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KRITERIEN AUF DER FLUCHT Gunter Reski über Jill Mulleady und Henry Taylor im Schinkel Pavillon, Berlin

„Jill Mulleady & Henry Taylor:  You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

„Jill Mulleady & Henry Taylor: You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

Eine zunehmende Hinfälligkeit von Urteilen und Kriterien wird in der Kunstkritik seit Jahrzehnten beobachtet. Seit TEXTE ZUR KUNST-Mitbegründer Stefan Germer 1994 in einem Essay die gleichzeitige „Notwendigkeit und Unmöglichkeit“ solider Parameter zur Beurteilung zeitgenössischer Kunst konstatierte, haben sich letztere scheinbar kontinuierlich weiter verflüchtigt. Gunter Reski sieht diese Entwicklung in der gemeinsamen Ausstellung von Jill Mulleady und Henry Taylor bestätigt, die kürzlich in Berlin gezeigt wurde. Angesichts einer Vielzahl an kanonischen Referenzen und Fragmenten teils bewusst gebrochener Traditionslinien betont er, dass die Beurteilung von Kunst heute mehr denn je, wie Germer es einst ausdrückte, „eine zutiefst fragwürdige und zweifelhafte Angelegenheit ist“.

Freundschaftsausstellungen sind gerade beliebt. So wie Julie Mehretu kürzlich einige Freund*innen einlud, gemeinsam mit ihr den Palazzo Grassi in Venedig mit Kunst zu bestücken, war die Freundschaft von Jill Mulleady und Henry Taylor auch der maßgebliche Grund für die Ausstellung „You Me“ im Schinkel Pavillon. Bekanntlich spielt das Soziale als kuratorisches Prinzip oft im Hintergrund entscheidend mit bei der Entstehung von Künstler*innenlisten. Freundschaft als einziges kuratorisches Entscheidungskriterium – man kommt leicht ins Stutzen, aber warum nicht.

Ob die beiden stilistisch deutlich unterschiedlichen Positionen auch eine herzliche Duzfreundschaft mit ihren Werken nebeneinander auf den Wänden eingehen? Die überraschende Kombination schien für eine interessante Ausstellung zu sprechen. Letztlich bespielen Mulleady und Taylor jedoch jeweils eine Etage im Schinkel Pavillon. Lediglich ein, zwei Bilder Mulleadys tauchen wie zur Stippvisite bei Taylor auf und umgekehrt. Ein gemeinsamer Nenner beider Positionen ist ein proaktiver Umgang mit kunsthistorischen Referenzen. Das wird schnell deutlich, wenn man von beiden eine Coverversion eines Klassikers der jüngeren Kunstgeschichte in der Ausstellung entdeckt. Besagtes Bild zeigt eine unbekleidete Frau, die eine Treppe hinabsteigt. Wenn schon nicht Gott oder sein Stellvertreter wiederkehren mag, schickt der Himmel zumindest eine Verlockung für den nächsten Sündenfall – und der kann nur weiblich und nackt sein. Die Gründe, warum ein solches Motiv sich dieser Beliebtheit auch im aktualisierten Kanon erfreut, sind anscheinend immer noch eine Hausarbeit wert.

Henry Taylor, „Nude descending down the staircase“, 2017

Henry Taylor, „Nude descending down the staircase“, 2017

Als Referenz oder Ausgangsbild dient hier wahlweise Gerhard Richter oder Richard Prince‘ Foto von Brooke Shields. Mulleady hat sich – als Reaktion auf einen Treppenakt Taylors mit einer afroamerikanischen Protagonistin – selbst beim Herabsteigen einer Treppe gemalt, wie sie im Artist Talk [1] erzählt. Das Bild sei eher eine sideline, womit sich ihr entspannter Umgang mit Schlüsselbildern beschreibt. Auch Malen an sich schildert sie in dem Gespräch als nicht hinterfragbare Alltagstätigkeit wie Duschen, Frühstücken oder Sex. Etwas anders, aber ähnlich geerdet, verhält es sich bei Taylor, wenn er von bestimmten Bildern spricht, die durch die Printmedien in ihn „hineinrauschen“, um dann wiederum als Malerei aus ihm „herauszurauschen“. Da gibt es keinen Plan. Unabhängig davon geht es um die Ein- und Umschreibung in die bzw. der Kunstgeschichte, wenn hier der westliche Kanon aus weiblicher und aus PoC-Perspektive neu bestückt bzw. punktuell umcodiert wird. Anstatt an der grundlegenden Struktur klassisch westlicher Kunstgeschichtsschreibung zu rütteln (so schwierig das auch sein mag), werden hier lediglich bestehende Bildsujets und Genres neu besetzt und ausgestattet. Wenn Taylor in einem gelungenen der ausgestellten Bilder (Emalda, 2011) eine Art afroamerikanische Version von Édouard Manets Olympia (1863) anklingen lässt, ist immerhin keine Weiße mehr Heldin des Bildes. Die Zurschaustellung des weiblichen nackten Körpers wird aber nicht hinterfragt. Zugleich taucht so durch die Hintertür eine intersektionale Fragestellung auf. Ja, es fahren mittlerweile gottseidank einige andere Züge auf den Gleisen der westlichen Kunstgeschichte. Vielleicht wäre es aber noch interessanter, wenn die Gleise mal ganz neu verlegt würden. Oder ist es nur eine Zeitfrage, bis aus vielen Reinterpretationen und Verweisen auf den bröckelnden Kanon neue Bausteine werden, die keine vordefinierten Konstruktionselemente benötigen, um als neue Kunstgeschichtsnarrative tragfähig zu sein?

