Jill Mulleady
Eurydice (2024)
Von Stillleben welkender Blumen bis zu Treppen hinabsteigenden Akten (man denke an Marcel Duchamps Original ebenso wie an Neuinterpretationen von Gerhard Richter, Jana Euler oder Henry Taylor) hat Jill Mulleady bereits viele Motive aus der Malereigeschichte neu inszeniert und aktualisiert. Für ihre zweite TEXTE ZUR KUNST-Edition wendet sich die Künstlerin dem Topos der lesenden Frau zu – einem Thema, das zahlreiche und vor allem männliche Maler seit der Renaissance fasziniert hat. Frauen oder Mädchen, versunken im intimen, introspektiven Akt des Lesens, galten als Enigmen, betraten sie doch unbekannte Welten und entzogen sich damit nicht zuletzt der männlichen Dominanz. Wie Arbeiten von Mary Stevenson Cassatt oder Berthe Morisot zeigen, zog das Sujet auch den weiblichen Blick an und fasziniert bis heute. Auf einer Treppe sitzend und in Rainer Maria Rilkes „Die Sonette an Orpheus“ vertieft, legt Mulleady mit ihrer Titel gebenden Porträtierten eine neue Interpretation der Eurydike nahe: In der griechischen Mythologie war diese gezwungen ins Reich der Toten zurückzukehren, weil Orpheus sich – Hades’ Anweisungen entgegen – zu ihr umdrehte. Übertragen auf die heutige Zeit, ist Orpheus nicht einmal physisch anwesend, und Eurydike lebt in einer atomisierten Welt sozialer Unverbundenheit. Mulleadys Leserin aber bleibt konzentriert und ganz in ihr Buch versunken, zwischenmenschlichen Beziehungen widmet sie sich nur in vermittelter Form. Sie ist die Tochter der Künstlerin; dieses Werk damit auch eine liebevolle Hommage, sogar Olympias Fingernägel wurden sorgsam „lackiert“. Als detailgenaue Lithografie verbindet die Edition drei lose überlagerte Farben mit lebendigen gestischen Zeichen, die der mythisch aufgeladenen Komposition eine unerwartete Leichtigkeit verleihen.