verschiedenen Relationen, sodass im Grunde, etwas zugespitzt formuliert, selbst im psychischen Reflex des Neides, in der Ausstattung eines psychischen Innenraums, bereits eine Art Sozialtheorie enthalten ist, die sich entfalten ließe.

GRAW: Der Neid ist also strukturell gesehen ein innerpsychischer und auf Gesellschaft bezogener relationaler Affekt. Du hast aber auch darauf angespielt, dass die Unterstellung – im Kulturbetrieb weit verbreitet –, der*die andere sei nur neidisch, ein Mittel sein kann, um die legitime Kritik der weniger Privilegierten abzuwehren. Zugleich denke ich, dass eine Gemeinsamkeit zwischen Neid und Ressentiment vielleicht in ihrem Vergleichsrahmen liegt – beide Affekte resultieren aus dem in der Wettbewerbsgesellschaft besonders ausgeprägten Vergleichs- und Relationszwang. Womöglich geht an Neid (und Ressentiment) in einer Wettbewerbsgesellschaft, die uns zu Vergleichswesen (Sighard Neckel) macht, kein Weg vorbei. Oder kann man sich auch zwanghaft mit den anderen vergleichen, ohne dabei in Ressentiment- und Neidgefühle zu verfallen?

VOGL: Den letzten Punkt möchte ich zunächst einmal zurückstellen – vielleicht kommen wir noch einmal darauf zu sprechen, was Bewertungslogiken auch in sozialen Gefügen anrichten können. Aber um zum Ressentiment zu kommen, würde ich gern eine Perspektive historischer Beobachtung einführen wollen. So kann man in einem ersten Schritt daran erinnern, dass man mit der Entstehung dessen, was man seit dem 17. und 18. Jahrhundert bürgerliche Gesellschaft oder vielleicht auch Marktgesellschaft nennt, eine Veränderung von Affektökonomien beobachtet. Affektökonomien zeichnen sich durch zirkulierende soziale Energien aus, die Individuen oder Subjekte in Bewegung setzen, beweglich machen, mobilisieren. Von frühen Sozialtheoretikern und Moralphilosophen wurde etwa festgestellt, dass ehemalige Wurzelsünden oder Hauptlaster – dazu gehört Geiz, dazu gehört der Neid, und dazu gehört auch die Verschwendung –, dass also all diese Dinge, einmal in Umlauf gesetzt, in ökonomischer Hinsicht durchaus produktiv sind. Das heißt: Mehr als bestimmte Tugenden entwickeln Laster bestimmte Listen und Kniffe, eine Cleverness, sich auf dem Markt zu bewegen. Und was jetzt das Ressentiment als einen spezifischen Begriff der Moralökonomie betrifft, ist es zumindest bemerkenswert, dass sich dieser Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formiert, natürlich bei Autoren wie Nietzsche, bei Autoren wie Tocqueville, später dann bei Werner Sombart oder Max Scheler, aber auch in einer sehr vorsichtigen Form schon bei Kierkegaard. Dieses Ressentiment wird zusammengebracht auf der einen Seite mit dem Entstehen des modernen Industrie- und Finanzkapitalismus und auf der anderen Seite mit dem, was man Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaften nennen könnte. Und vor diesem Hintergrund lag es nahe, die wirtschaftlichen Implikationen des Ressentiments weiter zu beobachten, das heißt: seine durch den Markt aktivierte Seite und seine aktivierende Seite für bestimmte Marktprozesse. Und wenn man nun vom Neid zum Ressentiment übergehen will, wobei die Übergänge von fast allen Autoren tatsächlich als fließend begriffen werden, dann könnte man sagen, dass der Neid als verdinglichende Seelenausstattung von Individuen ein atomistisches Sozialprinzip vorführt. Im Neid werden Individuen atomisiert, vereinzelt und in Serie geschaltet. Und meine Behauptung wäre nun, dass der Übertritt ins Ressentiment diese atomisierende Dimension des Neidreflexes gewissermaßen sozial organisiert. Mit der Frage des Ressentiments wird der Neid als psychische Innenausstattung zu einer sozialstrukturierenden Kraft und hat damit unmittelbar gesellschaftsbildende Funktion.

GRAW: Indem du die ökonomischen, sozialen und psychischen Bedingungen des Ressentiments aufzeigst, liest sich dein Buch stellenweise wie eine Rechtfertigung des Ressentiments. Anders formuliert: Du scheinst sehr viel Verständnis für das Ressentiment als einen strukturierenden Sozialaffekt aufzubringen, wenn du z. B. beschreibst, wie es aufgrund einer beobachteten oder empfundenen Kluft zwischen einer versprochenen Gleichheit der Rechte und faktischer Ungleichheit entsteht. Ist Ressentiment also auch ein legitimes Gefühl, wenn es genau aus dieser Kombination aus faktisch erlebten Ungleichheiten und theoretischen Gleichheitsansprüchen resultiert?

