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ABJEKTE NATUR Nils Fock über „territory“ bei Sprüth Magers, Berlin

Liu Yujia, „Mushrooms“ und „A Darkness Shimmering in the Light“, beide 2023

Liu Yujia, „Mushrooms“ und „A Darkness Shimmering in the Light“, beide 2023

Für „territory“ transformierte die Kuratorin Shi-ne Oh die Berliner Galerieräume von Sprüth Magers mit Arbeiten der Künstlerinnen Mire Lee, Liu Yujia, Gala Porras-Kim, Tan Jing und Zhang Ruyi in ein multisensorisches Biotop. Der Titel der Gruppenshow rekurriert weniger auf Staatsgebiete als auf die Grenzen zwischen Körpern und Sinneserfahrungen. Zudem befasst sich die Ausstellung, wie Nils Fock zeigt, mit bestimmten Grenzziehungen zwischen Natur und Mensch. Wie er mit Blick auf einige der ausgestellten Werke demonstriert, steht dabei vor allem eine Naturauffassung im Zentrum, die den Menschen in einem hierarchischen, ausbeuterischen Verhältnis zur Natur positioniert, welches von ökonomischen Voraussetzungen getrieben ist.

Bei Sprüth Magers ist mit „territory“ aktuell eine Ausstellung zu sehen, die anschaulich macht, welche Aufgabe den Künsten im Zusammenhang mit der Klimakrise zukommen kann – und welche nicht. Fünf Künstlerinnen befragen in ihrer Auseinandersetzung mit verschiedensten „territorialen“ Grenzziehungen auch die Möglichkeiten, sich von den hiermit jeweils gegebenen Einschränkungen zu befreien. Darunter auch die Abgrenzung zu der weiterhin vorherrschenden, wenn auch inzwischen anachronistischen Auffassung von „Natur“. Damit machen die Arbeiten nicht nur den binären und hierarchischen Unterschied sichtbar, mit dem sich der Mensch bisher in ein extraktives Verhältnis zu einer vermeintlich bedingungslos ausbeutbaren Natur gesetzt hat. Sie bringen auch die Möglichkeit der Befreiung aus und der Überschreitung von diesem anthropozentrischen Naturverhältnis ins Spiel, die in der zum Anthropozän forschenden Ästhetik derzeit viel diskutiert wird.

Liu Yujia, „Harvesting“, 2023

Liu Yujia, „Harvesting“, 2023

Schon in den ausgestellten Videoarbeiten von Liu Yujia lässt sich ein grundsätzlicher Antagonismus in der Darstellung des bestehenden Naturverhältnisses durch die Gegenwartskunst ausmachen. Auf einem kleinen Röhrenfernseher in einer Ecke des Erdgeschosses zeigt Harvesting (2023) Arbeiter*innen im chinesischen Teil des Changbai-Gebirges bei der Ernte von Wolkenohrpilzen, die auf Stümpfen aus gepressten Holzspänen kultiviert und auf einem künstlich begradigten Boden aufgereiht wurden. Über etwa acht Minuten entfaltet sich die Gleichgültigkeit einer mechanischen Tätigkeit, mit der Gewerbetreibende mittelbar Flora und Fauna zurichten und den in der Handarbeit zum Ausdruck gebrachten sinnlichen Kontakt mit der Umwelt auf ökonomische Absichten einschränken. Dass sich die kapitalistischen Absichten der Arbeitgebenden dem unmittelbaren Einfluss der Pflückenden entziehen, suggeriert nicht zuletzt die alle Eigenheiten nivellierende Verwendung von Schwarz-Weiß-Film und der ihren Ausdruck einschränkende Verzicht auf Ton. Was hier aber sichtbar gemacht wird, ist eine Grenze als Folge wirtschaftlicher Voraussetzungen, aus der sich das Verhältnis zur Natur überhaupt erst ergibt. Eine solche Entblößung vollziehen die in ihrer Präsentation deutlich großformatigeren Arbeiten Mushrooms (2023) und A Darkness Shimmering in the Light (2023) derselben Künstlerin nicht.

