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ANTI-MONUMENT Alice Wilke über Jesse Darling im Kunstverein Freiburg

„Jesse Darling: Gravity Road“, Kunstverein Freiburg, 2020, Ausstellungsansicht

„Jesse Darling: Gravity Road“, Kunstverein Freiburg, 2020, Ausstellungsansicht

Der Wirkmächtigkeit institutioneller Formen der Normierung gilt Jesse Darlings ganze Aufmerksamkeit. Insbesondere die Erfindung von Freizeit im Zeitalter der Industrialisierung sowie Formen des Widerstands gegen Herrschaftstechniken der Kontrolle und der Disziplinierung stehen im Zentrum von Darlings aktueller Ausstellung im Kunstverein Freiburg. Wie die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Alice Wilke herausarbeitet, machen Darlings Arbeiten die geschichtliche Dimension von Freiheit sichtbar, indem sie das Gravitätische sedimentierter Herrschaftspraktiken parodieren und diese damit ihrer Autorität berauben.

Das Licht macht den wesentlichen Unterschied in der aktuellen Ausstellung von Jesse Darling im Freiburger Kunstverein. Genau gesagt: die unkonventionelle Abwesenheit von gleichmäßig durchdringendem Kunstlicht. Stattdessen flutet gedämpftes Tageslicht den gesamten Raum und taucht das Weiß der Halle in ein breites Spektrum sanfter Grauschattierungen. Die Illusion eines neutralen Galerieraums wird so durch ein stark körperliches Empfinden von Raum und Zeit ersetzt.

Das Zentrum der Ausstellung bildet die titelgebende großformatige Skulptur Gravity Road (2020), die sich aus dem hinteren Teil der Halle bis knapp vor den Eingangsbereich windet und wölbt. Eigens auf die Dimensionen des Raumes hin ausgerichtete und von Hand gebogene Schienen aus Stahl formen die Kurven einer dysfunktionalen Achterbahn mit anthropomorphen Proportionen. Das Ergebnis ist ein unregelmäßig gekrümmtes Skelett auf vier Stelzen, dessen augenscheinliche Fragilität einen Gegenpol zum Erscheinungsbild jener rasanten Bahnen in Freizeitparks bildet, wobei die Schleuderfahrt hier ins Leere führen würde, da die Schienen mit einem ausladenden Bogen abrupt in der Luft enden.

Der Kunstverein Freiburg befindet sich in der 1938 errichteten, großen Schwimmhalle des ehemaligen Marienbads. In der Naziarchitektur des Gebäudes verkörpert sich eine Idee von Freizeit, die nichts mit Lustwandeln und Muse gemein hat, sondern in ihrer ganzen Strenge, Ordnung und Übersichtlichkeit auf die einheitliche Gestaltung des menschlichen Organismus hin ausgerichtet ist. Die Symmetrie des Baus verdeutlicht eine Verbindung von Körperlichkeit mit Formen der Macht und Kontrolle. Es sind verschiedene architektonische und institutionelle Aspekte, an die Darling mit dieser Ausstellung anknüpft, die den Bogen von einem Schwimmbad in Süddeutschland bis zu den Anfängen der Freizeitparks in den Vereinigten Staaten schlägt, indem er die politische Dimension institutionalisierter Freizeit aufzeigt.

Jesse Darling, „The Road Extinct (municipal fragment)“, 2020

Jesse Darling, „The Road Extinct (municipal fragment)“, 2020

Darlings Arbeit Gravity Road bezieht sich auf den historischen Vorläufer der heutigen Achterbahnen. Die gleichnamige, 1827 in Pennsylvania errichtete Schienenstrecke wurde einst für den Abtransport von Kohle aus den örtlichen Mienen erbaut und später als Publikumsattraktion für Passagierfahrten umfunktioniert. Dieser Wandel der historischen Gravity Road vollzog sich als eine Geschichte der Aneignung und Ausbeutung von Ressourcen und gilt damit als Paradebeispiel der Industrialisierung. In der Achterbahn materialisiert sich die Idee von gesellschaftlichem Fortschritt, der zugleich ein technologischer ist. Darlings Gravity Road stellt dagegen das Fragmentarische und Fragile in den Vordergrund, ist eine Art Sinnbild für den Absturz, das Scheitern.

