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IMPRESSIONISMUS, COLOMBE SCHNECK, SANYA KANTAROVSKY Seen & Read – von Isabelle Graw

Eine Museumspräsentation, die als Zeitreise zurück zu den Anfängen des Impressionimus endlich auch seine weniger prominenten Protagonist*innen Raum gibt. Eine literarische Trilogie, deren Hauptfiguren persönliche Schicksalsschläge und systemische Unterdrückung aus privilegierter Position erleben. Eine Reihe neuer Gemälde, die auf altbekannte malerische Versuchsanordnungen rekurrieren, und dabei konventionelle Kraft- und Machtverhältnisse rekalibrieren. Was „Paris 1874“, Colombe Schnecks neue Bücher und Sanya Kantarovskys aktuelle Schau für sie sehens- bzw. lesenwert macht, führt Isabelle Graw im Folgenden aus.

„PARIS 1874. INVENTER L‘IMPRESSIONISME“

Paul Cézanne, “Une moderne Olympia,” 1873–1874

Paul Cézanne, “Une moderne Olympia,” 1873–1874

„Paris 1874“ ist ein Jahrhundertereignis. Diese Show rekonstruiert nicht nur die erste selbst organisierte Ausstellung der Impressionist*innen aus dem Jahr 1874, sondern zeigt darüber hinaus auch einige der damals im offiziellen Salon präsentierten Bilder. So lässt sich unmittelbar nachvollziehen, was bei der Malerei der Impressionist*innen auf dem Spiel stand und wogegen sich ihre Initiative richtete. Angesichts der Tatsache, dass ihre Arbeiten immer wieder vom Salon abgelehnt wurden, beschlossen Künstler*innen wie Edgar Degas, Claude Monet, Berthe Morisot, Paul Cézanne, Camille Pissarro, Alfred Sisley und viele andere, eigenhändig eine Verkaufsausstellung im ehemaligen Atelier des Fotografen Nadar zu organisieren. Dass die eher gefällige Malerei von Pierre-Auguste Renoir hier den Auftakt machte, ist auch aus heutiger Sicht nachvollziehbar – sein wolkig gemaltes Porträt einer Parisienne (1874) im königsblauen Kleid wirkt immer noch ästhetisch ansprechend. Cézanne zeigte seine „moderne Olympia“ – eine Bad-Painting-Version der Olympia von Édouard Manet, die im Salon von 1865 einen Skandal ausgelöst hatte. Dadurch bindet Cézanne seinen Malerkollegen – der weiterhin im offiziellen Salon ausstellen wollte – gleichsam gegen seinen Willen in die unabhängige Ausstellung ein.

Aufschlussreich ist, wie viele heute längst in Vergessenheit geratene Künstler*innen – Louis Debras, Léon-Paul Robert, Edouard Béliard, Jean-Baptiste Léopold Levert, Émilien Mulot-Durivage, um nur einige zu nennen – an dieser Ausstellung teilnahmen. Als einzige Frau war Berthe Morisot mit mehreren Gemälden vertreten, speziell Le Berceau (1872), das neben Cézannes Olympia hing, belegt ihren radikalen Einsatz der Farbe Weiß, mit dem sie ihre Zerrissenheit zwischen Mutterschaft und ihre Ambition als Künstlerin ausagiert. So etwa in Form eines durchsichtig-weißen Vorhangs, der das in der Wiege liegende Kind von seiner Mutter abschirmt und aufgrund seiner Transparenz zugleich eine tiefe Verbindung zwischen beiden ermöglicht.

Eine Sonderrolle in der Ausstellung nimmt Degas‘ La Repasseuse (1869) – das Porträt einer sichtlich erschöpften Büglerin – ein. Denn die Darstellung von Arbeiter*innen war im Impressionismus eher die Ausnahme, stattdessen widmete man sich dem modernen Leben: Theaterlogen, vom Rauch der Fabriken durchzogenen Landschaften oder Bahnhöfen mit Dampfloks als Sinnbild für den Industriekapitalismus. Die offizielle Malerei des Salons von 1874 nahm sich hingegen heroischer Themen an. In formaler Hinsicht wirkt sie glatter und abgeschlossener als die Bilder der Impressionist*innen, die das Skizzenhafte, Flüchtige und Unfertige betonen. Überraschend ist, dass sich die Salonmaler*innen häufig „politischen“ Themen wie dem verlorenen Krieg von 1870 widmeten. Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht Auguste-André Lançons Morts en ligne! Champ de Bataille de Bazeilles, le 1er septembre 1870 à 5 heures du soir (1873), das am Boden aufgereiht liegende tote Soldaten zeigt. Der traumatische Krieg und seine Folgen kommen bei den Impressionist*innen indessen nicht vor.
Unter den Bildern aus späteren impressionistischen Gruppenausstellungen, die im Musée d’Orsay ebenfalls gezeigt werden, ist Monets fantastisches Les Dindons (décoration non terminée) von 1877 hervorzuheben. Die Auftragsarbeit für Ernest Hoschedé zeigt in schmierigem Weiß pastos gemalte Puten vor dem Anwesen des Sammlers, in dem Monet mit dessen Frau und ihren Kindern zusammenlebte. Er hatte Hoschedé also Haus und Familie ausgespannt und malte ihm zur „Entschädigung“ ein Erinnerungsbild an das Verlorene.

