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REFLEXIVE INFRASTRUKTUREN Romina Dümler über Reinhard Mucha in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20 Und K21), Düsseldorf

Reinhard Muchas Installationen und Skulpturen verbinden Gebrauchsgegenstände, Memorabilia, Archivalien und autobiografisches Material zu beziehungsreichen Reflexionen soziopolitischer und institutioneller Strukturen. Kontinuitäten sowie Brüche in der Geschichte der Bundesrepublik thematisierend, verweist Muchas Werk zunächst vor allem in die jüngere Vergangenheit und damit auf den eigenen Entstehungskontext. Indem der Künstler seine Arbeiten jedoch immer wieder aktualisiert und individuelle Erfahrungen mit kollektiven vernetzt, gelingt es ihm, intergenerationell relevant zu bleiben, argumentiert Kunsthistorikerin Romina Dümler mit Blick auf die umfassende Überblicksschau, die noch bis Sonntag in Düsseldorf zu sehen ist.

Man kennt Reinhard Mucha (wenn man ihn kennt; denn in den letzten zwei Jahrzehnten war seine Arbeit nicht allzu präsent) vor allem als Bildhauer, als Postminimalist – und als großen Eisenbahnenthusiasten. Züge, Bahnhöfe, Schienen als Motive, materielle Fundstücke und Metaphern durchziehen sein Werk. Paradigmatisch für dieses „Lebensthema“ steht Muchas Wartesaal (1979–1982) [1] , der seit der documenta X nicht mehr ausgestellt war. Nun ist er unter den über 80 Werken, die eine umfangreiche Überblicksschau in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen unter dem Titel „Der Mucha – Ein Anfangsverdacht“ versammelt.

Wartesaal ist im Grunde eine Verräumlichung des Bahnhofsverzeichnisses aus den Jahren 1943–1948. Den Kern der Installation bilden Eisenregale, in denen gleichförmige Schilder aufbewahrt werden. Der Speicher von „Ortsnamen und ihrer kollektiven Erfahrung“ [2] strahlt Ruhe und Kühle aus. Dazwischen, in den imaginären Verbindungen der aufgerufenen Stationen, liegt eine greifbare Potenzialität: die Möglichkeit schnellen Fortkommens, des Reisens und Entdeckens, industriellen Fortschritts– letztlich aller Versprechen der Moderne, auf die die Arbeit ebenso Bezug nimmt wie auf den Nationalsozialismus; durch die Zäsur des zweiten Weltkriegs heißen viele der benannten Orte heute anders. Zudem verkörpert Muchas Schlüsselwerk die Verkehrsinfrastruktur als System.

Der Begriff der Infrastruktur bezeichnet die Gesamtheit von Systemen, Institutionen, Anlagen und immateriellen Gegebenheiten, die technischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen unterliegt. Wer den Begriff angesichts der in der Ausstellung gezeigten Arbeiten im Hinterkopf behält, kann deren vielschichtige, werkübergreifende Zusammenhänge besser verstehen. Mucha, Jahrgang 1950, geboren und immer noch in Düsseldorf arbeitend und lebend, thematisiert die Wirtschaftswunderjahre der jungen BRD, aber auch die Auswüchse ihrer ausufernden Bürokratie. Oftmals ironisch und stets misstrauisch gegenüber blinder Fortschrittsgläubigkeit, widmet sich Muchas Werk diesen Themen, wobei der Künstler die strukturelle Verfasstheit der Gesellschaft stets mitreflektiert. So arbeitet er sich auch an den Kunstinstitutionen, in die er eingebunden ist, ab; thematisiert wiederholt die Praxis des Ausstellens und Ausgestelltwerdens. Die Räume Frankfurter Block (2012) und Stockholmer Raum (Für Rafael Moneo) (1998) im K20 zeigen dies mit überbordenden Referenzen an vergangene Ausstellungssituationen eindrucksvoll.

