DIE INNENEINRICHTUNG DES WIDERSTANDS Gürsoy Doğtaş über Füsun Onur im Museum Ludwig, Köln
„Während ich dies schreibe, erinnere ich mich an meine Kindheit, als ich zum ersten Mal mit Ton und Ölfarbe hantierte und davon träumte, Künstlerin zu werden. Wie kommt eine Zehn- oder Elfjährige zu diesem Traum?“, fragte sich Füsun Onur selbst im November 1981 in der Kunstzeitschrift Sanat Çevresi. [1] Damals hatte sie gerade im Rahmen des Kunstfestivals der Staatlichen Akademie der Schönen Künste Istanbul ihre Installation Resimde Üçüncü Boyut – İçeri Gel (Die dritte Dimension in der Malerei – Tritt ein, 1981) präsentiert. Der Raum im Raum besteht aus einem leichten, quaderförmigen Holzgestell, von dessen Decke dicht angeordnete blaue Fäden herabhängen und eine Kuppel formen. Gelegentlich schmücken deren Enden verschiedenfarbige Pailletten. Die Besucher*innen können diesen Raum betreten, sich auf ein Kissen auf dem Boden legen und nach oben schauen. Dann ist es, als blickten sie in ein sternenübersätes Himmelsgewölbe. „Warum soll das Bild an der Wand und im Rahmen bleiben?“, fragte die Künstlerin im selben Artikel und leitete so Überlegungen zu einem erweiterten Malereiverständnis ein.
Die Überblicksausstellung in Köln versammelt zahlreiche Installationen der Künstlerin, in denen sich die Kunst als eigener Raum im Ausstellungsraum definiert. Zu ihnen zählen – neben der erwähnten Arbeit – Installationen wie Çiçekli Kontrpuan (Kontrapunkt mit Blumen, 1982 (2014)), Zaman İkonları (Ikonen der Zeit,1990), Bir Çocuğun Gözüyle Savaş (Krieg aus der Sicht eines Kindes, 1994), Eski Eşyaların Düşü (Traum von alten Möbeln, 1985). Die Werke sind Orte der Erfahrung anderer Seinsformen, die sich durch Gegenstände wie Souvenirs, Fundstücke und Geschenke ausdrücken; sie sind aber auch Orte des Rückzugs – wie in Resimde Üçüncü Boyut – İçeri Gel (1981), in der Zeit der Militärdiktatur (1980–83) entstanden. Die Installationen der Künstlerin involvieren die Besucher*innen in Schwellenerfahrungen, wobei Erinnerungen – seien es die persönlichen der Künstlerin oder die kollektiven– auf vielfältige Weise Raum einnehmen.
Ihre Arbeit Eski Eşyaların Düşü („Traum von alten Möbeln“ oder auch „Traum der alten Möbel“) von 1985 besteht aus acht Objekten, getragen von einem antiquierten Möbelstück oder Fragmenten eines Mobiliars. In Köln sind die Objekte in einer Art Dreieck angeordnet, das auf einen gepolsterten Sessel zuläuft. Er ist mit einem abgenutzten, senffarbenen, samtartigen Stoff bezogen, in dessen Faltenwurf ein Tier (ein Schwan?) zu erahnen ist. Ein opulentes Sofa aus diesem Gefüge, das einen eigenen Charakter zu haben scheint. Die Basis des „Dreiecks“ bilden drei hölzerne Möbelsockel, die in einer Entfernung von einem Meter zueinander stehen. Sie sind mit Stoffen, Quasten, Pailletten, besticktem Tüll oder weißem Spitzenstoff verziert, worauf Spielzeugtiere, Puppenbeine oder eine blaue Kugel stehen. Die Objekte sind nicht nur von den Erinnerungen der ehemaligen Besitzer*innen oder der Künstlerin durchwoben, sondern scheinen ihrerseits, wie Akteur*innen, ebenfalls mit der Fähigkeit zur Erinnerung ausgestattet zu sein. Auf der Bodenplatte des einen Sockels liegt unter einem Stapel von Postkarten die türkische Übersetzung des Buchs Alice in Wonderland (1865) von Lewis Carroll. Die Titelheldin kann zur Größe einer kleinen Puppe schrumpfen und geht eine lebhafte Beziehung zu Dingen, Tieren und Fabelwesen mit ausgeprägten Charakteren ein. „Jedes Material besitzt eine individuelle Sprache“, erwidert Onur 1990 dem Istanbuler Galeristen Yahşi Baraz und Autor des Textes „New York’taki Sanatçıların Yeni Kimliği“ (Die neue Identität der Künstler*innen in New York), [2] der sowohl ihr als auch anderen Künstler*innen pauschal Wirkungslosigkeit vorgeworfen und ihr Werk abwertet hatte. Onurs Arbeiten entstehen aus der Zwiesprache mit den Materialien. Sie tauscht sich nicht nur mit den Objekten aus, sondern folgt ihnen – wie Alice – in ihre Miniaturwelt. Onurs Räume formulieren ein Gegenprogramm zu den männlich und mitunter nationalistisch dominierten Orten, an denen sie entstehen.
