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Cynthia Cruz

TRAUER UND MELANCHOLIE DER ARBEITER*INNENKLASSE

Barbara Loden, „Wanda“, 1970, Filmstill

Barbara Loden, „Wanda“, 1970, Filmstill

Im hegemonialen öffentlichen Diskurs existiert das proletarische Subjekt, mehr noch die Arbeiter*innenklasse, meist nur im Modus der Abwertung und Beleidigung: Diffamierende Begriffe wie „white trash“, „welfare queen“ oder „Unterschichtenfernsehen“ adressieren die Arbeiter*innenklasse rein negativ und wirken somit aktiv gegen das Selbstbewusstsein einer sozialen Klasse, der die Überzeugungen und Werte der Bourgeoisie durch Gewöhnung meist ohnehin zur zweiten Natur geworden sind. Diese Diagnose vom Verlust eines Klassenbewusstseins des proletarischen Subjekts nimmt die Schriftstellerin Cynthia Cruz zum Anlass für ihre an der Schnittstelle von Kapitalismuskritik und Psychoanalyse angesiedelte Untersuchung: So sehr Melancholie als spezifische Form der Trauer der Arbeiter*innenklasse anerkannt werden müsse, so sehr könne deren Organisation als Klasse zugleich Wege aus der bürgerlichen Gesellschaft aufzeigen, so Cruz.

Wir waren Abschaum, Abfall, Müll, der nicht ins System gepasst hat. – Monte in Claire Denis’ Film High Life

Im Jahr 2019 begann ich mit der Arbeit an einem Text, aus dem später The Melancholia of Class: A ­Manifesto for the Working Class werden sollte. Der Anstoß zu diesem Projekt war ein augenscheinliches Paradox: Ich fragte mich, wie es möglich war, dass die heutige kapitalistische Gesellschaft darauf beharrt, dass es keine Arbeiter*innenklasse gibt, während dieses scheinbar inexistente Subjekt, die Arbeiter*innenklasse, von derselben Gesellschaft verteufelt wird, die seine Existenz leugnet. [1] Gleichzeitig verstand ich Melancholie als ein Symptom des proletarischen Subjekts. Nach Freud tritt Melancholie dort auf, wo die Melancholiker*in den Verlust eines Objekts erlebt, das ihr unbekannt bleibt. Infolgedessen ist es der* dem Betroffenen unmöglich, den Verlust des verlorenen Objekts zu betrauern. Ich erkannte diese Symptomatik im proletarischen Subjekt und bestimmte diesen Verlust als den Verlust seiner Subjekthaftigkeit als Arbeiter*in. In meinem Buch untersuchte ich die Lebenswege von Autor*innen, Musiker*innen und Filmemacher*innen aus der Arbeiter*innenklasse, deren Werk von diesem Affekt durchdrungen ist. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel besteht aufgrund der Tatsache, dass der Begriff der sozialen Klasse aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden ist, ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens, wonach soziale Klassen – und damit die Arbeiter*innenklasse – der Vergangenheit angehören. Wir sind alle eine Klasse, so das aktuelle Credo, und wenn eine*r von uns nicht fähig ist zu überleben, so ist dies Scheitern ein Anzeichen unserer eigenen Faulheit. Es war meine Hoffnung, mit dem Buch eine Art von Sprechakt zu vollziehen, durch den die Arbeiter*innenklasse sich selbst erkennen konnte, was zu einer Art von massenhaftem Klassenbewusstsein führen würde. In diesem Essay möchte ich den Begriff der Melancholie in Bezug auf die Arbeiter*innenklasse näher beleuchten und dabei untersuchen, inwiefern dieser Zustand ein Potenzial auf Befreiung birgt.

