Im Sprachgewimmel Nadja Abt über Slavs and Tatars in der Galerie für zeitgenössische Kunst "Ў", Minsk
Um über eine Ausstellung der Berliner Künstlergruppe Slavs and Tatars in der Galerie Ў in Minsk zu schreiben, ist es vonnöten, zunächst ein wenig über den belarussischen Kontext zu berichten. Nach der Auflösung der Sowjetunion wurde die Republik Belarus 1991 unabhängig und wird seit 1994 autoritär von Aljaksandr Lukaschenka regiert. Von der historischen Multiethnizität und den zahlreichen Sprachen der Bevölkerung des Staates zwischen Polen, Litauen, Lettland, der Ukraine und dem großen Nachbarn Russland ist heute kaum noch etwas zu spüren. Nicht nur, dass unter dem sowjetischem Stern russisch als einzige Sprache gesprochen werden sollte, durch die deutsche Besatzung 1941 wurden 25 Prozent der Gesamtbevölkerung und fast alle Jüdinnen und Juden von Belarus deportiert und ermordet. Erst vor einem Jahr kam es politisch zu einer minimalen Öffnung gen Westen, wobei die obligatorischen Visa für eine Einreise nach Europa immer noch zu teuer für die zum größten Teil wirtschaftlich verarmte Bevölkerung sind.
Dass den belarussischen Kulturschaffenden eine Aufarbeitung ihrer Geschichte im autoritären Staat nicht leicht gemacht wird, lässt sich bei einem Besuch der Nationalgalerie feststellen: Zwischen russischen Meisterwerken der Malerei wie etwa Wassilij Wladimirowitsch Pukirjows „Die ungleiche Ehe“ (Original von 1862, die Minsker Version ist von 1875) finden sich kaum Werke heimischer Künstler*innen. Abstrakte Malerei oder etwa konzeptuellere Ansätze nonkonformistischer Künstlergruppierungen aus den letzten 60 Jahren sind nicht zu sehen. Dabei gäbe es etwa die Performancekünstlerin Ludmila Rusava zu entdecken, die ihren männlichen Nonkonformisten-Kollegen in nichts nachstand und deren Werk bisher kaum beachtet wurde. Lediglich eine Arbeit des belarussischen Künstlers Israel Basov sticht in seiner abstrakten Moderne der Figuren und Farben aus der Abteilung sozrealistischer Malerei heraus.
Derartige Geschichtslücken versucht die Sammlung der Galerie Art-Belarus nun, zumindest teilweise, zu schließen. Belarussische Meister der Moderne wie die jüdischen Vertriebenen Chaim Soutine und Marc Chagall werden erst langsam in die Sammlungen integriert.
Um als Künstler*in beruflich eine Karrierechance in Belarus zu erhalten, ist es fast unumgänglich, Mitglied der „Künstlerunion“ zu werden. Der Aufnahmeprozess erfolgt nach wie vor durch ein regierungskonformes Komitee, die Kategorien sind klassisch realistische Malerei und Bildhauerei. Zeitgenössische multimediale Ansätze von jungen Künstler*innen wie etwa Antonina Slobodchikova und Mikhail Gulin versuchen, der Union gegenüber eine andere Position zu beziehen.
Diese Hintergrundinformationen sind wichtig, um die Bedeutung der Ausstellung von Slavs and Tatars besser verstehen zu können. Damit ihr Projekt nachhaltiger über die Ausstellungsdauer hinaus wirkt und Bestand hat, begannen die Künstler*innen bereits vor einem Jahr mit den Recherchen in Belarus und entwickelten gemeinsam mit dem Goethe-Institut Belarus ein Residenzprogramm in ihrem Berliner Atelier, zu dem sie bisher vier belarussische Künstler*innen einluden. Das Programm wird über das Jahr 2019 hinaus bestehen und auf weitere Länder der Region ausgeweitet.