Musée d’Orsay, Paris, 26. März bis 14. Juli 2024.

COLOMBE SCHNECK, PARIS-TRILOGIE

Colombe Schneck

Colombe Schneck

Colombe Schnecks Schreibstil ist sehr speziell – eine Mischung aus Marguerite Duras und der französischen Elle. Kurze Sätze und eine unschuldig anmutende Erzählstimme zielen auf eine Art Sozioanalyse höherer Töchter. In der ersten Geschichte dieser Trilogie werden in Anlehnung an Annie Ernauxs Das Ereignis (2000) die langfristigen psychischen Folgen einer Abtreibung schonungslos beschrieben. Die zweite Geschichte ist meines Erachtens noch gelungener, da sie die Leben zweier großbürgerlicher Freundinnen – Colombe und Héloise – aus dem 6. Pariser Arrondissement im Kontext der sie prägenden Klassen- und Geschlechterverhältnisse schildert. Die Freundinnen wachsen privilegiert auf, besuchen die „richtigen“ Schulen und tragen die „richtigen“ Klamotten (in den 1980er Jahren z. B. Kleider von agnès b). Doch der Komfort, den sie damals für selbstverständlich hielten, ist nach dem Tod der Eltern unerschwinglich geworden. Obwohl beide Freundinnen über sämtliche Diplome verfügen, die man in Frankreich für eine Karriere benötigt, werden sie schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen, mit weniger Anerkennung bedacht und bei Beförderungen übersehen. Héloise bekommt Krebs, muss sich einer qualvollen Chemotherapie unterziehen und stirbt schließlich – ein Prozess, den Colombe begleitet und im Buch festhält. Colombe realisiert, dass beide Frauen trotz vielversprechender Startbedingungen weder in beruflicher noch in privater Hinsicht ihr Lebensglück gefunden haben, was, wie sie betont, vor allem systemische Gründe hat. Die letzte Geschichte ist der Bericht einer nur wenige Monate andauernden Liebesgeschichte, die aufgrund klassenbedingter Differenzen scheitert.

Hamburg/Berlin: Rowohlt, 2024, 195 Seiten.

„SANYA KANTAROVSKY: TEACHERS AND STUDENTS“

Sanya Kantarovsy, “Breach,” 2024

Sanya Kantarovsy, “Breach,” 2024

Die neuen Bilder von Sanya Kantarovsky kreisen um den Komplex „Überwachen und Strafen“. Speziell das sowjetische Schulsystem wird als Einschließungsmilieu dargestellt, in dem Schüler*innen von Lehrer*innen zugerichtet und gepeinigt werden. Das großformatige Breach (2024) zeigt eine bedrohlich wirkende männliche Figur im Profil, die ein auf dem Bett liegendes schlafendes Mädchen mit strengem Blick fixiert. In dieser Szene überwiegen die Brauntöne, was ihre traumatische Dimension unterstreicht. Die Dynamik zwischen „dirty old man“ und schlafendem Jungen erinnert an vergleichbare Versuchsanordnungen bei Pierre Klossowski oder Balthus. Nur strahlt Kantarovskys Träumender schon aufgrund des ihn umgebenden leuchtenden Weiß eine Kraft aus, die auch andere seiner „students“ aufweisen. Deren angedeuteter Widerstand ist jedoch eher passiver Natur, so etwa in Narrowing (2024), in dem ein massiger und abstrakt wirkender Erwachsenenkörper seinen Arm so fest um die Figur eines Jungen legt, dass dieser festgehalten, wenn nicht sogar gewürgt zu werden scheint. Dieser Junge mit seinem pastos weiß gemalten Gesicht und der grafischen Ästhetik des Japonisme nachempfundenen geschlossenen Augen scheint sich jedoch längst in eine andere Welt geflüchtet zu haben. Ähnlich wie es Klossowski für Roberte, die Heldin seiner Romane, beschreibt, deutet sich auch bei Kantarovsky gerade im passiven Erdulden von Gewalt eine potenzielle Machtposition an. Die von Georges Bataille herrührende Idee des omnipotenten Opfers steht jedoch in Zeiten von #MeToo selbst in Frankreich unter anderen Vorzeichen.

Kantarovskys Bilder fügen sich perfekt in das großbürgerliche Ambiente der zur Galerie umgestalteten Wohnung am Place de l‘Alma ein. A Lesson in Weakness (2024) wurde zum Beispiel in den Stuckrahmen über dem Kaminsims eingepasst, so als gehöre es zum Interieur. Auch dieses Bild weist eine von der Ästhetik des Japonisme inspirierte Figur auf, die mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl hockt. Der Hintergrund ist mit weißer und beiger Farbe beschmiert, sodass sich die im Titel behauptete „Schwäche“ der Studentin hier in eine eher malerische Kraft verwandelt.

Galerie Modern Art, 24. Mai bis 21. September 2024.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Foto Rob Kulisek; 2. © Courtesy Musée d’Orsay, Dist. RMN-Grand Palais / Patrice Schmidt; 3. © JF Paga; 4. Courtesy the artist and Modern Art, London, Foto Pierre Le Hors