Das proletarische Subjekt ist vom Moment seiner Geburt bis zu seinem letzten Atemzug von der kapitalistischen Gesellschaft umgeben, einer Gesellschaft, die von der Bourgeoisie geschaffen wurde. Durch Erziehung, diverse Medien, die Familie usw. werden die Überzeugungen und Werte der bürgerlichen Klasse dem proletarischen Subjekt eingeprägt und durch Gewöhnung zur zweiten Natur. Mit anderen Worten: Wir sind uns der Anwesenheit kapitalistischer Ideologie nicht bewusst. Tatsächlich ist das, was wir als unsere privateste, innere Stimme bezeichnen mögen, der Un-Ton unseres eigenen Denkens, in Wirklichkeit nichts anderes als eine Verinnerlichung dieser äußeren Stimme. [2] Im Bann des Kapitals und seiner verinnerlichten magnetischen Stimme verliert das proletarische Subjekt die Fähigkeit, seine darunter subsumierte eigene Stimme zu erkennen. Ideologie, wie Althusser schreibt, „repräsentiert das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“. [3] Sie ist ein Traumzustand, der in das Subjekt eingeprägt wird. Dieser Prozess der „Interpellation“ oder Anrufung ist alles, was es braucht, um Subjekte dazu zu bringen, „ganz von alleine [zu] funktionieren“. Solche Einprägung eines falschen Bewusstseins resultiert in einem proletarischen Subjekt, das sich seines Subjektseins als Arbeiter*innenklasse nicht bewusst und vollständig auf die Ideologie der Bourgeoisie ausgerichtet ist. Nachdem es diese Überzeugungen, die nicht seine eigenen sind, verinnerlicht hat, lebt das proletarische Subjekt in einem Traumzustand, ohne um sein Unwissen zu wissen. Wenn das proletarische Subjekt die Existenz sozialer Klassen und damit seine eigene Subjekthaftigkeit „vergisst“, wird diese Wahrheit ins Unbewusste verdrängt. Doch nur weil sie verdrängt wird, verschwindet sie nicht, auch wenn sie nicht länger im Bewusstsein existiert. Vielmehr kehrt sie in Form von Träumen, Symptomen, Fehlleistungen oder Freud’schen Versprechern an die Oberfläche zurück.

Um zu überleben, muss sich das proletarische Subjekt der kapitalistischen Gesellschaft anpassen (z. B. muss es arbeiten, um sich und seine Familie zu erhalten). Es gibt einen Punkt, an dem das proletarische Subjekt sein Bündnis mit der Arbeiter*innenklasse aufgibt, und es ist genau dieser kritische Punkt, an dem das proletarische Subjekt vollends in der kapitalistischen Gesellschaft aufgeht. In den meisten Fällen kommt es nie zu einem solchen Bruch oder besser gesagt, das proletarische Subjekt ist sich dessen nicht bewusst. Weil die kapitalistische Gesellschaft darauf beharrt, dass es keine sozialen Klassen und somit kein proletarisches Subjekt gibt, wissen viele Arbeiter*innen gar nicht, dass sie der Arbeiter*innenklasse angehören. Gleichgültig, ob dieser Bruch ins Bewusstsein rückt oder nicht, kann das Verlorengegangene – das Subjektsein der Arbeiter*innenklasse – nicht betrauert werden, da es nach gesellschaftlichem Dafürhalten nie existiert hat. Was ich hier beschreibe, ist ein symbolischer Tod. Die Arbeiter*innenklasse existiert, doch das proletarische Subjekt ist aus dem gesellschaftlichen Diskurs getilgt worden.

Das war natürlich nicht immer der Fall. In den Vereinigten Staaten etwa haben die Kürzung von Sozialprogrammen und die Lockerung der Finanzmarktregulierung in den 1970er Jahren zusammen mit der Normalisierung eines leistungsgesellschaftlichen Ideals zur Auslöschung des Begriffs der sozialen Klasse und damit der Arbeiter*innenklasse geführt. Auch in Deutschland wird der Begriff vermieden, wie Michael Heinrich feststellt, und durch schwammige Ausdrücke ersetzt, die dazu dienen, die Klassenfrage vollends zu verschleiern. [4] Aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden, sieht sich das proletarische Subjekt in einen außersprachlichen Bereich verwiesen, das heißt, in die Ordnung des Realen als etwas, das nicht durch Sprache artikuliert werden kann, das unfassbar, jenseits unseres Begriffsvermögens bleibt.