In einem Interview bemerkte Darling, Dinge erschaffen zu wollen, die sich offen verwundbar zeigen. Das wird auch hier sichtbar. Alles andere als stromlinienförmig ausgerichtet sowie mit Bandagen umwickelt, ähnelt Darlings Achterbahnskulptur einem verwundeten Tier auf wackeligen Beinen. Die Arbeit steht damit in Kontrast zur geradlinigen Architektur des Kunstvereins, ohne dabei selbst ins Monumentale oder Monströse zu fallen. So deuten die zu den Füßen der Skulptur liegenden, ausrangierten Geldsäcke der Deutschen Bundesbank, die mit Erde und Grabblumen befüllt sind, auf eine trügerische Sicherheit hin: Auch wenn die Säcke zur Stabilisierung der Konstruktion beitragen sollen – auf der Ebene des Finanzmarkts existieren keine derart stabilen Werte, zudem sind Münzsäcke in Zeiten globaler digitaler Finanzflüsse längst obsolet geworden.

Darlings grundlegende Skepsis gegenüber der Wirkmächtigkeit von Institutionen spiegelt sich auch in dem großen Banner wider, das an der Stirnseite des Balkongeländers im ersten Stock in die Halle herabhängt. Das Objekt aus weißem, mit farbigem Garn bestickten Stoff trägt den Titel To the Future! (2020) und erinnert an die mit Parolen bedruckten Fahnen an den Fenstern und Dächern besetzter Häuser. Darlings Schriftzug lässt sich bis auf wenige einzelne Fragmente nicht eindeutig entziffern, erinnert vielmehr an Infografiken in einer unbekannten Sprache, die trotz der Weigerung, eindeutig übersetzbar zu sein, aussagekräftig sind – ähnlich eines „I prefer not to“ als Haltung gegenüber Dominanz und Deutungshoheiten.

Als Geste der Verweigerung und als stiller Ausdruck des Protests lässt sich auch die Spur eines zerplatzten Farbbeutels an der rechten Wand im Erdgeschoss der Halle lesen, die sich auf einer Vitrine unterhalb des Treppenaufgangs wiederholt. Hier wird offenbar nicht eine Einzelperson als Übeltäter*in der Gesellschaft ausgemacht, stattdessen gilt dieser Akt des ,Vandalismus‘ der faschistischen Vergangenheit des Hauses: ein Denkzettel in blassgrüner Farbe, der diese Geschichte sichtbar machen soll. Die Skulptur in der Vitrine, The Road Extinct (municipal fragment) (2020), wirkt wie ein Teilstück von Gravity Road, abgebrochen und isoliert in einer Box aus Plexiglas: Endet die virtuelle Fahrt auf der großen Bahnskulptur mitten in der Luft, führen die Schienen hier in eine imaginäre Abwärtsspirale ins Bodenlose. Dabei wird der Akt des Ausstellens durch die Vitrine selbst zum Thema gemacht. Indem sie auf die mehr oder weniger unsichtbare institutionelle Schwelle verweisen, an der kulturelle und ökonomische Werte generiert und normativ definiert werden, problematisieren der Farbfleck sowie ein außen an der Vitrine angebrachter Arbeitshandschuh die Trennung von Alltags- und Kunstobjekten.

Insofern greift die Ausstellung unterschiedliche erzählerische Fäden auf, wie z. B. die Geschichte des Ortes, die Erfindung von Freizeit im Zeitalter der Industrialisierung sowie Formen des Widerstands gegen bestimmte Herrschaftstechniken der Kontrolle und der Disziplinierung. Andererseits bricht sie aber auch mit der Erwartung an eine historische oder politische Letztbegründung dieser Erzählungen. Stattdessen lenkt Darling unseren Blick systemkritisch auf die wirksamen Machtstrukturen in öffentlichen Institutionen. Museen und Vergnügungsparks stehen hier exemplarisch für das komplexe Verhältnis von Arbeit und Freizeit als zwei Seiten derselben Medaille, nämlich der Anforderungen einer Leistungsgesellschaft, die vornehmlich auf Wettbewerb und Gewinnmaximierung hin ausgerichtet ist und jegliches Scheitern verurteilt. Das erfolgreiche Fortbestehen dieser Anforderungen stellt Darling mit dieser Installation infrage, die sich als AntiMonument für die strukturelle Verwundbarkeit menschlicher Existenzen beschreiben lässt: Kein gesellschaftliches System, ob Kunstmarkt oder Staatsapparat, ist zu erhaben, um nicht möglicherweise zu versagen.

„Jesse Darling: Gravity Road“, 19. September bis 1. November 2020, Kunstverein Freiburg.

Image credit: Courtesy Jesse Darling und Kunstverein Freiburg, Foto Marc Doradzillo