Im K21verdeutlicht Das Deutschlandgerät (1990) – Muchas Beitrag für die Venedig Biennale 1990, der seit 2002 dort permanent installiert ist –, wie vielschichtig und erstaunlich freigiebig der Künstler mit Erneuerungen, Erweiterungen und Verortungen der eigenen Werke umgeht. Mit ihrem fahlen Neonlicht, der klackernd-dröhnenden Tonspur einer nahe liegenden Autobahn, durch all die herumliegenden Kabel, die „den Anschluss der Installation an die technischen Infrastrukturen der Institution“ [3] andeuten, wirkt die Arbeit an diesem Ort wie die ominöse „Schaltzentrale“ des Museums. Zudem ist sie hier sinnfälliger Ausgangspunkt für die reichhaltige Präsentation, die um Das Deutschlandgerät herum konzipiert wurde. Dazu wurde die Installation auf die angrenzenden Räume hin geöffnet, in denen sich mehrteilige Ensembles mit losen Gruppierungen solitärer Skulpturen abwechseln. Letztere wurden nach thematischen oder formalen Kriterien zusammengestellt, die sich nicht immer gleich auf den ersten Blick erschließen.

Dass die Überblicksschau nicht Retrospektive heißt und keiner klassischen Chronologie folgt, wirkt hingegen schlüssig und konsequent. Denn dies trägt Muchas eigenem Blick in die Vergangenheit Rechnung, der wiederum eng mit konzeptuellen und konstruktiven Prinzipien seiner Arbeitsweise verknüpft ist. In Muchas Verständnis von Geschichte sind jederzeit Aktualisierungen, Neuorganisationen und Einschübe erlaubt, gar notwendig, um Werke wirksam in die Gegenwart zu überführen. Darauf weisen bereits die Werktitel hin, hinter denen sich fast immer mehrere Jahreszahlen akkumulieren. Die in eckige Klammern gefassten Datierungen dokumentieren, wann Überarbeitungen vorgenommen wurden. Sie wirken damit als das zeichenhafte Äquivalent zu den Kanthölzern und Aluminiumprofilen, die Muchas größte Werkgruppe, die sogenannten Wandstücke, ausmacht. Einige dieser meist querrechteckigen Kästen sind formal abstrakt, so zum Beispiel Schuld (2015), eine Komposition, in der ein zerteilter, gegeneinander gespiegelter Schienenkreis auf vertikale Metall- und Holzstreben trifft. Birken (2015) zeigt sich bereits von vorn als ein sorgfältig geplantes System aus Verkantungen, Auspolsterungen, Hohlräumen und Volumina. Die meisten Variationen dieser Werkgruppe erkennt man spätestens in der Seitenansicht als komplexe Aufbauten. Jede Schicht addiert sich sichtbar auf die nächste. Begrenzung erfahren Muchas Wandstücke durch Glasscheiben, womit sie an institutionelle Displays, Vitrinen und Rahmensysteme erinnern.

Die US-amerikanische Minimal Art der 1960er Jahre und deren Neudefinition der Skulptur ist in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Bezugspunkt für Mucha. Wie Donald Judds Specific Objects sind seine Wandstücke beides: Bild und Skulptur. Auch er bedient sich meist industrieller, handelsüblicher Materialien, die er in eine präzise Formensprache übersetzt.

Wie Robert Morris 1967 in seinen „Bemerkungen zur Skulptur“ argumentierte, erfassen minimalistische Objekte, bei denen das Material hinter stereometrische Strukturen zurücktritt und diese gleichsam bedingt, „die kulturelle Infrastruktur des Gestaltens“ [4] . Auch Mucha arbeitet mit dieser Überschreitung konstruktiver Logik. Im Wissen darum, dass die semantische Neutralität des Materials eine Illusion ist, reichert er seine Arbeiten gezielt mit Fundstücken an. Der zeithistorische Kontext, ja, alle Assoziationen und Erfahrungen an und mit den Dingen, die zumeist mal Gebrauchsgegenstand oder Schriftstücke waren, werden bewusst inkorporiert, um den Deutungsraum auszudehnen. Mucha hat dies am Beispiel von Linoleum angesprochen: Für ihn suggeriere das Material vor allem die eigene Jugend, doch könne man ebenso an Finanzämter oder Sozialwohnungen denken. Im Sinne einer „kollektiven Biografie“ sollen seine Werke erweiterte Erfahrungshorizonte vermitteln. [5] Obwohl letztere von Muchas eignem Leben geprägt sind, funktioniert dies – dank seines Gespürs für objektifizierte und materielle Kontinuitäten – generationenübergreifend.