Ariane Müller, „Other Places (silk dress)“, 2019

Ariane Müller, „Other Places (silk dress)“, 2019

Ich begann mein Projekt mit einer Betrachtung der Freud’schen Melancholie, die ich als Symptom des proletarischen Subjekts der Gegenwart diagnostiziert hatte. In seinem wegweisenden Essay „Trauer und Melancholie“ vergleicht Freud zwei Begriffe. „Trauer“, so schreibt er, „ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ [5] Für manche tritt Melancholie an die Stelle von Trauer. Sie wird von Freud folgendermaßen beschrieben:

„Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert. Dies Bild wird unserem Verständnis näher gerückt, wenn wir erwägen, daß die Trauer dieselben Züge aufweist, bis auf einen einzigen; die Störung des Selbstgefühls fällt bei ihr weg. Sonst aber ist es dasselbe.“ [6]

In der Trauer wird der*die Betroffene zwangsläufig mit der Realität konfrontiert, dass die geliebte Person oder der geliebte Gegenstand nicht länger da ist, und er*sie muss nun seine*ihre ganze Energie auf dieses verlorene Objekt richten. Das ist die Arbeit der Trauer: sich vom alltäglichen Leben abzuwenden, um sich der notwendigen Aufgabe zu widmen, diesen Verlust zu verarbeiten. Diese Arbeit bedeutet, sich jeder einzelnen mit dem verlorenen Liebesobjekt verbundenen Erinnerung und Erwartung anzunehmen. Dies wiederum erfordert die allmähliche Loslösung dieser Erinnerungen und Erwartungen von der Libido des*der Betroffenen. Eine solche Arbeit braucht Zeit und Unmengen an Energie. Einmal vollbracht, ist die Trauerarbeit jedoch tatsächlich abgeschlossen: Die mit der Trauer verbundenen Symptome lassen nach, und das Subjekt kann sich ganz seinem Leben zuwenden. Der*die Trauernde ist in der Lage, seinen*ihren Kummer zu verarbeiten, weil er*sie weiß, was er*sie verloren hat. Im Fall der Melancholie hingegen bleibt unklar, wer oder was verloren gegangen ist, wie Freud ausführt:

„In noch anderen Fällen glaubt man an der Annahme eines solchen Verlustes festhalten zu sollen, aber man kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und darf um so eher annehmen, daß auch der Kranke nicht bewußt erfassen kann, was er verloren hat. Ja, dieser Fall könnte auch dann noch vorliegen, wenn der die Melancholie veranlassende Verlust dem Kranken bekannt ist, indem er zwar weiß wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat. So würde uns nahe gelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewußt ist.“ [7]

Freud schreibt, dass Melancholie und Trauer dieselbe Symptomatik aufweisen, mit einem Unterschied: Die Herabsetzung des Selbstgefühls tritt nur im Fall der Melancholie auf. „In der Trauer betrauern wir die Toten“, wie der Lacanianische Psychoanalytiker Darian Leader schreibt, „in der Melancholie sterben wir mit ihnen.“ [8] Die Finsternis, die beiden innewohnt, wird verarbeitet und ausgestoßen, sobald der*die Trauernde den Trauerprozess abgeschlossen hat. Für die Melancholiker*in indes lässt die Finsternis nicht nach. Vielmehr kontaminiert sie das Innere des Subjekts, wie Freud schreibt:

„Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst. Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich, er macht sich Vorwürfe, beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe. Er erniedrigt sich vor jedem anderen, bedauert jeden der Seinigen, daß er an seine so unwürdige Person gebunden sei. […] Das Bild dieses – vorwiegend moralischen – Kleinheitswahnes vervollständigt sich durch Schlaflosigkeit, Ablehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt.“ [9]

Es ist das Ich, zu dem das Subjekt in eine antagonistische Beziehung tritt. Tatsächlich hat sich der Hass des Subjekts in Bezug auf das verlorene Objekt auf das Ich des Subjekts übertragen. In der Melancholie besteht ein Überschuss, der in der Trauer fehlt und den Freud als eine „Ambivalenz“ gegenüber dem verlorenen Liebesobjekt beschreibt:

„Ebendort [im Unbewussten] spielen sich auch die Lösungsversuche bei der Trauer ab, aber bei dieser letzteren besteht kein Hindernis dagegen, daß sich diese Vorgänge auf dem normalen Wege […] fortsetzen. Dieser Weg ist für die melancholische Arbeit gesperrt, vielleicht infolge einer Mehrzahl von Ursachen oder des Zusammenwirkens derselben. Die konstitutive Ambivalenz gehört an und für sich dem Verdrängten an, die traumatischen Erlebnisse mit dem Objekt mögen anderes Verdrängte aktiviert haben. So bleibt alles an diesen Ambivalenzkämpfen dem Bewußtsein entzogen, bis nicht der für die Melancholie charakteristische Ausgang eingetreten ist.“ [10]

