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PARANOIDE KOINZIDENZ Ulrich Loock über Vaclav Pozarek im Kunstverein Bielefeld

„Vaclav Pozarek: TUC“, Kunstverein Bielefeld, 2021, Ausstellungsansicht

„Vaclav Pozarek: TUC“, Kunstverein Bielefeld, 2021, Ausstellungsansicht

Kunst der Verknüpfung. Beeinflusst von der konkreten Kunst und ihrer Erforschung geometrischer Gesetzmäßigkeiten zeichnet sich das Werk des tschechisch-schweizerischen Künstlers Vaclav Pozarek durch eine materialreflexive Verbindung skulpturaler, zeichnerischer und fotografischer Methoden aus, die wahlweise um jene der Architektur, Grafik und Buchtypografie ergänzt werden. Für den Kunstverein Bielefeld hat Pozarek eine Objektgruppe von acht neuen skulpturalen Elementen geschaffen, die präzise auf die Architektur des Kunstvereins Bezug nehmen. Die an Beziehungswahn grenzende Umsetzung eines idiosynkratischen Ordnungsprinzips, die Pozareks Praxis bestimmt, lässt, wie der Kunsthistoriker Ulrich Loock herausarbeitet, eine perzeptuelle Verfassung chaotischer Unverbundenheit allererst zutage treten. So ist ein disparates Ensemble variierender Einzelheiten entstanden, das in einer die Ausstellung begleitenden Publikation seine Vollendung findet.

Es ist eher unerwartet und umso bemerkenswerter, dass der Bielefelder Kunstverein dem Schweizer Künstler Vaclav Pozarek (geboren 1940 in Budweis, Tschechien) eine Ausstellung widmet. Denn in seinem Leitbild verpflichtet sich der Kunstverein unter anderem, „qua Kunst die Herausforderungen und veränderten Bedingungen des Zusammenlebens zu reflektieren“ [1] , also die soziale und politische Repräsentation in den Vordergrund der ästhetischen Praxis zu rücken.

Entspricht Pozareks Ausstellung mit dem Titel „TUC – Turnstile Utter Chaos“ dieser Agenda? In einem Brief an den Autor vom April 2021 schreibt er: „Beides, schwierig, Judd und Schwitters auf einmal.“ Mit den beiden Namen verweist er auf widersprüchliche – miteinander aktivierte und kaum zu vereinende – Orientierungen seines Werkes: einerseits die Umsetzung von Selbstbezüglichkeit und Hermetik, für die das specific object von Donald Judd steht, und andererseits die von Kurt Schwitters beispielhaft praktizierte Übernahme von disparaten Elementen des Alltäglichen. Pozareks programmatischer Satz hätte auch schon vor 30 oder 40 Jahren auf sein Werk zugetroffen. Er steht für den grundlegenden Widerstand gegen die Vorstellung eines Programms für die eigene künstlerische Arbeit. Ein Programm meint buchstäblich eine „Vor-schrift“: eine Ziel- oder Leitvorstellung, eine übergeordnete Absicht, ein Bündel von Projekten mit inhaltlich zusammenhängenden Zielen. [2] Demgegenüber widersetzt sich das Werk Pozareks jeder Vorgabe für eine Mission.

Aus Anlass der Ausstellung hat der Kunstverein eine Publikation von Pozarek mit dem Titel Pair herausgegeben. Der Titel bezieht sich zweifellos auf den Einsatz der Doppelseiten des unpaginierten Heftes für eine paarige Anordnung der reproduzierten Bilder. Ohne weiteren Kommentar werden in Originalgröße Titelseiten der Zeitschrift der Smithsonian Institution aus den 1970er und 1980er Jahren abgebildet, die Pozarek vor etwa 30 Jahren in New York auf der Straße gefunden hat. Begünstigt durch das Design, das mindestens die fraglichen 20 Jahre lang ein markantes, aus dem jeweiligen Kontext herausgelöstes und durch eine kurze Legende ergänztes Bildmotiv in den Mittelpunkt stellte, lässt sich in den meisten Fällen der gemeinsame Nenner der beiden einander gegenübergestellten Bilder benennen, z. B. Kugel, sitzende Person mit Lichtquelle, Wespentaille, Vogelschnabel, Mensch mit Schwanzflosse, Tierkopf im Profil usw. Miteinander verbunden werden ansonsten weit auseinanderliegende Zeugnisse kultureller und natürlicher Extravaganz, fetischisierte und warenförmig aufbereitete Ziele dessen, was die Smithsonian Institution heute als „Entdeckungsreise“ [3] bezeichnet, für die keine geschichtliche Zeit, keine Weltgegend, keine Kultur zu weit entfernt ist. Verantwortlich für Pozareks Kopplungen ist eine zielgerichtete und strikt persönliche Wahrnehmung, die im Heterogenen Analogien sieht und diese zur kombinatorischen Norm macht.