Besonders persönlich, beinahe intim und doch exemplarisch erscheinen in diesem Zusammenhang die autobiografischen Arbeiten. Die Installation Kopfdiktate (1980), die wie ein Zeitstrahl konzipiert ist und einen kompletten Ausstellungsraum des K21 einnimmt, kombiniert Seiten aus Grundschulschreibheften des Künstlers mit fotografischen Porträts seiner ersten 30 Lebensjahre. Die privaten Fotos zeigen Mucha beispielsweise als kleinen Jungen, der staunend an einer Lok hochblickt; später als jungen Erwachsenen, der stolz mit seinem Motorrad posiert. Dabei schwingt einerseits eine zu Bild erstarrte Normativität mit, andererseits (der Wunsch nach) Freiheit und Unabhängigkeit. Ersteres korrespondiert, Letzteres kontrastiert mit den Forderungen eines rigiden Schulsystems, das sich in den Heftseiten ausdrückt: „Ich darf in der Schule nicht schwätzen“, „Ich muss leise sein“ ist da in ungelenker Handschrift zu lesen.

Schnee von gestern – Auszüge aus dem großen Kalender III (1964–1975) legt durch das fein säuberlich gerahmte Arbeitszeugnis offen, dass Mucha mal als Krankenpfleger arbeitete. Andere originale Dokumente dieses entlang der Wände der Grabbehalle, K20, aufgereihten Archivkonvoluts zeugen von seinem Wehrdienst sowie einer Lehre als Schmied, die er vor seiner Immatrikulation an der Düsseldorfer Kunstakademie absolvierte. Themen wie Arbeit, gesellschaftliche Norm und Klasse setzen sich in Der Aufstieg (2007) fort: Neben einer hohen Vitrine hat der Künstler Ausgaben des gleichnamigen Magazins gestapelt. Sein Vater hatte die Zeitschrift für Erfolg im Beruf abonniert [6] , die zeitweise auch die Schlagworte „Wissen. Bildung. Können“ als Untertitel führte.

Muchas subtile Thematisierungen der sozialen Infrastrukturen, die sein Leben und die so vieler anderer prägten, fragen nach dem Verhältnis zwischen „Machen“ und „Gemachtheit“ und verankern sein Werk in einem Diskurs, der sich in den 40 Jahren seines Schaffens ausdifferenziert und verändert hat. Indem er nicht nur umfassend die eigene sozialhistorische Situation als Hintergrund von (künstlerischer) Produktion reflektiert, sondern weit über diesen Kontext hinausweist, bleibt Mucha – im Gegensatz zur alten BRD, deren Aura diese Schau durchzieht – aktuell.

„Der Mucha – Ein Anfangsverdacht“, 3. September 2022 bis 22. Januar 2023, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20 und K21), Düsseldorf.

Romina Dümler ist Kunsthistorikerin und Kuratorin. Sie lebt in Düsseldorf.

Aus rechtlichen Gründen können die Bilder, die diesen Text zum Zeitpunkt der Veröffentlichung begleitet haben, nicht mehr gezeigt werden.

ANMERKUNGEN

[1]Die im Text genannten Werkdaten beziehen sich auf das Entstehungsjahr der Arbeiten. Muchas dokumentarische Arbeitsweise dringt bis in die Werkangaben vor und listet ebenso größere Bearbeitungen der Werke auf. Zu Gunsten der Lesbarkeit wurde auf diese Ansammlungen von Daten im Text verzichtet.
[2]Patrick Frey, „Reinhard Mucha. Verbindungen“, in: Parkett, 2, 1987, S. 109.
[3]Sebastian Egenhofer, „Verräumlichtes Gedächtnis, in: „Der Mucha – Ein Anfangsverdacht“, Ausst.-Kat., München, 2022, S. 176.
[4]„Bemerkungen zur Skulptur, Teil 3: Fußnoten und Gedankensprünge (1967)“, in: Susanne Titz/Clemens Krümmel (Hg.), Robert Morris – Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich 2010, S. 47.
[5]Vgl. Muchas Aussagen zur Minimal Art und zum Begriff „kollektive Biografie“ in: Frey, S. 112.
[6]So der Kurator Falk Wolf im Gespräch mit der Autorin.