Unter beruhigender Musik schließen die beiden als quasi zweikanalige Videoinstallation nebeneinander gezeigten Arbeiten vielmehr in die „Natur“ ein. Die eine Seite verfestigt dabei mit versöhnlich stimmenden Nahaufnahmen von Pilzen einen Fetisch der Gegenwartskunst. Die andere beschwört in mythischen Erzählungen und in der Darstellung spiritueller Bräuche eine Einheit von Mensch und Natur, die es meiner Meinung nach nicht gibt. [1] Die auch hier gewählte „Praxis, sich“, um eine Formulierung von Jason W. Moore zu zitieren, „auf ‚die‘ Umwelt als Objekt zu beziehen, anstatt in ihr ein Verhältnis zu sehen“, verschleiert zudem das eigentliche Problem. [2] Denn diese Zurschaustellung von etwas als „Natur“ insinuiert die Vorstellung, dass das Zusammenleben mit der Natur als dem Menschen Äußerem je für sich in Einklang zu bringen ist. Und damit wird nicht nur von den Prämissen abstrahiert, die ein Verhältnis zur Natur ermöglicht haben, aus dem die Klimakrise erst heranwuchs. Es wird noch verstetigt. Die „Natur“ aber ist auch nach Nancy Fraser „konkret“ nur in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis zwischen Selbst und Welt, das immer „eng mit der menschlichen Geschichte verwoben“ ist. [3]

Tan Jing, „Floor Tiles and Flowers“, 2023

Tan Jing, „Floor Tiles and Flowers“, 2023

Das bringen auch die ebenfalls im Erdgeschoss ausgestellten Arbeiten von Gala Porras-Kim zum Ausdruck. An accession traversing an ancient timeline (2024) beispielsweise zeigt mit einem in den 1960er Jahren für ABC produzierten Dokumentarfilm der 1904 begonnenen Aushebungen von Opfergaben, die die prähispanischen Maya einer Naturgottheit in einer – ehemals – heiligen Quelle darbrachten, die koloniale Übernahme eines sakralen Verhältnisses zur Natur in ein profanes, das diesen extraktiven Zugriff dann unmittelbar sanktioniert. Der Aufzeichnung ist eine Grafitzeichnung der Künstlerin von diesen Ausgrabungen zur Seite gestellt, die diesen Vorgang der gewaltsamen Vermittlung zweier historischer Auffassungen von „Natur“ buchstäblich festhält. Und die geloopte Unterwasseraufnahme Rehearsal for Surveying the Ruins (2017) zeigt anhand korrodierender Artefakte in einem der am stärksten verschmutzten Flüsse Mexikos, dass die Folgen des Klimawandels andere Spuren früherer Naturverhältnisse recht bald einfach verschwinden lassen werden. Aus dem bestehenden Naturverhältnis sollte entsprechend hinausgeführt werden, nicht weiter hinein. Und mit den Arbeiten von Tan Jing um die Videoinstallation Nook of a Hazy Dream (2023), die im verbleibenden Raum im Erdgeschoss zu sehen sind, zeigt sich auch gleich, dass – und wie – die Künste die erfolgte Sichtbarmachung des Naturverhältnisses bis zur Befreiung aus ihm fortzusetzen vermögen. Diese Arbeiten erzählen zwar von der Entfesselung der unter der Last der Remigrationsgeschichte erodierten Erinnerungen ihres Großvaters. Die blassgrünen Gipsfliesen in Floor Tiles and Flowers (2023), die beim Betreten zerbrechen und Gerüche von Zitronengras, Kaffirlimettenblättern und Galgant freisetzen, wie auch die duftenden, von der Decke hängenden und zu Sträußen gebundenen Papierblüten The Souvenir (2023) aber legen Zeugnis davon ab, dass dessen Befreiung in der Videoarbeit nur durch eine Verwirrung der Sinne möglich wird. Sein Geruchssinn sieht sich hier einem Gegenstand ausgesetzt, der nicht (mehr) mit der (inzwischen) alltäglichen Wahrnehmung in Übereinstimmung zu bringen ist. Und die Bereitschaft, sich diesem Geruch hinzugeben, setzt eine negative, weil dem Gewöhnlichen gegenläufige Bewegung in Gang, die in der Folge Selbst und Welt dem Verlust weiht – und durch die Arbeiten von Mire Lee ihr Extrem erreicht.