Das Haus der Künstlerin, ist nicht nur ein Produktionsort, sondern auch ein wichtiger Referenzpunkt ihrer Arbeit. Die Kurator*innen Barbara Engelbach und Emre Baykal zeigen in der Kölner Ausstellung das kurze Videoporträt Home (from the series Resistance) des Künstlers Ali Kazma von 2014. Er filmte das Innere des Hauses, in dem Onur ihr ganzes Leben bis heute verbracht hat. Es ist eines jener kostbaren Holzhäuser – yalı – direkt am Bosporus im Istanbuler Stadtteil Kuzguncuk. Einige der Einrichtungsgegenstände und Erinnerungsstücke, die dort zu sehen sind, scheinen seit der Geburt der 86-jährigen Künstlerin zu existieren. Die Atmosphäre des Ortes – die Interieurs, die mit Erinnerungen aufgeladenen Möbel, Bilder und Objekte sowie das soziale Milieu – klingt in den Exponaten Onurs vielfältig an. Die Spieluhr, die sie im Video präsentiert, korrespondiert mit der Arbeit Müzikli Koltuk (Musikalischer Stuhl) aus dem Jahr 1976. Auf einem kleinen Holzkasten (40 × 40 × 20 cm) thront ein roter Spielzeugstuhl – genauer gesagt ein Sessel – mit einem gemusterten Sitzkissen. In den Deckel der Holzbox sind drei Fenster eingelassen, die den Blick auf eine bemalte Glasscheibe freigeben. Zieht man die Spieluhr auf, drehen sich Stuhl und Scheibe zu einer Melodie. Andere Verbindungen entstehen, wenn die Künstlerin ein Foto von sich als dreijähriges Kind in die Installation Bir Çocuğun Gözüyle Savaş (Krieg aus der Sicht eines Kindes) von 1994 integriert. Einige der Objekte in Eski Eşyaların Düşü könnten aus dem Haus stammen, tun es aber nicht. Den Unterschied zwischen dem realen Interieur und den Objekten hebt Onur dezidiert hervor:
„In dieser Arbeit ging es um die Träume von Möbeln. Es waren Möbel, die ich gefunden hatte, nicht unsere eigenen. Ich habe diese Arbeit gemacht, weil ich Möbeln und Objekten große Bedeutung beimesse. Sie sind wichtig für mich. Ich wollte, dass sie weiterleben, oder das Leben, das sie hatten, feiern. Sie wurden gerettet, als sie im Begriff waren, zu sterben.“ [3]
Onur formuliert ihren kulturellen Widerstand vor dem Hintergrund privater zuweilen auch klandestiner Räume. An den Übergängen von den Innen- zu den Außenräumen zeichnen sich Schwellen, Grenzen und Konflikte ab. Zum Beispiel als ihre Arbeit Müzikli Koltuk, die sie 1976 für die staatliche Ausstellung „Devlet Resim Heykel Sergisi“ (Staatliche Ausstellung für Bild und Skulptur) eingereicht hatte, abgelehnt wurde. Der Ausstellungsleiter Sabri Berkel, der sich nicht mit der Arbeit auseinandersetzt hatte, wertete sie mit der Bemerkung ab: „Wie kann man mit einem Spielzeug an einer Ausstellung teilnehmen?“ [4]
Seine Frage berücksichtigte nicht, dass Onur bereits zwei Jahre eine Puppe auf einer Ausstellung in Istanbul präsentiert hatte. Eine Puppe mit politischer Brisanz. Aus Solidarität mit dem Bildhauer Gürdal Duyar (1935–2004) organisierte die Taksim Kunstgalerie 1974 die Protestausstellung „Nü“ (Akt). Seine Skulptur Güzel İstanbul (Schönes Istanbul), ein weiblicher Akt, war 1973 zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Republik Türkei entstanden. Die massive Skulptur, an prominenter Stelle auf dem Karaköy-Platz aufgestellt, wurde später aufgrund politischen Drucks wieder abgebaut. Mit Onurs Arbeit, die den gleichen Titel wie die damalige Ausstellung trägt, unterstützte sie das Engagement der Taksim Art Gallery gegen die Zensur. Um ein klares Statement gegen die Scheinheiligkeit der öffentlichen Moral zu setzen, verwendete sie für ihre Arbeit eine nackte Plastikpuppe, die allgegenwärtig war und selbst die Heckscheiben der Dolmuş (Sammeltaxis) zierte. Wie ein „Pin-Up-Girl“ winkelt diese Puppe in anzüglicher Pose ihre Arme an. Sie ist in drei Teile zerschnitten, mit einer transparenten Folie verbunden und zwischen zwei Spiegeln platziert, sodass der zerschnittene Körper sich mehrfach wiederholt.
Mit minimalen Interventionen fordern Onurs Objekte etablierte Strukturen heraus. Ihre Arbeiten sind Reaktionen auf die kulturpolitischen Konflikte ihrer Zeit und eingebettet in die spannungsgeladene Ausstellungsgeschichte der Türkei. Der Dissens, der sich aus dem historischen Entstehungskontext ergibt, wird in der Überblicksausstellung leider nicht vermittelt. Um zu verstehen, auf welche sozialen Ungerechtigkeiten, auf welchen Konservatismus, aber auch auf welche intellektuellen Verengungen des Kunstbetriebs Onurs Arbeiten reagieren, wären mehr Informationen erforderlich, als es die Werkangaben hergeben.
Onur selbst hat ein gespaltenes Verhältnis zum Format der Retrospektive und der Art, wie sich darin die Beziehung zu ihren alten Werken definiert. „Ich sage mir“, sinniert sie im Interview für den Katalog der Ausstellung, „Es ist kein Produkt der Zeit, in der ich gerade lebe, aber ich habe es gemacht.“ [5]
„Füsun Onur. Retrospektive“, Museum Ludwig, Köln, 16. September 2023 bis 28. Januar 2024.
Gürsoy Doğtaş ist Kunsthistoriker und Kurator. Er arbeitet parakuratorisch an den Schnittpunkten von Institutionskritik, strukturellem Rassismus und Queer Studies.
Image credit: 1. © Füsun Onur, Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Vincent Quack; 2. © Füsun Onur, Courtesy Arter, Istanbul, Foto: Murat Germen; 3. © Füsun Onur, Courtesy Arter, Istanbul, Foto: Aljaz Fuis