Gustave Courbet, „Les Cribleuses de blé / The Wheat Sifters“, 1854

Gustave Courbet, „Les Cribleuses de blé / The Wheat Sifters“, 1854

In Bezug auf das proletarische Subjekt kann die Ambivalenz, die Freud der Melancholie zuschreibt, als eine Ambivalenz gegenüber der eigenen sozialen Klasse verstanden werden. Nachdem es diese Ambivalenz gegenüber der Arbeiter*innenklasse verinnerlicht hat, sieht sich das proletarische Subjekt mit einem affektiven Paradox konfrontiert. Was es verloren hat, bleibt unbekannt, und doch macht dieser unbekannte Verlust das proletarische Subjekt befangen: melancholisch. Mit der Einprägung dieser Ambivalenz gegenüber seiner eigenen Klasse beginnt es, durch die Macht der Gewohnheit genau jenen Gegenstand zu hassen, dessen Verlust ihm verborgen bleibt. Die Melancholiker*in findet sich immer tiefer in der Klemme, eingeklemmt zwischen zwei Welten, der Vergangenheit (in der das verlorene Objekt existiert) und der Gegenwart (in der er*sie keinen Zugang zum Liebesobjekt hat). In diesem liminalen, toten Raum befindet sich die Melancholiker*in in einem Zombie-artigen Zustand. Barbara Loden beschreibt ihr Leben vor ihrem Film Wanda so: „Ich glich einer lebenden Toten. Ich habe lange Zeit wie ein Zombie gelebt.“ Nachdem das proletarische Subjekt die kapitalistische Ideologie verinnerlicht hat, wird es tiefer in den falschen Glauben getrieben, alle könnten Kapitalist*innen werden, wenn sie nur härter arbeiten (länger arbeiten, mehr Jobs verrichten, mehr Geld sparen) würden.

Dem melancholischen proletarischen Subjekt, das sich seiner sozialen Klasse nicht bewusst ist, bleibt das verlorene Objekt unbewusst. Ja, es ist sich dessen unbewusst, überhaupt etwas verloren zu haben. Dieser Zustand des Nichtwissens oder Vergessens ist die Folge von Verdrängung sowie dessen, was Hegel „Gewohnheit“ nennt, jener Praxis der Wiederholung, die als bewusste Entscheidung beginnt, im Ergebnis aber als ein Aspekt des alltäglichen Daseins sublimiert wird. Nachdem etwas zur Gewohnheit geworden ist – zum Beispiel Fahrradfahren –, gerät diese neue Verhaltensweise oder Praxis zur zweiten Natur. Was zunächst seltsam erscheint und womöglich als Schock empfunden wird – eine Aufgabe, die eine Reihe ungleichartiger Bewegungen verlangt, von denen jede für sich mentale Konzentration erfordert –, wird schließlich in gewisser Weise zu gar nichts: völlig natürlich, unbemerkbar. In seiner Philosophie des Geistes postuliert Hegel die Gewohnheit als ein Mittel zur Behandlung von „Verrücktheit“, das heißt, als Mittel zur Befreiung des Subjekts von seiner Fixierung auf eine besondere Vorstellung.

„Dies Bei-sich-selber-sein nennen wir die Gewohnheit. In dieser hat die nicht mehr an eine nur subjektive besondere Vorstellung gebannte und durch dieselbe aus dem Mittelpunkt ihrer konkreten Wirklichkeit herausgerückte Seele den an sie gekommenen unmittelbaren und vereinzelten Inhalt in ihre Idealität so vollständig aufgenommen und sich in ihn so völlig eingewohnt, daß sie sich in ihm mit Freiheit bewegt.“ [11]