Mit Look, I’m a fountain of filth raving mad with love (2024), bestehend aus drei ausrangierten Betonmischern, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten rotieren und die in ihnen deponierten Dinge gegen ihre Innenwände schleudern, ist ein Teil ihrer Arbeiten schon im unteren Teil der ins Obergeschoss führenden Treppe zu hören. Den restlichen Teil kann man schon riechen, bevor man die eigentliche Ausstellungsfläche betritt. Wenn diese dunklen Öffnungen, die hier mit Lärm aufwarten, nach Lee selbst „im Wesentlichen Darstellungen eines Mundes – eines Lochs –, aber auch eines Anus“ [4] sind, dann ist es zum einen das Arschloch im Sinne Leo Bersanis: Das Jenseits der in Selbst und Welt wirklichen binären und hierarchischen Unterschiede, in dem „das männliche Ideal […] der stolzen Subjektivität beerdigt wird“. [5] Zum anderen ist es der – aufgerissene – Mund, der einen in den (für Lees Schaffen maßgeblichen [6] ) Schriften Georges Batailles mit seinen „Schreien der Ohnmacht“ [7] heimsucht und der sich in der Unmöglichkeit, einem alltäglichen Geschehen begreiflich zu werden, nur als wesenloses „Schweigen des Grabes“ [8] äußern kann. Dieses Bild wird nicht nur durch den mehr als nur modrigen Geruch beschworen. Die vier umliegenden Skulpturen aus noch feucht anmutendem Lehm und wie ausgedörrt wirkendem Beton, die jeweils den ihrer durchlöcherten Form entsprechenden Titel Untitled (burlap body piece with many holes (2024) tragen, tun ihr Übriges. Zunächst wird noch irgendetwas zwischen Kreatürlichkeit und Eingeweiden vermittelt. Das aber setzt inmitten der anderen Irritationen der Sinne einen weiteren Prozess der identifizierenden Bezugnahme in Bewegung, den diese Arbeiten nur noch als ihr Scheitern erfahren lassen können. Dem in Selbst und Welt wirklichen Naturverhältnis wird zunehmend der Boden respektive seine Begründung entzogen. Unumgänglich gelingt das dann in der Auseinandersetzung mit der in einem hinteren, durch eine frei stehende Wand abgetrennten Bereich hängenden, fünfteiligen Reihe Prayers (2024). Die in einem gewöhnlicheren Sinne intelligiblen und entsprechend Halt verheißenden, mit Blei auf Jute in Epoxidharz geschriebenen Stücke sind jeweils auf einer Betonplatte an blutroten Holzwänden befestigt und in überstehendes Gewebe eingeschlagen, das, wie alles hier, mit Löchern durchsetzt ist. Durch diese kommt schon vage zum Vorschein, was bloß auf die aufopfernde Bereitschaft wartet, den Stoff beiseitezuschieben und mit dem Aufnehmen der Worte „In the name of the father, the son and the holy spirit. Wanna be nailed? Want me to nail you?“ selbst zu einer, mit Bataille gesprochen, „weit aufgerissenen Öffnung“ zu werden, in der „Subjekt und Objekt aufgelöst“ werden und „ihre gesonderte Existenz [verlieren.]“ [9] Dann sind auch endlich die Schreie der Betonmischer zu verstehen.

