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PERSPEKTIVEN DER ZEIT Christina Irrgang über „Hildegard Heise: Fotografin“ im Museum für Kunst & Gewerbe, Hamburg

„Hildegard Heise: Fotografin“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2021-22, Ausstellungsansicht

„Hildegard Heise: Fotografin“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2021-22, Ausstellungsansicht

In der Geschichte der Fotografie stehen die 1920er Jahre für einen zunehmend sachlichen Blick auf die Welt. Zugleich machten sich verstärkt auch Frauen als Fotografinnen selbstständig. Einer von ihnen widmet das Hamburger Museum für Kunst & Gewerbe aktuell eine umfassende Retrospektive: Hildegard Heise. Den emanzipatorischen Wert dieser Schau erkennt die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Christina Irrgang in deren Anspruch, uns erstmals mit Heises Werk in Berührung zu bringen und zugleich ihr weitverzweigtes Kooperationsnetzwerk mit anderen Künstler*innen nachzuzeichnen.

Beim Rundgang durch die Sammlungspräsentation im Lübecker Behnhaus Drägerhaus im vergangenen September blieb mein Blick an den plastisch wirkenden Texturen von Kakteen haften, die den Bildraum einer Schwarz-Weiß-Fotografie von Hildegard Heise nahezu skulptural beschreiben. Fasziniert von der klaren Komposition und der Lichtatmosphäre der Aufnahme Kakteenhaus Bonn (1930) begann ich, die Fotografin zu recherchieren – und entdeckte eine aktuelle Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst & Gewerbe (MK&G), die erstmals ihr umfassendes Werk vorstellt.

Mit „Hildegard Heise: Fotografin“ zeigt die Kuratorin und Leiterin der Sammlung Fotografie und neue Medien, Esther Ruelfs, Bestände aus dem Nachlass von Heise (1897–1979), der sich seit 1982 im MK&G befindet und insgesamt rund 3.000 Aufnahmen und 2.500 Negative aufweist. Aus diesem Konvolut hat Ruelfs thematisch und zeitlich bezogene Werkgruppen von Schwarz-Weiß-Fotografien und Farbdias herausgegriffen, die einen Überblick über Heises Schaffen von 1928 bis in die 1970er Jahre erlauben und die zugleich Raum für Recherche geben zu einem künstlerischen Werk und Netzwerk, das gerade erst erschlossen wird.

Auch wenn Heises Weg zur Fotografie wenig emanzipatorisch zu sein scheint, so ist er es in seinen (fotografischen) Facetten und Nuancen durchaus. In Lübeck geboren, bewegte Heise sich durch ihren Ehemann in einem produktiven Umfeld moderner Kunst. Carl Georg Heise übernahm 1920 die Leitung des St. Annen-Museums und erweiterte ab 1921 im Kontext des Zugewinns des Behnhauses auch seine Ausstellungs- und Sammlungstätigkeit. So zeigte er 1927 Albert Renger-Patzschs erste museale Einzelausstellung, gefolgt von dem Bildband Lübeck [1] mit einhergehender Ausstellung sowie der Herausgabe des Bildbandes Die Welt ist schön [2] – ein Schlüsselwerk nicht nur für die Fotografie der Neuen Sachlichkeit, sondern auch für Hildegard Heise.

Es mögen die häufigen Besuche Renger-Patzschs bei den Heises und eine intensive Auseinandersetzung mit dessen Werk gewesen sein, die Heise dazu bewegten, selbst Fotografin zu werden [3] und bei ihm 1928 eine fotografische Ausbildung in Bad Harzburg zu beginnen (mit Reisen nach Holland und ins Elsass), gefolgt von Assistenzen 1929 bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle und 1930 im Porträt-Atelier von Grete Kolliner in Wien.