Obwohl Gewohnheit dem Subjekt Freiheit gewährt, kann sie aufgrund ihrer abstumpfenden Eigenschaft ebenso dazu führen, dass sich das Subjekt seines gewohnheitsmäßigen Handelns nicht länger bewusst ist. Wie Žižek erläutert, „verändert sich der Status der Gewohnheit von einer organischen inneren Regel zu etwas Mechanischem, dem Gegenteil menschlicher Freiheit: Freiheit kann niemals gewohnheitsmäßig werden; wenn sie zur Gewohnheit wird, ist sie keine wahre Freiheit mehr.“ [12] Durch Gewöhnung handeln wir, ohne über unser Handeln oder die Beweggründe dafür nachzudenken. In Gewohnheit wissen wir nicht länger, was wir tun. Es ist, als ob unser Machen uns macht. Und dieses mechanische Verhalten – unproblematisch, wenn wir Auto oder Fahrrad fahren – wird zu etwas ganz Anderem, ja, Unheilvollem, das dem Tod gefährlich nahekommt. Hegel schreibt: „Obgleich daher der Mensch durch die Gewohnheit einerseits frei wird, so macht ihn dieselbe doch andererseits zu ihrem Sklaven.“ [13] In Bezug auf das proletarische Subjekt kann Gewohnheit zu einem Vergessen der kapitalistischen Wirklichkeit führen. Wenn etwa das proletarische Subjekt tagein tagaus, um sein Überleben zu sichern, einer Arbeit nachgeht, die seinen Geist und Körper ruiniert, so wird diese Handlung durch Gewöhnung zu einem schieren Nichts. Ausbeutung wird zur Gewohnheit, zur zweiten Natur. Wir haben es also mit einem proletarischen Subjekt zu tun, das nicht weiß, dass es der Arbeiter*innenklasse angehört und darum den Verlust seiner Subjekthaftigkeit nicht betrauern kann.

Hegels Aufstellung der verschiedenen Formen von „Verrücktheit“ in seiner Philosophie des Geistes beinhaltet die Melancholie, die er beschreibt als „dies nicht zur Lebendigkeit des Denkens und des Handelns kommende beständige Hinbrüten des Geistes über seiner unglücklichen Vorstellung“ [14] . Der Widerspruch, in dem die*der Melancholiker*in sich wiederfindet, zugleich dem verlorenen Objekt verhaftet und in einem Traumzustand gefangen, entspricht genau Hegels Definition von Verrücktheit. Indem das Subjekt sich gestattet, derselben besonderen Vorstellung verhaftet zu bleiben, wird es aus seinem verständigen Bewusstsein zurück in seinen vormaligen Zustand der Abstraktion getrieben. Wenn das Subjekt in seine Abstraktion zurückfällt, sinkt es in das zurück, was Hegel die Nacht der Welt nennt:

„Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies [ist] die Nacht, das Innere der [menschlichen] Natur, das hier existiert – reines Selbst.“ [15]

Zugleich, schreibt Hegel, befindet sich das Subjekt „im Widerspruch seiner in seinem Bewußtsein systematisierten Totalität, und der besonderen in derselben nicht flüssigen und nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit“ [16] . Die Präposition „in“ ist entscheidend in diesem Satz, denn sie suggeriert, dass das Subjekt sich innerhalb des Widerspruchs befindet, nicht lediglich in Opposition zu ihm. Zudem steckt das melancholische proletarische Subjekt, nachdem es seine proletarische Subjekthaftigkeit verloren hat, zwischen Vergangenheit und Gegenwart fest.

Viele der Subjekte, die ich in The Melancholia of Class untersuchte, beteiligten sich an Handlungen negativer Freiheit, wie zum Beispiel exzessivem Alkohol- oder Drogenkonsum, oder indem sie sich von der Gesellschaft abwendeten. Der Begriff der negativen Freiheit stammt aus dem deutschen Idealismus; in seiner einfachsten Gestalt bezeichnet er die Fähigkeit, zu allem, was außerhalb des Selbst liegt, Nein zu sagen und sich in das Selbst zurückzuziehen. Hegel schreibt über negative Freiheit:

„Der Mensch kann von allem Inhalt abstrahieren, sich davon frei machen, welcher er auch sei in meiner Vorstellung kann ich ihn fallen lassen, ich kann mich ganz leer machen. […] Der Mensch hat das Selbstbewusstsein allen Inhalt aufnehmen zu können, ebenso kann er alles fallen lassen, alle Bande der Freundschaft, Liebe, welche es auch seien, er kann sie fallen lassen.“ [17]

