Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

Rainer Bellenbaum über Pedro Costas "Cavalo Dinheiro" Das Ummünzen der Erinnerungen

Pedro Costa, „Cavalo Dinheiro“, 2014, Filmstill

„Dinheiro“ – dt. Geld –, so hieß das Pferd, das Ventura, Darsteller und gleichnamige Hauptfigur in Pedro Costas jüngstem Film „Cavalo Dinheiro“ (2014, Horse Money), auf den Kapverdischen Inseln zurückgelassen hatte, als er Anfang der 1970er Jahre die portugiesisch beherrschte afrikanische Heimat in Richtung Lissabon verließ. Dass die hier von jungen Offizieren vorangetriebene „Nelkenrevolution“ (1974) zwar bald die Unabhängigkeit auch der Inselkolonien nach sich zog, konnte den Auswanderer gleichwohl nicht zur Rückkehr bewegen. Auch nicht das prekäre Leben, das er als frühinvalider Maurer im Armenviertel von Amadero, Fontainhas in Portugal führte. 40 Jahre später indes ist jenes zurückgelassene, inzwischen längst von Geiern zerfressene Pferd tatsächlich zu einer Art Tauschmittel geworden – als Bestandteil von Venturas Erinnerungen, zu denen das Andenken an die verlorene Heimat ebenso gehört wie die Alpträume und Gewissensbisse über die in sozialen und blutigen Kämpfen als vergeblich erfahrene Revolution.

„Cavalo Dinheiro“ ist bereits Costas vierter Film, den er mit kapverdischen Einwanderern gedreht hat. Wie schon zuvor liefert deren nachhaltige Vertreibungserfahrung die Grundlage für das Gezeigte: ihre Depressionen darüber, die einst in der heimischen Inselkolonie erlebte Perspektivlosigkeit auch in Portugal nicht überwunden zu haben; die Drogenflucht vor der somit nachhaltig empfundenen Ausschließung und Fremdheit und schließlich die Verzweiflung darüber, selbst den in der Fontainhas-Community gewachsenen Zusammenhalt aufgrund des Abrisses der Siedlung und der städtisch verfügten Umquartierung zu verlieren. Hatte Costa sich aus diesen von ihm recherchierten Erfahrungen für „Ossos“ (1996) eine eigene Drehbuchgeschichte ausgedacht, so kennzeichnet die daraufhin folgenden Filme eine abwechslungsreiche und subtile Mischung aus dokumentarischen und fiktionalisierten Wahrnehmungen. Für die Filmkritik gehören deswegen die Filme „No Quarto da Vanda“ (2000, In Vandas Room), „Juventude Em Marcha“ (2006, Colossal Youth) wie auch „Cavalo Dinheiro“ zum Genre der ‚Docufiction’. Und der Kultur- und Gesellschaftstheoretiker Jacques Rancière sieht in ihnen ein produktives Beispiel für die von ihm den spätmodernen Künsten zugeschriebenen ästhetischen Programmatik einer Umverteilung des Sinnlichen. Doch dabei stellt sich die Frage, was das Verhältnis zwischen Zeugenschaft und Erfindung in Costas Filmen schwanken lässt.

Pedro Costa, „Ossos“, 1997, Filmstill

Bereits die Kulisse in „Cavalo Dinheiro“ vermischt Vorgefundenes mit künstlicher Zusammensetzung: Höhlenartige Gänge, Fabrikruinen, Kellerflure, Betriebskantinen, nächtliche Wege und eine moderne metallisch glänzende Aufzugskabine bilden eine imaginäre Topik, die zwischen Gefängnis und Krankenhaus changiert. Die Figuren reden, als befänden sie sich bei einem Verhör und gleichzeitig bei einer Diagnose oder einer konspirativen Begegnung. Ventura bringt seine Erinnerungen in diese Dialoge sowohl als Darsteller wie auch als Mitautor ein, gleichwohl offenlassend, wie sehr das Gesprochene seiner tatsächlichen Biografie oder auch ergänzender Fantasie folgt. Persönliches Gedächtnis und die historischen Daten der Revolutionsjahre verschränken sich, episch vorgetragen in stoischen Rollenspielen sowie als flüsternde Lektüre von Botschaftsbriefen, Geburtsscheinen oder Heiratsurkunden. Für die Figur Ventura ist der Rückblick auf die politischen und militärischen Ereignisse mit der traumatischen Erinnerung an eine Messerstecherei verbunden, die er sich mit einem kapverdischen Landsmann geliefert hatte. Wenn er dessen Tod gegenüber der Witwe Vitalina Varela (auch ihre Figur nach der Darstellerin selbst benannt) bestreitet – obwohl diese ihm die amtliche Sterbeurkunde ihres Mannes vorliest – verweist dies nicht nur auf die Heterogenität von persönlicher Erinnerung und amtlicher Geschichte; überdies lässt der Film damit einen möglichen Hintergrund widerstreitender Interessen erahnen, etwa zwischen der Gewissensnot eines überlebenden Täters und dem Anspruch auf Witwenrente einer anderen Überlebenden.