Neben der erwähnten Referenzialität in Stilen und Motiven wird die Ausstellung auch per Druckgrafik mit kunsthistorischer Prominenz flankiert. Eine grafische Version des weiblichen Treppenabstiegs von Marcel Duchamp ist am Eingang zu Taylors Bildern platziert. Wenn Klassiker der Kunstgeschichte neben (noch) nicht kanonisierten Arbeiten hängen, hat das mitunter den Beigeschmack von Stützstrümpfen. Die etwas fürsorgliche kunstgeschichtliche Unterfütterung setzt sich im Vorraum zu Mulleady fort. Druckgrafiken von Otto Dix (Lustmord, 1922) und Käthe Kollwitz (Vergewaltigung, 1907/08) schaffen eine unheilvolle Vorahnung auf die folgenden Exponate.

„Jill Mulleady & Henry Taylor:  You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

„Jill Mulleady & Henry Taylor: You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

In der Mitte dieses oberen Ausstellungsraums befindet sich eine Art achteckiger Glaspavillon, eine Arbeit von Mulleady, durch Wiederholung des Grundrisses architektonisch bestens eingepasst und nach etwas Bedenken und Betrachten auch konzeptuell durchaus stimmig: Vielteilige Spiegelungen der übereinandergelagerten Bilder evozieren ein Spiel von Referenzen, Bedeutungsebenen, Perspektiven. Nicht zuletzt ertappt sich der Ausstellungsbesucher selbst als Voyeur, entdeckt seine Silhouette zart hineingemappt in die Malereien, die in offener Sequenz unterschiedliche Szenen in einem Schlafzimmer zeigen. Ganz so drastische Bildgeschehen wie bei Kollwitz und Dix gibt es jedoch nicht zu sehen. Also eher ein Spannungsaufbau, der aufs Luftanhalten abzielt. Eine nackte Frau mit gespreizten Beinen lässt an Courbets Ursprung der Welt (1866) denken, auch wenn Mulleady aufs Close-up verzichtet. Dann ein leeres Bett mit Scherben am Boden, Pillen auf dem Nachttisch und rötlich gefärbter zerknäulter Bettdecke. Weiter sieht man den weiblichen Akt vom erstgenannten Bild in einer Rückenansicht ausgestreckt auf dem Bett, inklusive Spiegelbild. Es herrscht eher wenig erotische Stimmung in diesem Schlafzimmer. Das „schönste“ Bild (Interior / The Mirror Room, 2024) gibt einen verschwommenen Blick auf einen diffusen Geschlechtsakt hinter Glas frei. Hier kann man an Pierre Bonnard, ein bisschen an Balthus denken. Den Abschluss der Sequenz bilden zwei nackte Mädchen wie beim Veitstanz um ein imaginäres Lagerfeuer, das aber auch die brennende Behausung als möglicher Ort des Geschehens sein könnte. Hier scheint ein lässig fahriger Pinselduktus bei den Figuren wie von Kaye Donachie durch.

