Oona Lochner über Jan Timme in der Galerie Nagel Draxler, Berlin Time knocks you down like a rolling ball
Ende Oktober, in den letzten Tagen ihrer Laufzeit, finde ich noch den Weg in Jan Timmes Ausstellung in der Galerie Nagel Draxler. Es ist Herbst geworden und mit mir wehen ein paar Blätter herein. Ansonsten ist der zur Straße gewandte Galerieraum ungewohnt leer – bis auf einen Schriftzug in leuchtendem Rot, Orange und Gelb („Leaf“, 2015). The wind acts like a magnet and pulls the leaf from the tree. Die Songzeile der australischen Indie-Pop-Band Go-Betweens liest sich wie ein lakonischer Kommentar zu meiner halbbewussten Wahrnehmung der Blätter. Der Fensterfront gegenüber an die Wand gebracht, sind die Worte in dem schmalen Raum kaum frontal zu erfassen und richten sich eher nach draußen, an die Passant/innen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Noch mehr gilt das in der Nacht, wenn Schwarzlicht die fluoreszierenden Buchstaben wie eine Leuchtreklame anknipst und den Galerieraum endgültig als Schaufenster markiert.
Im Nebenraum steht auf einer glänzend schwarzen Kiste ein Modell der Galerie („Tree“, 2015), in dem sich das Setting von Schriftzug und hereingewehten Blättern wiederholt; nachgebaut sind auch der Fußweg und die beiden Bäume vor der Schaufensterfront. Was im Modell als materieller Teil der Ausstellung auftritt, war im Galerieraum zunächst kaum wahrzunehmen – zur Eröffnung waren die Bäume noch grün belaubt. Die Herbstausstellung der Galerie entfaltet sich, orts- wie zeitspezifisch, gerade in den Veränderungen, die sie erfährt. Wie schon 2014 in der Ausstellung „Ready to Sleep (Arbeitstitel)“ in der Wiener Mezzanin Galerie, wo Z-förmige Heliumballons allmählich absanken, um sich schließlich zur Ruhe zu legen, rechnet Jan Timme mit dem Vergehen der Zeit. Die Blätter im Modell nehmen den Herbstbeginn vorweg, der Schriftzug antizipiert die Nachtsituation. 2002 waren in der Kölner Dependance der Galerie Nagel die fluoreszierenden Worte Work is a four-letter word nur nachts von der Straße aus zu lesen. Dort wie hier fügt Timme seiner Arbeit Zeiten der Betrachtung hinzu, verlängert und verändert zugleich die ästhetische Erfahrung.
Immer wieder setzt Timme Medien ein, die sich erst in der Zeit entfalten, nutzt Installationen und Referenzen auf Film und Musik, um seine Arbeiten der eindeutigen Bestimmung zu entziehen und sie erst von den Betrachter/innen zur Aufführung bringen zu lassen. Ein Bezugspunkt, etwa in Gruppenausstellungen wie „Romantischer Konzeptualismus“ (Kunsthalle Nürnberg, 2007) und „Runge Heute: Konstruierte Empfindung – Beobachtbare Zeit“ (Kunsthaus Hamburg, 2011), sind Philipp Otto Runge und die Romantik, ihre Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit und „als Inbegriff romantischen Kunstwollens das Postulat von der Vereinigung der Künste durch ihre Musikalisierung“ (Michael Lingner). Aber auch die Theorien ästhetischer Erfahrung, wie sie Juliane Rebentisch in ihrer „Ästhetik der Installation“ (2003) formuliert hat, und ihre These, dass in der Konfrontation mit einem ästhetischen Objekt die eigene Subjektivität erfahrbar werden kann, kehren wieder in Gesprächen und Texten. In der ästhetischen Erfahrung treffen zwei vermeintliche Gegensätze zusammen: die „prinzipielle Unabschließbarkeit der Erfahrung“ (Rebentisch) und das Momenthafte „der plötzlichen Empfindung“ (Christoph Menke). In Timmes aktueller Ausstellung kommt diese Gleichzeitigkeit von Moment und Dauer nicht nur in der Referenz auf den zyklisch wiederkehrenden Herbst zum Tragen. Sie liegt auch dem Bezugssystem zwischen Schriftzug und Modell zugrunde, das sich erst im Verlauf der Ausstellung schließt, wenn die Wahrnehmung der Eintretenden – dass der von ihnen hervorgerufene Windzug Blätter hereinträgt – sich bedeutungsstiftend auf den Schriftzug bezieht und ihn mit dem Modell verbindet, der diesen Moment bereits vorwegnimmt.