Anita Rée, „Bildnis Hildegard Heise“, 1927

Anita Rée, „Bildnis Hildegard Heise“, 1927

Die Entscheidung der ausgebildeten Kindergärtnerin und Säuglingspflegerin, dann Schulpflegerin und Hausfrau, Fotografin zu werden, ist ein wichtiger Wendepunkt in ihrem Leben, den die befreundete Malerin Anita Rée in einem ihrer Bilder festhielt, das an zentraler Stelle in der Ausstellung zu sehen ist. [4] Das im Hell-Dunkel-Kontrast gemalte Bildnis Hildegard Heise (1927) zeigt Heise en face und ist in seiner Wirkung auch deshalb so markant, weil es in Bezug zu ihrer neuen Profession und Identität gelesen werden kann. Es markiert den Wandel der Heise zur Fotografin und Künstlerin und damit eine Hinwendung zum Sehen, die Rée mit den Mitteln der Malerei benennt. [5]

Das MK&G zeigt mit Sach-, Porträt- und Landschaftsfotografien sowie Reisereportagen und Gesellschaftsbildern von Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus ein Spektrum von Heises Schaffen, das bislang noch weitgehend ungesehen blieb. Zwar wurden ihre Fotografien durch ihre Zusammenarbeit mit Bildagenturen bereits in Zeitschriften wie Atlantis publiziert, dabei jedoch kaum aus künstlerischer Perspektive präsentiert. Viele ihrer Fotografien tragen keinen von ihr vorgesehenen Titel, was darauf hindeutet, dass Heise ihre Aufnahmen in Sequenzen und Konglomeraten gedacht hat.

Hildegard Heise, „Mädchenbildnis Hispaniola“, 1937/1938

Hildegard Heise, „Mädchenbildnis Hispaniola“, 1937/1938

Ihre Kompositionen spiegeln fast durchgängig eine moderne Bildgestaltung, die das Einfassen von Ausschnitten mit einer gewissen Rhythmik des Gezeigten verbindet. Dabei stellt Heise das jeweils Spezifische der von ihr in den Blick genommenen Situation heraus und bildet Analogien: Die Lübecker Rathaustürme (1932) ragen ähnlich den Nadelbaumspitzen auf einem schneebedeckten Felsvorsprung empor (Sils Baselgia, Engadin, 1934), Licht und Schattenwürfe von Strandhütten bilden ein geometrisches Muster (Badekarren, Carolles, um 1930) ebenso wie treibende Baumstämme im Meer, die sich zu einer Raute formieren (Schwimmende Baumstämme, Finnland, 1969), während skulptural gewachsene und mit Schnee bedeckte Äste fast wie Zeichnungen im Vordergrund des Himmels wirken (Verschneite Bäume, Nußdorf am Inn, 1969). Ihre Hinwendung zu singulären Motiven führt zu Porträts von Kindern, Frauen und befreundeten Künstler*innen; sie beobachtet unbekannte Menschen bei ihrer Arbeit und hält das in ihren Aufnahmen fest.

Heise interessierte sich unter anderem für die Reproduktionsfotografie, und so ist neben den rund 160 ausgestellten fotografischen Arbeiten auch eine Wandtapete zu sehen, die auf ihr weitverzweigtes Kooperationsnetzwerk mit Künstler*innen sowie ihre Tätigkeit als Reproduktionsfotografin verweist. Durch diese Übersicht wird deutlich, welche Vielzahl an Kunstwerken und kunstgewerblichen Gegenständen ihrer Kolleg*innen sie fotografisch dokumentierte, darunter Textilien der Weberinnen Alen Müller-Hellwig und Johanna Schütz-Wolff sowie Skulpturen der Bildhauerinnen Renée Sintenis, Ruth Schaumann und Trude Petri. Dabei verstand es Heise besonders, Oberflächen und Texturen in Szene zu setzen – sei es die Diwandecke von Müller-Hellwig (1930), bei der Kette und Schuss fast greifbar werden, oder seien es die geschliffenen, glänzenden Kanten eines Bergkristall[s] (um 1935) bis hin zu den ledrigen, fast reptilartigen Blätter[n] der Victoria Regia im Botanischen Garten in Berlin (1935), in dessen Nähe die Heises von 1934 bis 1945 lebten, bevor sie nach Hamburg [6] übersiedelten. Heises Fotografien suggerieren einen fließenden Übergang von gewachsenen zu künstlerisch geformten Strukturen.