Wie angesprochen, sind der Umgang mit Kunstgeschichte und ihre Anverwandlung bzw. Eingemeindung wichtige Themen in oder sogar die Substanz von Mulleadys Ansatz, der sich weniger postmodern als zeitlose Referenz-Fusion-Position beschreiben lässt. Die Künstlerin legt ihre Quellen und Bezugspunkte offen. In der Regel schwirren einem beim Betrachten ihrer Bilder zwei, drei bekannte Maler*innen durch den Kopf, häufig, ohne dass sie sich innerhalb Mulleadys Werks klar zuordnen ließen. Ihre fahlen grüngrauen Szenarien aus überkünstelten Figuren, die Ende der Zehnerjahre entstanden und deren Haut wie mit verschimmelter Asche gemalt wirkte, erinnerten an Edvard Munch, Pierre Klossowski, Johann Heinrich Füssli oder die Neue Sachlichkeit. Während damals ein Stilhaushalt zwischen verhärtetem Magischem Realismus und Netflix-Fanstasy-Surrealismen vorherrschte, ist jetzt alles wie durch spätimpressionistische Lichtmalerei ineinander verwoben. Die Hartkantigkeit und der eingetrocknete Farbauftrag sind verschwunden. Der alten Modernelogik folgend, könnte man meinen, eine ultimative Wiedererkennbarkeit habe sich bei Mulleady aus ihren vielfältigen Melangen noch nicht entwickelt– was auch Absicht sein könnte.

„Jill Mulleady & Henry Taylor:  You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

„Jill Mulleady & Henry Taylor: You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

Henry Taylors Arbeiten wurden, vom Messebetrieb mal abgesehen, bisher wenig in Europa gezeigt. Neben Kerry James Marshall besetzt er aktuell sicher eine der präsentesten afroamerikanischen Malereipositionen seiner Generation, die für (kunst-)politische Rekontextualisierung stehen. Zu seiner Ausstellung „B-Side“ im Whitney Museum erschienen 2023 zahlreiche hymnische Reviews, die angesichts seiner Bilder im Schinkel Pavillon nicht unbedingt nachvollziehbar sind. Taylors drastische, rohe Malweise lässt aus mitteleuropäischer Sicht vorschnell an Bad Painting, Deskilling und entfernt auch an den Expressionismus denken. Bei genauerem Hinsehen finden sich kaum beschleunigte Pinselstriche. Wenn hier Körperkraft beim Malen im Spiel ist, dann eher in der Art und Weise, wie der Farbauftrag flach, wie gespachtelt, mit viel Druck auf die Leinwand gepresst wird. Druck machen die Bilder auch per beinahe emojiartiger Symbolkraft, wenn Josephine Baker, als Widerstandskämpferin, mit dem Louvre, dem British Museum und einem Sklav*innenschiff in einem Bild versammelt wird. Kommentare erübrigen sich. Je ikonografischer die Motive, desto schärfer und einschneidender wirken die Codes, die mehr als offensichtlich Rassismus und Kolonialismus der weißen westlichen Kunstwelt adressieren. Das schlechte Gewissen letzterer hat man so sicher am Haken.

Eine möglichst direkte Malweise, die auf essenzielle, dramatisierende Abkürzungen zielt, ist hier weniger auf polemisches Deskilling aus, als es früher bei den neuen Wilden der Fall war. Taylor arbeitet mit einem stark reduzierten malerischen Skillset, manchmal verzichtet er auch völlig aufs technische Können. Vielleicht kann aktuell das Humane nur dann glaubwürdig in Szene gesetzt werden, wenn es maximal prekär in Erscheinung tritt. Vielleicht rührt daher die oft gelobte mitmenschliche Stimmung, die Taylors Porträts für viele verkörpern.

Henry Taylor möchte nicht als Porträtmaler einsortiert werden, doch im Grunde interessiert er sich vor allem für Gesichter von Menschen. Doch um eine psychologisierende Tiefenwirkung im Sinne des klassischen Porträts zu entfalten, das die Porträtierten präziser zeigt, als sie sich selbst kennen, ist bei ihm zu wenig malerische Ausdifferenzierung im Spiel; mitunter arbeitet er mit deformierten Konterfeis, die sich für eine Regression des Individuums zu interessieren scheinen. Zu einem etwas absurden Erkennungszeichen werden die häufig wiederkehrenden, asymmetrischen Augenpaare. Eher lässt sich den Bildmotiven Taylors, die oft Familie, Freunde, Künstlerkolleg*innen, akzentuiert politisches Zeitgeschehen, aber auch Straßenbekanntschaften einbeziehen, ein inhaltliches Label wie „sozialer Realismus“ aufdrücken. Seine Genre- und/oder Porträtmalerei braucht keine maltechnischen Finessen oder Fertigkeiten, wie man sie beispielsweise bei Elizabeth Peyton findet. Es ist mitunter erstaunlich, wie sich trotz so viel anatomischer Ungenauigkeit immer wieder Erkennbarkeiten einstellen. Je radikal vereinfachter die gegenständliche Darstellung, desto schmaler der Grad einer sogenannten Qualität und ihrer Beurteilung. Falls es überhaupt darum geht. Beim vergleichenden Schauen erscheinen mir zwei, drei Bilder Taylors in der Ausstellung wirklich interessant und beachtlich, einige andere würden mir nicht fehlen. Das im Artist Talk hervorgehobene Me Me (2023), das den Künstler am Grab seines Vaters zeigt, ist meines Erachtens ein Beispiel für eine Viel-zu-schnell-Malerei, die – vielleicht wegen des emotionsgeladenen Motivs – noch schneller fertig werden wollte als Taylors andere Bilder. Was für meine Augenwinkel eher nach leidlich gelungenem Anfang wirkt, beurteilte Taylor in einem Interview mit der taz kürzlich zuerst ebenso, befand die Arbeit dann aber später für fertig. [2] Viele Bilder, so Kritiker Taylors, wirken als würde er beim Malen des einen bereits an das nächste denken. Tatsächlich entstehen die meisten innerhalb einer Session.