Pedro Costa, „Cavalo Dinheiro“, 2014, Filmstill

Erinnerung, Ausgedachtes und Dokument erscheinen in „Cavalo Dinheiro“ als Versatzstücke, magisch zusammengehalten vom Instinkt des kunst- und filmhistorisch versierten Bildermachers Costa. Nicht nur versteht dieser es, mit einfachen filmtechnischen Mitteln an malerische Lichtverläufe Alter Meister anzuknüpfen oder die Eigenarten seiner Protagonisten auf Ikonen der Filmgeschichte zu beziehen (etwa Venturas zitternde, langgliedrige Hände auf diejenigen von Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“). Überdies verfügt der portugiesische Regisseur über einen Kombinationssinn, der selbst die still posierenden Straßenmimen in Lissabons Touristenvierteln zu Antagonisten seiner Hauptfigur werden lässt. Eine hiervon inspirierte Szene mit Ventura und einem in Bronze erstarrten Revolutionssoldaten – zwanzig Minuten ausschließlich im Nicht-Ort der Fahrstuhlkabine spielend, halb Dialog, halb Tableau vivant – springt mit ihrem vielstimmigen Soundtrack zwischen biografischen und historischen Perspektiven, zwischen den Zeitläufen von Arbeitsleben, Familienplanung, Vergnügen, Prostitution, Invalidität und Revolutions-Chaos. Wenn dabei ein schnippiges Lächeln den sonst weitgehend melancholischen Gesichtsausdruck Venturas plötzlich für einen Moment unterbricht, versetzt dies die Lasten und Gültigkeit der Erinnerung erneut in Bewegung.

Pedro Costa, „Cavalo Dinheiro“, 2014, Filmstill

Wesentliche Intention von „Cavalo Dinheiro“ sei es gewesen, so Costa beim Publikumsgespräch anlässlich der Berliner Uraufführung im Kino Arsenal, Ventura die Möglichkeit zu geben, seine Erinnerungen zu vergessen. Und nur scheinbar steht dieser Anspruch im Gegensatz zur elegischen Revue, die der Film aus den biografischen Momenten seines Hauptdarstellers zieht. Um die besondere Funktion dieser Erinnerungsaktivität einschätzen zu können, lohnt sich ein Rückblick auf Costas inzwischen mehr als zwanzigjährige Annäherung an die Fontainhas-Community. Begonnen hatte diese Annäherung mit dem Spielfilm „Casa de Lava“ (1994), den der Regisseur auf den Kapverdischen Inseln gedreht hatte und nach dessen Dreharbeiten die mitwirkenden Inselbewohner dem Regisseur Briefe für ihre Angehörigen in Portugal anvertrauten. Nicht nur erhielt Costa durch diesen Botendienst Zugang zu Fontainhas; zudem beindruckte ihn die Erregung, mit der die Empfänger die Briefe lasen. Das durch diese Begegnung ermöglichte Filmprojekt „Ossos“ stieß bei den besuchten Einwanderern allerdings nur teilweise auf Gegenliebe. Als der Regisseur nach Maßgabe standardisierter Filmproduktionen mit LKWs voller Filmtechnik in das Armenviertel eindrang, scheuten die prekär Lebenden nicht nur die hellen Scheinwerfer sondern auch die vom Regisseur vorgefertige Verantwortungs-Story um ein junges Elternpaar, das sein Baby verkaufen will. Einige Darsteller und Darstellerinnen weigerten sich, die vom Regisseur mitgebrachten Dialoge zu sprechen. Gleichwohl ließen sie es zu, sich bei der Probe der Szenen stumm filmen zu lassen. Beeindruckt vom Widerstand der Bewohner reduzierte Costa mit seinem folgenden Projekt die Vorgehensweise radikal. Für „No Quarto da Vanda“ suchte er, lediglich mit einer handlichen Videokamera ausgerüstet, monatelang täglich von morgens bis abends – wie ein Arbeiter – allein das Viertel auf, um die häusliche und nachbarschaftliche Lebenswelt zweier Schwestern zu beobachten, während gleichzeitig der Abriss der Siedlung vor sich ging und der Bagger immer näher an Vandas Zimmer heran rückte. Ohne Frage überließ der Regisseur seinen Protagonistinnen hier stärkeren Eigensinn. Mit großen Anteilen bestimmen die Selbstdarstellung Vandas und Zitas – ihr Husten, ihre Schreie, ihr Schweigen, ihr immer wiederkehrender Drogenkonsum – den Rhythmus dieses Films. Vermutlich ist es diese Mitbestimmung, die Jacques Rancière in „No Quarto da Vanda“ ein poetisches und wirksames Spannungsverhältnis erkennen lässt zwischen der Zähigkeit und Reflexionsfähigkeit der Protagonisten und ihrem Schönheitssinn für ein malerisch dunkles Interieur mit Kerzenlicht [1] einerseits und der von außen kommenden Vertreibungsmaschine andererseits. Der Regisseur ist in diesem Fall ein Grenzgänger, insofern er, von außen kommend, jene „ästhetischen Möglichkeiten“ zur Ansicht bringt und den „andauernden Triumpf“ (Rancière) der Einwohner, ihre gedämpften Stimmen, kleinen Handlungen und zähen Körper gegen den Abrisslärm und die Verdrängung herausfordert und als Editor arrangiert.