Hildegard Heise, „Diwandecke von Alen Müller-Hellwig“, um 1930

Hildegard Heise, „Diwandecke von Alen Müller-Hellwig“, um 1930

Insbesondere die fotografische Dokumentation des Nachlasses von Rée, 1935, deren Bilder zum Teil den Nationalsozialist*innen zum Opfer gefallen waren, verdeutlicht, von welch historischem Wert Heises Fotografie ist. [7] Was in der Ausstellung jedoch unerwähnt bleibt, ist der Umstand, dass Heise auch Fotografien für den „Führerauftrag Monumentalmalerei“ anfertigte, einer 1943 bis 1945 geleiteten Fotokampagne unter Adolf Hitler zur Dokumentation von Malereien und Raumausstattungen im sogenannten großdeutschen Reich. [8]

Heises fotografisches Werk ist kaum publiziert worden. 1931, kurz nach ihrer Ausbildung, legte sie den Bildband Das Lübecker Orgelbuch [9] vor, mit dem sie den Klang von Orgeln und ihre materielle Beschaffenheit fotografisch einzufangen versuchte. Erst 1975, wenige Jahre vor ihrem Tod, veröffentlichte Heise dann einen Bildband, der eine (minimale) Auswahl ihrer fotografischen Aufnahmen aus vier Jahrzehnten versammelt. [10] Dieser wirkt in dem Wissen um ihre Verbindung zu Werk und Person Renger-Patzschs wie ein stiller Dialog durch die hier präsentierten fotografischen Perspektiven und Blickachsen hindurch. So geht etwa die Auffassung, den „seelischen Gehalt“ [11] einer fotografierten Person oder einer Sache zu erfassen und die Fotografie als eine Technik und Möglichkeit zu erachten, [12] die Welt neu zu sehen, einerseits auch auf Renger-Patzsch zurück. Andererseits spiegelt sich darin die bildwissenschaftliche Arbeit von Aby Warburg wider, der zeitlebens Mentor von Carl Georg Heise war [13] : Kenntnis zu nehmen von dem, was ist, um zu sehen, wie etwas ist. Eine Porträtbüste Warburgs zierte noch 1961 die Gartenterrasse der Heises in Nußdorf am Inn, wie eine Fotografie zu erkennen gibt.

Solch feinsinnige Linien nachzuzeichnen, bedarf Zeit und ein intensives Sichten und Vergleichen von Bildern, sowohl der von Heise wie auch der ihrer Zeitgenoss*innen. Die Ausstellung im MK&G und eine sie begleitende „Online-Datenbank “ mit digitalisierten Bildwerken Heises setzen dahingehend einen wichtigen Impuls, da sie uns mit diesem Werk erstmals in Berührung bringen.

„Hildegard Heise: Fotografin“, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 17. September 2021 bis 24. April 2022.

Christina Irrgang ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin sowie Autorin und Musikerin. In ihrer Arbeit als freie Autorin legt sie einen Schwerpunkt auf Techniken demokratischer Kommunikation und Gesprächsführung, die oftmals auf Sprachspielen basieren und ihrerseits konzeptuelle Dialoge herausformen.

Image credits: 1. Foto © Henning Rogge / MK&G; 2-4. © Nachlass Hildegard Heise / MK&G