„Jill Mulleady & Henry Taylor:  You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

„Jill Mulleady & Henry Taylor: You Me“, Schinkel Pavillon, Berlin, 2024

Eine lesenswerte Review [3] beschreibt den Künstler als einen der wenigen relevanten Maler, der mit einem optimistischen „fuck you“ den ganzen malereihistorischen Pastiche-Positionen der Gegenwart etwas entgegensetzt. Da könnte sich auch Mulleady mit ihrem malerischen Labskaus-Repertoire angesprochen fühlen. Die grassierende Kriterienlosigkeit in der zeitgenössischen Kunst ist sicher auch durch ein retrogrades Malereiverständnis als Melting Pot besonders offensichtlich geworden. Gründe dafür gibt es viele mehr, zum Beispiel die Überproduktion und uneinholbare Unübersichtlichkeit, Likes als harte Währung statt – inzwischen verschwindender ¬– Kunstkritik oder zu viel globale Definitionsmacht einiger weniger Mega-Galerien. Falls man sich mit der Einschätzung unsicher ist, ob etwas relevant ist, reicht scheinbar leider oft ein Blick auf die Künstler*innenliste von Hauser & Wirth. Ist es eigentlich schlimm, wenn sehr viel gleichzeitig toll und Scheiße oder zumindest sehr vernachlässigenswert sein kann?

In dieser Ausstellung lassen sich gut zwei verbreitete aktive Umgangsweisen mit Kunstgeschichte beobachten: Bestehende Meisterwerke werden reinterpretiert, was immer auch zur Manifestierung der umgedeuteten Ausgangsbilder führt. Mal mehr, mal weniger, je nach Grad und Ausmaß der Dekonstruktion. Ein Stilmix, der mehrere verarbeitete Vorgängerpositionen ineinander verwebt, kreiert Déjà-vus, die sich kaum verorten lassen, und erzeugt eine Diffusion, die letztlich mit der Indifferenz des Pastiche mögliche Kriterien in die Flucht schlägt. Ist das doch einfach wieder (oder immer noch) ein Arbeiten am Posthistoire, an der Abschaffung des Zeitgenössischen? Es liegt einem das Wort bzw. der Stil auf der Zunge/im Auge, aber man kommt nie wieder drauf.

„You Me. Jill Mulleady and Henry Taylor“, Schinkel Pavillon, Berlin, 17. Februar bis 19. Mai 2024.

Gunter Reski ist Künstler und Professor für Malerei an der HfG Offenbach. Er lebt und arbeitet in Berlin/Offenbach /M.

Image credit: 1. Courtesy the artists, Galerie Neu, Gladstone Gallery, Hudgins Family Collection, Hauser & Wirth, Foto Frank Sperling; 2. Courtesy Eva Presenhuber, Foto Stefan Altenburger; 3. Courtesy the artists, Galerie Neu, Hauser & Wirth, Käthe Kollwitz Museum, Foto Frank Sperling; 4. Courtesy the artists, Galerie Neu, Gladstone Gallery, Hudgins Family Collection, Hauser & Wirth, Foto Frank Sperling; 5. Courtesy the artist and Hauser & Wirth, Foto Frank Sperling

Anmerkungen

[1]Artist Talk, 27.04.2024, Schinkel Pavillon, mit Jill Mulleady & Henry Taylor (Moderation Klaus Biesenbach).
[2]taz, 16.05.2024, „Wie eine Art Jazz“, Interview Henry Taylor (Maxi Broecking).
[3]Artreview, 12.01.2023, Terry R. Myers.