Mire Lee, „Prayers“, 2024

Mire Lee, „Prayers“, 2024

Dem Schein, in dem sich das alles vollzieht, kann man sich selbstredend jederzeit entziehen. Und das Naturverhältnis, das, wie gesagt, wesentlich eine Folge ökonomischer Voraussetzungen ist, bleibt davon als solches auf jeden Fall unberührt. Aber die Bereitschaft, sich im Schein diesem Außer-sich-Geraten von Selbst und Welt, mit dem die Arbeiten drohen, hinzugeben, ist auch die Bereitschaft, das bestehende Naturverhältnis als prädestinierten Gegenstand dieses Opfers zu begreifen. Es mit seinem eigenen Scheitern zu konfrontieren, hilft nicht nur, den, um mit den von Jack Halberstam entlehnten Worten zu sprechen, „Normen zu entkommen, die das Verhalten disziplinieren und die menschliche Entwicklung verwalten“. [10] Auch ermöglicht dieser zunächst Angst machende Verlust in der Heimsuchung durch die abjekte Natur, das heißt durch all das, was im Verhältnis zur Natur als „äußerlich und fremd“ gilt, den Zugang zu „einer sonderbaren Welt“, „in der Angst und Ekstase [daraufhin] zusammengehen“. [11]

„territory“, Sprüth Magers, Berlin, 27. April bis 27. Juli 2024.

Nils Fock promoviert an der HfG Offenbach bei Juliane Rebentisch und Christoph Menke über die negative Ästhetik Georges Batailles.

Image credit: Courtesy Sprüth Magers; 1-3. Fotos Ingo Kniest; 4. Foto Timo Ohler

ANMERKUNGEN

[1]Vgl. John Bellamy Foster, Marx’s Ecology: Materialism and Nature, New York 2000.
[2]Jason W. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und die Akkumulation des Kapitals, Berlin 2019, S. 450.
[3]Nancy Fraser, „Klima des Kapitals – Für einen transökologischen Öko-Sozialismus“, in: Kapitalismus und Nachhaltigkeit, hg. von P. Degens/S. Lenz/S. Neckel, S. 61–101, Frankfurt/M. 2022, S. 77.
[4]Mire Lee, Interview mit Stefanie Hessler, in: Bomb Magazine, 2023; letzter Zugriff 15. Juni 2024 [Übersetzung N. F.].
[5]Leo Bersani, „Is the Rectum a Grave?“, in: October, 43, 1987, S. 222 [Übersetzung N. F.]. Vgl. dazu, dass Lee diese Auffassung von Bersani teilt, auch Mire Lee, „Biotechniques. Mire Lee in Conversation with Gary Carrion-Murayari“, in: Mire Lee: Black Sun, hg. von Gary Carrion-Murayari/Madeline Weisburg, S. 42–52, New York 2023, S. 44: „Der Anus als Idee gefällt mir schon seit Langem. Er ist im Wesentlichen ein Organ der Unmöglichkeit in Bezug auf die Reproduktion, und Unmöglichkeit ist etwas, das ich immer schon geliebt habe.“ [Übersetzung N. F.].
[6]Vgl. Mire Lee, „Deforming Sculpture as Emotional Portal“, Interview mit Ágrafa Society, in: Seminar, 2021; letzter Zugriff 15. Juni 2024: „Die Texte, die mich am meisten beeinflusst haben, waren die, die ich im College in einer Lerngruppe mit Freunden gelesen habe. Ich erinnere mich, dass wir sehr lange die Erotik von Georges Bataille gelesen haben. Es hat mir sehr geholfen, an einem Text festzuhalten und ihn gründlich zu lesen. Was mir an seiner Erotik gefiel, war die Verzweiflung, die entsteht, wenn man bis zum Äußersten geht. Eine heroische Entscheidung, das eigene Leben zu riskieren, um seine Begierde zu befriedigen, so ernst, dass es lächerlich erscheint. Die Schönheit einer solchen Verzweiflung spürte ich zum ersten Mal, als ich Bataille gelesen habe, und ich dachte, dass es in diesem Buch letztlich um Kunst geht.“ [Übersetzung N. F.].
[7]Georges Bataille, „Die innere Erfahrung“, in: Georges Bataille: Die Innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953, hg. von Gerd Bergfleth, S. 9–227, München 1999, S. 217.
[8]Georges Bataille, „Methode der Meditation“, in: Ebd., S. 231–267, S. 242.
[9]Bataille 1999, S. 88.
[10]Jack Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham 2011, S. 3.
[11]Bataille 1999, S. 11.