Bevor die Ausstellung „Моваланд“ (MOVALAND) in der Galerie eröffnet, hält Payam Sharifi, einer der Gründer von Slavs and Tatars, im Vortragssaal der Galerie TUT.BY die Lecture-Performance „The Transliterative Tease“. Hier präsentiert er seine sprachwissenschaftlichen Recherchen zur kyrillischen, lateinischen, hebräischen und arabischen Schrift im osteuropäischen und vorderasiatischen Raum. Sharifi erzählt vom Ge- bzw. Missbrauch der Alphabete, um Macht und Gebiete zu verschiedenen Zeiten voneinander abzugrenzen. Die Schriften werden zum politischen Machtinstrument, subtile Wort- und Lautverschiebungen innerhalb von Sprachen zur Metapher kriegerischer Territorienstreitigkeiten und Kolonisierungen. Dass diese Forschungen vor allem in Belarus von enormer Relevanz sind, beweisen die andauernden Konflikte um die Erforschung und Wiedereinführung des Belarussischen als offizielle Sprache. Eine interessante Geschichte, die sich hierzu erzählt wird, ist, dass durch zahlreiche Büchervernichtungen die belarussische Literatur und somit viele Sprachzeugnisse zwar ausgelöscht werden sollten, die russischen Befehlshaber jedoch die arabischen Schriften der tatarischen Bevölkerung "übersahen“. Somit war es möglich, belarussische Grammatik rückzutranskribieren und ins kyrillische Alphabet zu übertragen.
Die von Lena Prents kuratierte Slavs and Tatars-Ausstellung zeigt eine Installation aus Wandteppichen, der Teppich-Lesestation „Pray Way“ (2012), einer Soundinstallation und weiteren Objekten zum Thema der Linguistikgeschichte zwischen Berlin und dem Westen Chinas. Ein langer silbern glänzender Kebabspieß durchbohrt mehrere Bücher in kyrillischer, lateinischer und arabischer Schrift auf einem Sockel – die Arbeit „Kitab Kebab“ (2018) spielt auf die oben genannten historischen Gegebenheiten Belarus’ an. Die aus zehn Wandteppichen bestehende Reihe „Love Letters“ (2014) zeigt cartooneske Figuren, die den Zeichnungen des russischen Futuristen Wladimir Majakowski entlehnt sind – Buchstaben und Laute aus verschiedensten Sprachen fliegen durch die Motive. Die vielfachen Wendungen und Angleichungen der verschiedenen Alphabete im weiten Gebiet der ehemaligen UdSSR werden versinnbildlicht, und das Aufgreifen der Figur Majakowski als Schwärmer für die Oktoberrevolution wirkt in Minsk wie ein zynischer Kommentar auf die isolierte belarussische Gesellschaft. Teilweise sind die Wort- und Sprachspielereien von Slavs and Tatars etwas zu vereinfacht in schön anzuschauende Objekte übertragen worden – die Message wird in Wandslogans und bunten Schildern als warenförmige Kunst durchexerziert.
Im hinteren Raum der alten Fabrik installierte die Künstlergruppe die Soundarbeit „Lector (speculum linguarum)“ (2018): Eine als „Fürstenspiegel“ bezeichnete mittelalterliche Lehrschrift aus dem 11. Jahrhundert von Yusuf Khass Hajib Balasaguni wurde teilweise ins Belarussische, Arabische und Deutsche übersetzt und wird zeitgleich mit dem uigurischen Original vorgelesen. Das Motiv des „Sprachteppichs“ wird so vom Objekt im Frontraum zum Hörerlebnis umgewandelt.
Für das an der westlichen Kunstwelt geschulte (und verdorbene) Auge wirkt die Ausstellung von Slavs and Tatars teilweise sehr marktorientiert kalkuliert – doch in ein Land versetzt, das jenseits dieser Schule agiert und um dessen Geschichte es schließlich auch geht, funktioniert die Installation. Dies lässt sich vor allem an dem durch alle Generationen reichenden Eröffnungspublikum ausmachen, das in großer Anzahl herbeigeströmt über die Ausstellung diskutiert. Später am Abend packt Sharifi gerührt ein großes, schön verpacktes Geschenk eines älteren Minsker Tataren aus – im Paket befinden sich nebst einer Pralinenschachtel gesammelte alte Bücher zur tatarischen Geschichte mit vielen persönlichen Randnotizen, die der ältere Herr stolz mit der Künstlergruppe teilen möchte. Hier zeigt sich die Relevanz und Tragweite einer solchen Ausstellung, die Wellen schlägt für neues Selbstvertrauen einer marginalisierten belarussischen Gesellschaft.
"Slavs and Tatars: MOVALAND", Ў Galerie für zeitgenössische Kunst, Minsk, 22. Februar bis 21. April 2019.
Nadja Abt ist Künstlerin und Redakteurin bei Texte zur Kunst.