Vaclav Pozarek, „Pair“, 2021

Vaclav Pozarek, „Pair“, 2021

Gilles Deleuze hat den Gedanken weiterentwickelt, „der Schriftsteller“ erfinde innerhalb der geläufigen Sprache eine neue Sprache, die damit einer Fremdsprache gleiche. „Er reißt die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen heraus und lässt sie delirieren. […] Wenn eine neue Sprache in der Sprache entsteht, so strebt das Sprachliche insgesamt einer ‚asyntaktischen‘, ‚agrammatikalischen‘ Grenze zu oder kommuniziert mit seinem eigenen Außen.“ [4] Im Fall von Pozareks Pair wäre dieses Außen der Beziehungs- oder Deutungswahn, der gemäß Jacques Lacan die Paranoia ausmacht. [5] Mit der exemplarischen Einschreibung von unvorhergesehenen Analogien zwingt Pozarek den ikonischen Repräsentanten des Washingtoner Museums-, Bildungs- und Forschungskomplexes [6] ein idiosynkratisches Ordnungsprinzip auf, das die Funktionalisierung der exponierten Darstellungen durch die Organisation des Titelblattes auflöst. Wie kontingent die Verknüpfungslogik aber konstruiert ist, zeigt sich daran, dass ein Bild der ersten Doppelseite der Publikation in anderer Kombination auf der letzten Doppelseite wiederkehrt.

Gemessen an den wechselnden Normen paranoider Koinzidenz treten die gesammelten Abbildungen als exzessive und erratische Abfolge von freigesetzten Perspektiven, Distanzen, Farben, Konstellationen, Stilen, Referenzen auf. Genau die Entfesselung von solchen Diskursfiguren aber unterscheidet Pozareks Kompendium Pair von der Ausstellung einer größeren Zahl von Titelseiten des Magazins Der Spiegel und etwa 200 unveröffentlichten Entwürfen in der Documenta 5 von 1972. Mit den Titelseiten des Spiegels wurden Belege für „Gesellschaftliche Ikonographie“ gezeigt – so die Bezeichnung für die entsprechende Abteilung der damaligen Documenta –, um zur Aufklärung über „die Realität“ beizutragen. Pozarek hingegen initiiert in Bielefeld die unversöhnliche Störung eines ihm begegnenden Repräsentationsregimes.

Die reich variierte Publikation und die reduzierte, nüchterne Ausstellung in Bielefeld ergänzen einander. Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Etagen und besteht aus acht skulpturalen Elementen, die für den Kunstverein Bielefeld produziert und, präzise auf bestimmte Stellen der Architektur bezogen, an der Wand befestigt wurden. Für Pozarek war es eine fremdartige Erfahrung, dass er wegen der Pandemie zum ersten Mal weder Konstruktion noch Aufbau seiner Arbeiten selbst vornehmen konnte. Sein Gefühl der Befremdung ist umso auffallender, als die Aufgabe des technischen Personals scheinbar wenig anspruchsvoll und ohne Weiteres delegierbar war.

Es wurden jeweils drei längere, vertikal verlaufende und drei halb so lange, horizontale Streifen aus 15 mm starker Seekieferplatte in vorgegebenen Abständen zu 21 Lattenrosten zusammengeheftet. Diese Teile ließ Pozarek mit Aluminiumwinkeln zu drei L-förmigen Konstrukten zur Platzierung in einer Ecke und fünf U-förmigen Konstrukten zur Platzierung in der Mitte einer Ausstellungswand verschrauben. Die Form der zusammengesetzten Elemente ist von Abhängigkeiten und inneren Beziehungen bestimmt: Jede der rasterförmigen Holzstreifenkonstruktionen ist doppelt so hoch wie breit, alle Maße (neben Höhe und Breite auch die Breite der Holzstreifen und der Abstände zwischen ihnen) entsprechen einem Vielfachen von acht (welches auch die Gesamtzahl der installierten Elemente ist); rechtwinklig liegt in der Mitte unter jedem der Rasterstreifenpaneele ein Rundholz, die Labilität dieser Sockelhölzer kontrastiert mit der Stabilität der zusammengesetzten Elemente und rechtfertigt die Verwendung von Winkelprofilen, mit denen sie an der Wand befestigt sind. Ihrerseits wiederholen diese Winkel diejenigen Winkel, die die zusammengesetzten Elemente miteinander verbinden.