Obwohl solche Akte der negativen Freiheit oft selbstzerstörerisch sind und manchmal sogar zum Tod führen, können sie eine vorübergehende Flucht aus der kapitalistischen Realität ermöglichen. Und obschon solches Handeln passiv erscheinen mag, als irrationaler Akt der Selbstzerstörung, so kann es doch auch als versuchter Widerstand begriffen werden. Darüber hinaus sind solche Handlungen oft unbewusst. Wenn zum Beispiel Anita G., die Protagonistin aus Alexander Kluges Film Abschied von Gestern, die Strickweste einer Arbeitskollegin stiehlt, besteht sie darauf, ihr Handeln sei instinktiv gewesen. „Es war alles ganz gefühlsmäßig“, sagt sie zum Richter. Indem das proletarische Subjekt im Sinne negativer Freiheit handelt, zerstört es jede Möglichkeit der Rehabilitierung und besiegelt so sein Schicksal. Die bloße Handlung allein ist also ein Mittel, die äußerste Grenze dessen zu markieren, was das proletarische Subjekt zu tolerieren bereit ist. Wenn es einen Akt negativer Freiheit begeht, fällt es zurück in sein Inneres, seine Verrücktheit. Es sieht sich daher mit einem Paradox konfrontiert: Entweder das proletarische Subjekt fällt in seinen inneren Traumzustand (Verrücktheit) zurück, oder es passt sich dem Traumzustand des Kapitalismus (Verrücktheit) an.

Alexander Kluge, „Abschied von gestern / Yesterday Girl“, 1966, Filmstill

Alexander Kluge, „Abschied von gestern / Yesterday Girl“, 1966, Filmstill

Im Übrigen existiert das proletarische Subjekt sowohl innerhalb wie außerhalb der Gesellschaft, ist es ein „Element, für das es keinen angemessenen Platz in der Struktur gibt“, wie Žižek schreibt. [18] Und in der Tat ist das proletarische Subjekt ein Nichts: Es hat nichts als seine eigene Arbeitskraft (im Gegensatz zur Kapitalist*in, die Rente, Profit oder Lohn hat). An den Rand gedrängt und symbolisch tot, ist das proletarische Subjekt zugleich integraler Bestandteil des Kapitalismus, ja, dessen Symptom. Wenn das proletarische Subjekt, das nichts ist, sich von der bürgerlichen Gesellschaft abwendet (sich somit „taub“ [19] stellt, sodass es die kapitalistische Ideologie nicht länger hören kann) und dabei sein Subjektsein als Angehörige*r der Arbeiter*innenklasse erkennt, dann kann es passieren, dass dieses „Nichts“ zu einer unüberwindbaren Festgefahrenheit wird; einer Festgefahrenheit mit dem Potenzial, den unaufhörlichen Strom des kapitalistischen Traums zu blockieren. Sofern es organisiert ist, ist das proletarische Subjekt nichts als seine Klasse (das Proletariat). Und doch ist es das proletarische Subjekt, das Proletariat, welches das Potenzial zur Befreiung in sich trägt. Ohne Organisation, ohne das Nichts anderer proletarischer Subjekte, bleibt dieses Potenzial bloßes Potenzial: Nur im Verbund mit anderen kann die volle Möglichkeit dieses Nichts realisiert werden. Durch seine Auflösung in Nichts (in die Anonymität einer gemeinsamen sozialen Klasse) eignet dem proletarischen Subjekt das Potenzial, den Traumzustand des Kapitalismus zu durchbrechen, wie Terry Eagleton schreibt:

„Indem sie zu nichts als dem Abschaum und Abfall der Polis werden – zum ‚Dreck der Erde‘, wie der heilige Paulus die Gefolgschaft Jesu so gewagt beschreibt, oder der ‚totale Verlust von Menschlichkeit‘, als den Marx das Proletariat charakterisiert – […] Nur diejenigen, die in den Augen des aktuellen Machtsystems für nichts gelten, stehen hinreichend schief zu diesem, um eine radikal neue Ordnung einzuleiten.“ [20]

Ausgeschlossen von der bürgerlichen Gesellschaft und auf eine Form von „Nichtigkeit“ reduziert, eignet dem proletarischen Subjekt das Potenzial zur Befreiung vermöge der Verwirklichung dieses „Nichts“. Indem es zu Klassenbewusstsein kommt und somit sein verlorenes Objekt wiederfindet, verlässt das proletarische Subjekt den Zustand der Melancholie. Es existiert nun in einer verkehrten Melancholie: Wo das proletarische Subjekt zuvor der Besonderheit seines verlorenen Objekts verhaftet war, hält es nunmehr an der Besonderheit des Klassenkampfs fest.