VOGL: Vielleicht darf ich hier vorsichtig widersprechen. Ich würde mit Nietzsche immer von der toxischen Dimension des Ressentiments sprechen, also von der giftigen Schlange, die dieses Ressentiment im Moralhaushalt darstellt. An einer Stelle habe ich das, was mit dem Ressentiment verbunden ist, als „konformistischen Aufruhr“ beschrieben, als etwas, das einen möglicherweise legitimen Beobachtungsraum erfasst, aber in eine Blockade der damit verbundenen politischen und sozialen Konsequenzen transformiert. Ein prominentes Beispiel wäre die Verschärfung des Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Gründerzeitkonjunkturen und der Gründerzeitkrisen. Dieser Antisemitismus, der sich auf das ‚jüdische Finanzkapital‘ bezog, führte eine Form kapitalistischer Selbstkritik vor, ohne die Struktur des Kapitalismus zu berühren, er stellte sich also gewissermaßen wie ein Paravent vor die Logik der Verhältnisse.

„Amalia Ulman: Performing for the Camera“, Tate Modern, London, 2016, Ausstellungsansicht / installation view

„Amalia Ulman: Performing for the Camera“, Tate Modern, London, 2016, Ausstellungsansicht / installation view

GRAW: Du hast beschrieben, wie das Ressentiment dazu neigt – und dies trifft natürlich auch auf den Antisemitismus zu –, dem Anderen eine imaginäre Fülle zu unterstellen. Man könnte jetzt vielleicht ergänzend hinzufügen, dass so eine dem Anderen unterstellte Fülle in einer Pandemie besonders gut gedeiht, weil man ihm hier kaum mehr begegnet, weil an die Stelle des Anderen, der vor einem sitzt, phantasmatische Vorstellungen über ihn treten. Das Ressentiment neigt zudem zur Personalisierung – statt gesellschaftliche Strukturen zu analysieren, fixiert es sich zur Entlastung auf Individuen, denen die Rolle einer zu zerstörenden „schlechten Brust“ (Melanie Klein) zugewiesen wird und die dann entsprechend mit destruktiven Kräften wie Hass und Diffamierung bedacht werden. Vielleicht bildet die Pandemie, die wir jetzt hinter uns lassen oder eben auch nicht, den idealen Humus für Ressentimententstehung?

VOGL: Das ist derzeit eine wohl noch offene Frage. Aber vielleicht lohnt es sich, den systematischen Ort in der Produktion des Ressentiments vor dem Hintergrund kapitalistischer Marktdynamiken noch einmal zu beschreiben. Diese Marktdynamiken bestehen im Wesentlichen darin, Knappheitsverhältnisse zu produzieren: Die Produktion von Knappheit ist die Bedingung für die Dynamik dieses Marktes. Man kann deshalb guten Gewissens behaupten, dass sich die Subjekte, die sich auf diesen Märkten bewegen, zwangsläufig immer darauf berufen können, dass ihnen irgendjemand etwas weggeschnappt hat. Dass es also immer schon jemanden gibt, den man mit dem Phantasma des Genießens ausstatten kann. Das Genießen ist im Anderen, und das, was mir fehlt, ist im Überschuss am Ort des Anderen ausgelagert. Das ist sozusagen die Urszene der Ressentimentbildung. Und ich würde an dem Punkt eben auch mit Nietzsche sagen wollen, dass die List des Ressentiments darin besteht, dass es mit unklaren Kausalitätsfragen, unklaren Fragen der Verursachung, nicht zurechtkommt. Es muss jemand daran schuld sein, dass es mir dreckig geht. Und an dieser Stelle, und das ist gewissermaßen die dämonische Seite des Ressentiments, gibt es eine Konkretionssucht nach Personalisierung, nach der Benennung von Schuldigen. Diese Stelle kann unterschiedlich besetzt werden, und ich glaube, in der Geschichte des Ressentiments kann man unterschiedliche Dramen dieser Besetzung identifizieren, wenn man nur genauer hinsieht. An dieser Stelle werden das Ressentiment und die ressentimentale Vernunft zu etwas, was sich mit der beschränkten Einsicht in die Logik der Verhältnisse begnügt. Das Ressentiment ist ein Aufruf zur intellektuellen Selbstgenügsamkeit, an dieser Stelle nicht weiter zu fragen und stattdessen eine Vollstreckungslust zu entfachen, eine gewisse Straffreudigkeit, einen gewissen Punitivismus, das heißt die Erledigung eines Sachverhalts durch die Sanktion von Personen. Das ist jetzt sehr abstrakt beschrieben, aber vielleicht fasst es ein bisschen die innere Dramatik des Ressentiments als etwas, das soziale Felder strukturiert und produziert.

GRAW: Du beschreibst in deinem Buch auch, dass die im Ressentiment gärende Kritik stets den polizeilichen Weg nimmt: Sie sucht sich also diese konkreten Ersatzobjekte, die irgendwie haftbar gemacht werden können, und daraus resultiert – so endet dein Buch, sehr düster, wie ich fand – eine Art Gemeinschaftsgefühl, dass du durch die Feindseligkeit aller gegen alle charakterisierst. Diesen Befund könnte man durchaus für soziale Medien erheben: Sobald sich hier jemand nur in irgendeiner Form hervortut, besteht die Gefahr, dass alle sich feindselig darauf kaprizieren und sich entlasten, indem sie auf diese Figur einschlagen. Ich denke aber, dass dieser Hang zum feindseligen Niedermachen nicht für alle gilt, weil sich viele dies existenziell gar nicht leisten können. Viele sind offline tätig, damit andere online tätig sein können. Was ist eigentlich mit all denen?