Dem Modell gegenüber hängt als letztes Element der Ausstellung eine gerahmte, unbetitelte Doppelfotografie. Ein Blick in ein Autofenster gibt den Schriftzug Hollywood Forever zu lesen, während sich im Glas der Fotograf und seine Begleitung spiegeln. Erst beim zweiten Hinsehen verraten eine Handbewegung und der leicht verschobene Bildausschnitt, dass es sich um zwei kurz nacheinander entstandene Fotografien handelt. Mit der Referenz auf Hollywood Forever, einen Friedhof in Los Angeles, steht dem kleinen Moment, der zwischen der Aufnahme beider Bilder liegt, das Für-Immer von Tod und Legende gegenüber. Nirgendwo mag die Spannung zwischen Moment und Dauer, zwischen der Flüchtigkeit von Fifteen Minutes of Fame und dem in Stein gehauenen Erfolg auf dem Walk of Fame, größer sein als in Hollywood, wo der Tod den Ruhm derer verewigt, deren Moment vorbei ist.
So fügt sich der melancholische Glamour des Friedhofsnamens in die Morbidität des Ausstellungstitels „Rotten Apple“, während die zwei wie zum Filmstreifen montierten Fotos noch einmal auf die Zeitlichkeit Bezug nehmen. Ihre Dopplung erinnert an die Installation „We’re one but we’re not the same“, die Timme 2011 im Kunsthaus Hamburg und in der Galerie Nagel zeigte. Sie positionierte drei Spiegel in einem gleichseitigen Dreieck, so dass Betrachter/innen sich selbst von hinten über die Schulter blickten, während an einer Wand vier Versionen derselben Fotografie hingen: Das Bild, kopiert aus Rosalind Krauss’ „Das Photographische“ (1998), wurde abfotografiert, der Abzug wieder fotografiert… – bis eine Reihe von vier auseinander hervorgehenden Bildern entstanden war. Die Zeitlichkeit der Betrachtung, die man erlebte, wenn man sich zwischen den Spiegeln bewegte, traf auf die Zeitlichkeit der Produktion. Die häufige Überbetonung der Rezipient/innenseite in den Theorien zur ästhetischen Erfahrung findet hier ein Gegengewicht, wenn die Spannung zwischen Produktion und Rezeption eher verstärkt als einseitig aufgelöst wird. Ebenso bringt auch das verdoppelte Hollywood Forever – gemeinsam mit der sorgsam veredelten Oberfläche der Kiste, die gleichzeitig Podest und Transportbox des Modells ist – die bereits vergangene, vom Künstler in die Produktion investierte Zeit zur Aufführung. Dies öffnet der ästhetischen Erfahrung einen Zugriff auch auf die Vergangenheit. Ein Glück. Denn Timmes Leuchtbuchstaben gegenüber, auf der anderen Seite des Rosa-Luxemburg-Platzes, hatte Paul McCarthy für sein Theaterspektakel „Rebel Dabble Babble Berlin“ einen fluoreszierenden, auf den Kopf gestellten Hollywoodschriftzug auf das Dach der Volksbühne montiert. Einige Wochen in die Laufzeit der Ausstellung hinein wurde er abgebaut – und glüht seitdem nach.
"Jan Timme: Rotten Apple", Galerie Nagel Draxler, Berlin, 17. September – 24. Oktober 2015.
Oona Lochner ist Kunsthistorikerin und arbeitet zurzeit an ihrer Dissertation über Feministische Kunstkritik in den 1970er Jahren.