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BÜRGERLICHES RECHT UND SOZIALE PRAXIS von Thomas Locher

„Carey Young: Palais de Justice“, Paula Cooper Gallery, New York, 2017, Ausstellungsansicht

„Carey Young: Palais de Justice“, Paula Cooper Gallery, New York, 2017, Ausstellungsansicht

Das Rechtssystem lässt von Machtmissbrauch Betroffene viel zu häufig im Stich und die soziale Praxis bietet oft den einzigen Handlungsrahmen. Mit dieser Diskrepanz, die Täter*innen allzu gut für sich zu nutzen wissen, setzt sich Thomas Locher in seinem Beitrag auseinander, der unsere aktuelle Ausgabe „Ohnmacht“ begleitet. Dabei pocht der Künstler und ehemalige Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig auf die notwendigen Änderungen des „bürgerlichen Rechts“, worunter er sämtliche Rechtskomplexe versteht, in denen sich Bürger*innen bewegen. Denn Ahndungen sind beispielsweise im Personalrecht so gut wie nicht vorgesehen, was zur Folge hat, dass Konsequenzen häufig nur erfolgen, wenn ein Fall vor Gericht als strafrechtlich relevant erachtet wird.

In meinen künstlerischen Arbeiten versuche ich seit den 1990er Jahren verschiedene Begriffe des Rechts in kritischen Diskursen zu bearbeiten. Inhaltlich sehe ich mich in einem Nahverhältnis zu einer institutionskritischen Praxis – im Feld des Rechts – verortet. Als Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig war ich gemeinsam mit den Gremien verpflichtet, dafür zu sorgen, dass rechtliche Bestimmungen, wie u.a. das Hochschulrecht, sowie politische Werte und Vorstellungen einer sozialen Praxis, die in die Selbstverwaltung der Hochschule hineinreichen und von ihr formuliert wurden, geachtet werden. Was ich in der künstlerischen Praxis noch kritisch reflektieren konnte, wurde durch den Positionswechsel feststellbarer Widerspruch: die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen einer sozialen Praxis und den Ansprüchen des bürgerlichen Rechts. Diese beiden Felder sind nicht gänzlich unverbunden. Mit welchen Praktiken lassen sie sich besser verbinden?

Ist es nicht die Aufgabe des Rechts, die Gewalt in der Gesellschaft einzuhegen? Ist es nicht die Aufgabe des Rechts, die Gewalt zurückzuweisen, die im Machtmissbrauch zutage kommt? Es ist nicht hinnehmbar, dass einige Angehörige einer Institution mehr unter dieser Gewalt zu leiden haben als andere, und es ist nicht hinnehmbar, dass große Teile unserer Gesellschaft sich in ähnlichen Konstellationen befinden.

Das herrschende Recht ist das Recht der Herrschenden und privilegiert immer noch das normative, heterosexuelle weiße cis Subjekt, es fetischisiert individuelle Privilegien, die mit Freiheit verbunden werden, und vernachlässigt die berechtigten sozialen Ansprüche und Forderungen nach Gleichheit. Das Recht, so wie es ist, wird sämtliche Formen an Machtmissbrauch nicht begrenzen können. Das bestehende Recht wird einen Wandel zu einer wirklichen und gerechten Gleichheit nicht herstellen können. Das Recht, wie wir es kennen, erklärt unabdingbare Werte und reproduziert gleichermaßen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. [1] Das Wir muss sich für ein neues Recht einsetzen. Wir müssen die jüngere Generation in ihren berechtigten Forderungen nach wirklicher Gleichheit und Anerkennung, in den Forderungen nach Umgestaltung des Rechts bedingungslos unterstützen, damit das Werden einer Erneuerung nicht mehr kontinuierlich in eine unbestimmte Zukunft verschoben wird.

An Hochschulen stoßen zwei Bereiche mit je unterschiedlicher rechtlicher und politischer Gültigkeit aufeinander: die Ordnung der sozialen Praxis, die selbstbestimmt ist und die immer wieder an aktuelle Bedingungen und Ideen angepasst werden kann, und das allgemeine bürgerliche Recht in den bekannten Formen. Hochschulen als Gemeinschaft haben sich selbstverpflichtende Verfassungen gegeben mit der Intention, eine diskriminierungskritische Sensibilisierung in der Lehre und in den Gremien der Hochschule zu fördern. Dabei handeln Hochschulen oft nicht von selbst: Es sind die kritischen Initiativen von Studierenden – deren Impulse diskriminierungskritische Formate setzen – und die vielfältigen Proteste, Kämpfe und Debatten, welche die Hochschulen mit ihren Verhaltensmustern, Routinen und Zeichensystemen in Bewegung versetzen.