VOGL: Also vielleicht eine Sache vorweg und eine Sache zur Erklärung. Ich würde jetzt, um ein möglichst plakatives Beispiel mit einem möglichst plakativen Ausdruck zu benennen, so etwas wie den Klassenkampf nicht als ressentimentale Bewegung begreifen. Deswegen habe ich sehr vorsichtig formuliert und gesagt, es muss für das Ressentiment ökonomische Erklärungsgründe geben, die nicht in der ökonomischen Ungleichheit liegen. Das heißt also: Ökonomische Benachteiligung kann, wenn man so will, Empörung produzieren. Diese Empörung würde ich aber nicht mit dem Begriff des Ressentiments beschreiben.

GRAW: Ja, der Gestus der Empörung ist seit Zolas „J’accuse“ ein legitimer politischer Ausdruck

VOGL: Und der zweite Punkt, der diese Feindseligkeit aller gegen alle betrifft, ist ein verkapptes Zitat, mit dem ich mich gewissermaßen rückversichert habe. Es handelt sich um ein Zitat aus dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil und bezieht sich auf die Beschreibung Kakaniens, das heißt einer Gesellschaft, die sich aus der Perspektive des Romans und aus der Perspektive des Erzählers im Vorkriegsjahr 1913 befindet, und an einer entscheidenden Stelle schreibt dieser Erzähler ungefähr Folgendes: Es sei gut möglich, dass hier in Kakanien die Abneigung aller gegen alle zu einem „neuen Gemeinschaftsgefühl“ geworden ist. Und so kam die Frage nach der Vorkriegszeit ins Spiel, und damit ist natürlich die offene Frage verbunden, inwieweit bestimmte Kommunikationsformen, die für mich jetzt auch in meinem Buch eine Rolle spielten, einen radikal desolidarisierenden Charakter besitzen. Selbst wenn Partikularidentitäten ausgebildet werden, selbst wenn es Community Feedback Loops gibt, stellt sich die Frage, inwieweit die Produktion sozialer Schismen zu einer Logik dieser kommunikationsheckenden Kommunikation gehört und damit etwas herstellt, was die Feindseligkeit als neues Sozialisierungsprinzip vorführt, das eben, nebenbei gesagt, durchaus keine Probleme damit hat, sich mit Konkurrenzverhältnissen zu verschwistern oder zu verbrüdern.

GRAW: Wenn wir es also mit diesen neuen Kommunikationsformen zu tun haben, die Entsolidarisierung und Feindseligkeit implizieren, wie schafft man es auch unter den Bedingungen einer Pandemie, wo sich das Gros der Kulturarbeiter*innen tendenziell nur noch online aufhält, sich von diesen entsolidarisierenden Feinseligkeitsgefühlen nicht mitziehen zu lassen? Plädierst du unter diesen Umständen vielleicht für so etwas wie Netzabstinenz oder für Strategien der Entnetzung, wie sie Urs Stäheli vorgeschlagen hat?

VOGL: Ja, warum nicht Strategien der Entnetzung?! Eine der radikalsten Formen war wohl der Generalstreik bei Walter Benjamin, die Bestreikung aller Funktionsabläufe. Und etwas vorsichtiger könnte man danach fragen, an welchen Schaltstellen sich solche Entnetzungsstrategien bereits abzeichnen. Ein eher kanonischer Zugang liegt wohl auf dem Gebiet des Rechts und der Gesetzgebung. Es ist doch einigermaßen überraschend, dass seit dem letzten Jahr eine so liberale Institution wie die Europäische Kommission verschiedene Gesetzesvorschläge der Entnetzung vorgelegt hat, die durchaus radikalen Charakter gewinnen könnten, mit offenem Ausgang. Dabei geht es etwa um die Frage einer europäischen Datensouveränität, um die Verwaltung des Netzes durch eine neutrale Treuhandgesellschaft, um die Verhinderung von Datenextraktion, um die Beschränkung von Haftungsprivilegien für Internetkonzerne, um die Zerschlagung von Monopolen usw. Dabei wird wohl eine Kampflinie sichtbar, in der es sich um die Verteidigung demokratischer Rechtstaatlichkeit handelt. Andere Interventionsmöglichkeiten wurden von Expert*innen der Informations- und Digitalbranche vorgebracht. Dabei geht es um technische Eingriffe zur Unterbrechung positiver Rückkopplungseffekte, um eine Entzerrung von Reiz-Reaktions-Ketten, um die Einrichtung von Abklingbecken, das Dazwischenschalten von Störquellen oder die Erhöhung von Hintergrundrauschen … Und die verschiedensten Versuche sollten sich in einem Anliegen treffen: die maschinelle, soziale und ökonomische Triebstruktur der Plattformindustrie zu blockieren.