Pedro Costa, „Cavalo Dinheiro“, 2014, Filmstill

Diese Grenze zwischen einer problematischen Lebenswelt und der von außen kommenden Darstellungsabsicht (oder Maßregelung) verflüssigt sich mit den folgenden Fontainhas-Filmen allerdings zunehmend, insofern die prekär Lebenden nun selbst an den szenischen Entwürfen beteiligt sind. Symptomatisch fungiert Ventura nach seiner Hauptrolle in „Juventude Em Marcha“ (2006, Colossal Youth) mit „Cavalo Dinheiro“ zum zweiten Mal als zentraler Protagonist. Indem seine Erinnerungen nicht nur für eine herangetragene Interpretation oder Aufdeckung sondern ebenso für ihn selbst zum Spielmaterial werden, avanciert Ventura aus der Position des Zeugen und Mitwirkenden in den Status des Mitautors. Damit bleibt es nicht bei der bloßen Darstellung ästhetisch-realer Spannungsmomente, wie sie Rancière in Bezug auf Costa (und überhaupt auf die seiner Ansicht nach dem „ästhetischen Regime“ unterworfenen spätmodernen Künste) immer wieder neu herausstellt. Der Philosoph geht sogar so weit, in „Juventude Em Marcha“ eine Explosion jenes Außen-Innen-Verhältnisses zu sehen, wenn etwa die Figur Venturas im Gulbenkian Museum steht, das er als Maurer zwar mit aufgebaut hatte – in dessen ausgestellter Kunst er jedoch nicht eingeweiht ist, und wo er darum, statt die Malereien von Van Dyck oder Rubens zu bewundern, eher die Wände darüber auf ihre Risse im Mauerwerk hin untersucht. [2] Was die fortgesetzten Kollaborationen Costas, Venturas und anderer beteiligter Akteure über die poetische Konfiguration hinaus allerdings fraglos sichtbar machen, ist der praktische Austausch von Erzählwissen. Nicht allein der Regisseur arrangiert hier die Erinnerungen ‚seiner’ Protagonisten. Deutlich wird im Verlauf der Projekte die reflektierte Wiederaneignung dieser Erinnerungen durch die Beteiligten als Elaboration zwischen authentischer und erprobter Darstellung, als Aktivierung geschichtlich geronnener Erfahrung. Darum wäre es verkürzend oder verklärend, die Figur Venturas als ein Gespenst zu sehen. Die zahlreichen Varianten, mit denen „Cavalo Dinheiro“ Venturas Trauma von einer Messerstecherei in Szene setzt – als Nacherzählung, Traumspiel, als Improvisation mit wechselnder Rollenverteilung – zeigt vielmehr, wie Erinnerung sich hier nicht nur in Vergessen sondern mehr noch in Wissen – wenn nicht in „Geld“ so doch – in ein von Betroffenen und Beobachteten wiederangeeignetes (Film-)Produktionsmittel materialisiert.

Pedro Costas, "Cavalo Dinheiro" (Horse Money), Portugal 2014, 104 Minuten.

Anmerkungen

[1]Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin, 2006, S. 98.
[2]Vgl. Jacques Rancière, Venturas Brief (Costa), in ders. Und das Kino geht weiter. Schriften zum Film, Köln, 2012, S 192f.