Hegel zufolge durchleben wir, wenn wir mit großen Umwälzungen oder Veränderungen konfrontiert sind, einen Moment der Instabilität, in dem wir nicht länger sind, wer wir waren, und doch noch nicht verändert. In diesem Moment sind wir wesenlos. In einem gewissen Sinn also sind wir in diesem distinkten Moment nichts. Hegel beruft sich auf die Französische Revolution als Beispiel für eine solche äußere Umwälzung. Eine derartige Unterbrechung der zeitlichen Wahrnehmung, die in einem Gefühl von Instabilität resultiert, „ver-rückt“ die Welt des Subjekts – Hegel beschreibt dies als „eine Verrückung der individuellen Welt eines Menschen“. Das Wort Verrückung suggeriert hierbei zugleich Wahnsinn und eine Entstellung der Welt des*der Einzelnen. Das proletarische Subjekt, das in der besonderen Bestimmtheit der Befreiung ebenso feststeckt wie im Strom, ist daher verrückt und entstellt. Diese Kombination von Wahn und Entstellung deutet auf eine Kraft, die das Potenzial hat, in den unaufhörlichen Strom des Kapitalismus einzugreifen. Gleichzeitig ist das proletarische Subjekt eine Serie von Stillständen. Wenn es sich von der bürgerlichen Gesellschaft abwendet, seinem inhärenten Nichts zukehrt und demnach so handelt, als ob jene Regeln nicht mehr gelten (indem es Politik über Ökonomie stellt), hat das proletarische Subjekt das Potenzial, den Kapitalismus zu blockieren und damit zu unterbrechen und zu zerstören.

Übersetzung: Nikolaus Perneczky

Cynthia Cruz ist Doktorandin an der European Graduate School, wo sich ihre Dissertationsarbeit auf Hegels Konzept der Verrücktheit und die Möglichkeit der Emanzipation konzentriert. Sie ist Autorin von The Melancholia of Class: A Manifesto for the Working Class und Disquieting: Essays on Silence. Derzeit arbeitet sie an einem Buch, das sich mit negativer Freiheit und der Arbeiter*innenklasse befasst.

Image credits: 1. © Janus Film; 2. Courtesy of the artist and Schiefe Zähne, Berlin; 3. Musée des Beaux-Arts, Nantes, public domain; 4. © Kairos Film

Anmerkungen

[1]Wenn ich von der Arbeiter*innenklasse spreche, dann beziehe ich mich dabei auf Marx’ Definition, insbesondere im Kommunistischen Manifest: „In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“ Karl Marx/Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1977, S. 459–493, hier: S. 468.
[2]Louis Althusser, Über die Reproduktion, übersetzt und hg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2012, S. 223.
[3]Ebd., S. 256.
[4]Michael Heinrich, Kritik der Politischen Ökonomie: Eine Einführung, Stuttgart 2004.
[5]Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, London 1946, S. 428–446, hier: S. 428f.
[6]Ebd., S. 429.
[7]Ebd., S. 431.
[8]Darian Leader, The New Black: Mourning, Melancholia, and Depression, Minneapolis 2008, S. 8.
[9]Freud, S. 431f.
[10]Ebd., S. 444.
[11]Hegel, Werke, Bd. 17, Berlin 1845, S. 234f.
[12]Slavoj Žižek, „Discipline Between the Two Freedoms“, in Mythology, Madness and Laughter: Subjectivity in German Idealism, hg. von Markus Gabriel/Slavoj Žizek, London 2009, S. 99.
[13]Hegel Werke, S. 235.
[14]Ebd., S. 219.
[15]Hegel, Jenaer Systementwürfe: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, neu hg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987, S. 172.
[16]Ders., Werke, S. 199.
[17]Ders., Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Bd. 4, hg. von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart 1974, S. 111f.
[18]Slavoj Žižek, Disparities, London 2016, S. 27. (Übers. NP)
[19]Alain Badiou, Can Politics Be Thought?, übersetzt von Bruno Bosteels, Durham 2018, S. 93.
[20]Terry Eagleton, Trouble with Strangers: A Study of Ethics, Hoboken 2008, S. 186.