Leitbilder und Leitlinien sind Möglichkeiten zu Veränderungen eines gemeinsamen Handelns. In der alltäglichen Praxis einer Hochschule schweben die Leitlinien jedoch in einer Sphäre der Freiwilligkeit, sie sind rechtlich nicht wirklich im institutionellen Alltag verankert. Ihre Stärke ist der Versuch, den Subjekten an einer Institution gerecht zu werden, ihre Schwäche ist ihre mangelnde Durchsetzung. Die Leitlinien sind notwendig, weil sie als soziale Praxis in den Institutionen auf das allgemeine bürgerliche Recht, das einer anderen Ordnung des Urteilens angehört, Druck ausüben können. Die sozialen Kämpfe in der Gesellschaft sind notwendig, um Institutionen zu bewegen und diese müssen in den Institutionen weitergeführt werden, um auf das bürgerliche Recht einwirken zu können. Hochschulen müssen sich bewegen und den Kampf für eine selbstbestimmte soziale Praxis annehmen, der den Namen verdient.

Die soziale selbstbestimmte Praxis funktioniert vor allem als antagonistischer Selbstversuch, die Gewalt, die sich nicht nur im Machtmissbrauch, sondern auch in anderen Formen an Hochschulen zeigt, zu begreifen: Ich beginne mich zu verändern und für Veränderung einzusetzen. Dazu gehört die schmerzliche Erfahrung, dass Gewalt auch die eigene sein kann. Und dann, in einem weiteren Schritt erst, kann eine gewonnene Erkenntnis und Sensibilisierung über die Formen der Gewalt in die kommunikative Kultur einer Institution einfließen. Hochschulen können das. Rechtlich bindend ist soziale selbstbestimmte Praxis nicht. Konflikte, Beschwerden und besonders der Fall des Machtmissbrauchs sind die Momente, in denen die Diskrepanz der selbstbestimmten sozialen Praxis und dem herrschenden Recht zutage treten kann. Disziplinarische Konsequenzen, um Machtmissbrauch zu ahnden, sind im Hochschul- und Personalrecht jedoch so gut wie nicht vorgesehen. Bleibt nur das geltende bürgerliche Recht, das dann entscheidet, ob ein Fall strafrechtlich relevant wird und was überhaupt Recht und Unrecht ist. Täter*innen wissen allzu gut, wie mit der Diskrepanz der beiden rechtlichen Bereiche umzugehen ist und vor allem, wie mit anwaltlicher Hilfe der Raum der sozialen Praxis und der Rechtsraum gegeneinander ausgespielt werden kann: Unterlassungsklagen, Mahnungen und Drohungen, die Inanspruchnahme der Unschuldsvermutung und die Bereinigung kritischer Nachrichten in Printmedien und sozialen Netzwerken. Das Programm ist bekannt.

Hochschulen stecken im Dilemma der voneinander getrennten und unterschiedlich verpflichtenden rechtlichen Räume. Das geltende Recht, das auch eine Gewalt darstellt, schützt die private Sphäre, die souveräne Entscheidung und Absicht eines Subjekts, das sich eine Freiheit herausnimmt (die diesem Subjekt nicht zusteht, weil sie anderen Subjekten schadet). Diesem Freiheitsanspruch steht in einem asymmetrischen Verhältnis der Anspruch der sozialen selbstbestimmten Praxen entgegen, der auch ein Anspruch aller Privilegierten sein muss. Das Recht verspricht den Schutz der Freiheit des individuellen Subjekts. Es postuliert verfassungsmäßig für alle geltend den Grundsatz der Gleichheit, welches eine gerechte, gleiche und gewaltfreie Existenz ermöglichen soll. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist allerdings eine ganz andere.

Weitere aktuelle Beiträge zum Thema: „Vom Private View ans Licht der Öffentlichkeit“: Überlegungen zur Sichtbarmachung sexualisierter Gewalt im Kunstfeld von Sabeth Buchmann, Christina Clemm, Iris Dressler und TEXTE ZUR KUNST und „Die Stille lesen lernen“: Soup du Jour über solidarisches feministisches Handeln gegen strukturelle Ungleichheiten.

Thomas Locher ist Künstler. Seine Praxis umfasst die Beziehungen von Sprache und Schrift, von Visualität und Textualität und vielfältige Subjekt- und Objektverhältnissen. Seit den frühen 1990er Jahren beschäftigt er sich mit Fragen zu Recht, Gerechtigkeit und Gewalt. Es sind Arbeiten zum Grundgesetz, zu Aspekten der Menschenrechte, insbesondere zum Begriff „Flüchtling“, und zu Notstandsgesetzen. Thomas Locher war von 2008 bis 2016 Professor an der Königlich Dänischen Akademie der Bildenden Künste und von 2017 bis 2022 Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.

Image credit: © Carey Young, courtesy Paula Cooper Gallery, New York, photo: Steven Probert

ANMERKUNGEN

[1]Siehe hierzu Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2018, S. 397. Christoph Menke sagt, dass das Recht ungerecht ist, weil es nur Rechte der Teilnahme und nur Rechte der Ohnmacht kennte: Die subjektiven Rechte haben eine doppelte Performanz; sie ermöglichen die soziale Teilhabe und erlauben die private Willkür. Das bürgerliche Recht ist aber darin ungerecht, wie die subjektiven Rechte dies tun. Das bürgerliche Recht trennt die Teilnahme und die Nichtteilnahme, weil es durch die Form der subjektiven Rechte beide im Eigenwillen des Subjekts begründet und dadurch unpolitisch versteht.