Anmerkungen

[1]Albert Renger-Patzsch, Lübeck – achtzig photographische Aufnahmen, mit einer Einleitung v. Carl Georg Heise, im Auftrag der Nordischen Gesellschaft, hg. v. Ernst Timm, Berlin: Verlag Ernst Wasmuth, 1928.
[2]Ders., Die Welt ist schön – 100 photographische Aufnahmen, hg. u. eingeleitet v. Carl Georg Heise, München: Kurt Wolff Verlag, 1928.
[3]Vgl. Albrecht, Thorsten, „Carl Georg Heises ‚Sammlung vorbildlicher Photographie‘ im Lübecker St. Annen-Museum“, in: Die neue Sicht der Dinge: Carl Georg Heises Lübecker Fotosammlung aus den 20er Jahren, Ausst.-Kat., Hamburger Kunsthalle [28.04.–25.06.1995] und Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck [16.07.–17.09.1995], Hamburg/Lübeck 1995, S. 12, 14; sowie Fotografie in Lübeck 1840–1945, hg. v. Alexander Bastek/Jan Zimmermann, Ausst.-Kat., Museum Behnhaus Drägerhaus, Lübeck [01.05.–28.08.2016], Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2016, S. 246.
[4]Zu den Vorstudien zum „Bildnis Hildegard Heise“ siehe Maike Bruhns, Anita Rée – Leben und Werk einer Hamburger Malerin 1885–1933, Hamburg: Verein für Hamburgische Geschichte, 1986, S. 49, 297, 304.
[5]Anita Rée (1885–1933) war eine gemeinsame Freundin der Heises, die Carl Georg Heise ab 1916 im Rahmen seiner Assistenz an der Hamburger Kunsthalle durch den Museumsdirektor Gustav Pauli kennengelernt hatte; vgl. Anita Rée – Retrospektive, hg. v. Karin Schick, Ausst.-Kat., Hamburger Kunsthalle [06.10.201–04.02.2018], München: Prestel Verlag, 2017, S. 15f. Heise zeigte 1921 dann Malereien von Rée mit seiner Eröffnungsausstellung im Schabbelhaus, Lübeck. 1969 gaben die Heises gemeinsam ein Gedenkbuch für Rée heraus, in dem auch zahlreiche Reproduktionen von Heise zu finden sind; siehe Anita Rée, 1885 – Hamburg – 1933; ein Gedenkbuch von ihren Freunden, hg. v. Hildegard/Carl Georg Heise, Hamburg: Hans Christians Verlag, 1969.
[6]Von 1945 bis 1955 war Carl Georg Heise als Direktor der Hamburger Kunsthalle tätig; Hildegard Heise setzte ihre künstlerische Tätigkeit im Privaten fort.
[7]„Während der Erbverteilung fotografierte Hildegard Heise den Nachlaß und den St. Ansgar-Altar; es wurden über 100 Fotos“, bemerkt Maike Bruhns in Bezug auf ihre Forschungen zu Rée. „[…] diese Fotos sind glücklicherweise erhalten und in vielen Fällen die einzigen Dokumente und Erinnerungen an verschollene oder zerstörte Werke.“ Siehe Bruhns, Anita Rée, S. 191, 125.
[8]Siehe https://www.loc.gov/photos/?q=hildegard+heise, gesehen am 17.01.2022, sowie Christian Fuhrmeister/Stephan Klingen/Iris Lauterbach/Ralf Peters (Hg.), ‚Führerauftrag Monumentalmalerei‘ – Eine Fotokampagne 1943–1945, Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2006, S. [9]: Rolf Sachsse gibt einen Hinweis auf Hildegard Heise, die er jedoch mit falschem Namen [Aenne] und als Tochter von Carl Georg Heise bezeichnet.
[9]Das Lübecker Orgelbuch, Einführung von Walter Kraft, 24 Bilder von Hildegard Heise, hg. v. der Nordischen Gesellschaft, Lübeck 1931.
[10]Z*Hildegard Heise – Fotographische Aufnahmen aus vier Jahrzehnten*, mit einem Vorwort v. Fritz Kempe u. einer Einleitung v. Willi Maurer, Hamburg: Eigenverlag, 1975. Die Publikation wurde von Hildegard und Carl Georg Heise als Weihnachtsgabe für Freund*innen und Bekannte aufbereitet.
[11]Albert Renger-Patzsch, „Ueber das Photographieren von plastischen Kunstwerken“, in: Ders., Die Freude am Gegenstand – Gesammelte Aufsätze zur Photographie, hg. v. Bernd Stiegler/Ann und Jürgen Wilde, München: Wilhelm Fink Verlag, 2010, S. 35–40, hier: S. 35.
[12]Vgl. Ders., „Photographie und Kunst“, in: Die Freude am Gegenstand, S. 81–84, hier: S. 82f.
[13]Vgl. Carl Georg Heise, „Erinnerungen an Aby Warburg“, in: Ders., Der gegenwärtige Augenblick, S. 66–72, hier: S. 70; Ders., „Aby M. Warburg als Lehrer“ [1966], in: Aby M. Warburg – Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden: Verlag Valentin Koerner, 1980, S. 479–482, hier: S. 480.