„Vaclav Pozarek: TUC“, Kunstverein Bielefeld, 2021, Ausstellungsansicht

„Vaclav Pozarek: TUC“, Kunstverein Bielefeld, 2021, Ausstellungsansicht

Wenn die Einschreibung von Analogien, die Pozareks Publikation Pair bestimmt, mit dem paranoiden Wahn kommuniziert, zwischen einander fremden Dingen Verbindungen herzustellen, so entspricht das Konstruktionsprinzip der einzelnen „Gatter“, wie Pozarek die skulpturalen Elemente seiner Ausstellung bezeichnet, dem vergleichbaren Bestreben, ein durch sich selbst gerechtfertigtes System umzusetzen. Doch abweichend von Judds Konzept des hermetischen Objekts, auf das Pozarek Bezug nimmt, beinhaltet seine Arbeit auch die Lokalisierung der ausgestellten Elemente im architektonischen Raum. Die walzenförmigen Sockelelemente verhalten sich nicht nur konträr zu der rechtwinkligen Konstruktion der „Gatter“, sondern heben diese auch über die störenden Sockelleisten des Ausstellungsraums empor und begründen die Befestigung der skulpturalen Gegenstände an den Wänden. Gegenüber den durch sich selbst restlos begründeten Konstruktionen zeichnet sich die funktionale Ausstattung des gegebenen Raums als ein disparates Ensemble von variierenden Einzelheiten ab.

Damit ergibt sich ein mögliches Verständnis des Ausstellungstitels „TUC – Turnstile Utter Chaos“: Die an Beziehungswahn grenzende Umsetzung eines idiosynkratischen Ordnungssystems funktioniert als Drehmoment, das die vorgegebene Ordnung – sei es die Ordnung bildlicher Vergegenständlichung oder die Ordnung architektonischer Pragmatik – in eine perzeptuelle Verfassung chaotischer Unverbundenheit überführt. Das heißt unter anderem, dass Pozareks Arbeit nicht institutionskritisch zu verstehen ist, sofern Institutionskritik auf der Bloßlegung institutioneller Funktionen beruht.

Pozareks Arbeit widersteht bestimmten Anforderungen an die zeitgenössische Kunst, wie sie im Leitbild des Kunstvereins zum Ausdruck kommen. Insofern ist diese Arbeit unzeitgemäß. Unzeitgemäß zu sein, bedeutet jedoch nicht, die brennenden Fragen der eigenen Zeit – Fragen von Dekolonialität, Gendergerechtigkeit, institutioneller Macht oder globalisiertem Kapitalismus – abzuwehren. Vielmehr bedeutet es hier, die Verbindlichkeit von zeitgenössischen Darstellungs- und Kommunikationsformen von Grund auf infrage zu stellen. Daher führt Pozarek als „Leser“ ebenso wie als „Autor“ eigene, mit dem Wahnsystem der Paranoia korrespondierende Kohärenzvorstellungen ins Innere von vorgefundenen Konstellationen der Repräsentation ein und nimmt eine eigentliche „Exkommunikation“ [7] vor gegenüber dem seinerseits unbegreiflich und irrational auftretenden Status quo. Das persönliche Moment seiner Praxis dürfte dabei der Grund für Pozareks Widerstand gegen die Ausführung seiner Arbeiten durch Dritte sein: „Niemand macht es für mich besser als ich.“ [8] – Der Unvoreingenommenheit der Direktorin des Kunstvereins Bielefeld, Nadine Droste, ist es zu verdanken, dass Pozareks Abweichung von den Vorgaben ihrer Institution und deren aufklärerischer Agenda eine Plattform gefunden hat.

„Vaclav Pozarek: TUC“, Kunstverein Bielefeld, 20. Februar bis 01. August 2021.

Ulrich Loock studierte Kunst und Kunstgeschichte. Von 1985 bis 2010 war er nacheinander Direktor der Kunsthalle Bern, des Kunstmuseums Luzern und Stellvertretender Direktor des Museu de Serralves in Porto (Portugal). Seit 2010 lebt er als Ausstellungsmacher und Kunstkritiker in Berlin.

Image credit: Vaclav Pozarek, Kunstverein Bielefeld; Fotos: Fred Dott

Anmerkungen

[1]https://www.kunstverein-bielefeld.de/de/kvb/about/allgemein, gesehen am 17.05.2021.
[2]Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Programm, gesehen am 10.05.2021.
[3]Homepage der Smithsonian Institution, https://www.si.edu/, gesehen am 05.05.2021.
[4]Gilles Deleuze, „Vorwort“, in: Ders., Kritik und Klinik. Aesthetica, Frankfurt/M. 2015 [2000], S. 9.
[5]Jacques Lacan, De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité suivi de Premiers écrits sur la paranoïa, Paris 1975, S. 25–27.
[6]Vgl. Homepage der Smithsonian Institution.
[7]Vgl. Boris Groys, „Die Einsamkeit des Projekts“, in: Ders., Topologie der Kunst, München/Wien 2003, S. 161–171.
[8]Brief an den Autor.