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KONTUR UND TEXTUR Stefan Neuner über Nora Kapfer bei Lars Friedrich, Berlin

Nora Kapfer, „untitled“, 2020

Nora Kapfer, „untitled“, 2020

Geschichte und Eigensinn. Am Übergang zwischen Surrealismus und Abstraktem Expressionismus war die Blütezeit der sogenannten biomorphen Abstraktion, die mit psychoanalytischen Theorien bildlicher Figuration verbunden war. Ähnlich wie jene sind auch die Malereien Nora Kapfers von einem emphatisch handwerk­lichen Charakter, lassen zugleich jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung mit der malerischen Geste erkennen, die eher in neoavantgardistischer Tradition steht, so der Kunsthistoriker Stefan Neuner. Nichts weniger als eine Neuerkundung malerischer Autonomie wird von Kapfer hier erprobt. Ein Musterbeispiel der Dialektik zwischen Selbst- und Fremdbestimmtheit.

Nora Kapfer präsentiert in ihrer zweiten Einzel­ausstellung in der Berliner Galerie Lars Friedrich sechs neue Gemälde. Alle Arbeiten sind Monochrome, alle All-over-Feldkompositionen. Alle kombinieren Papier, Bitumen und (bis auf ein Bild) Ölfarbe. In fast allen Arbeiten taucht ein reduziertes Repertoire an Motiven auf: Blüten, Blätter, an Körperformen erinnernde Konturen. Und in allen Bildern gibt es – mehr oder weniger spezifische – Anspielungen auf wohlbekannte Idiome der Malerei der Neoavantgarde: Die fünf weißen Gemälde mit ihren subtilen Variationen des Farbauftrags erinnern an Robert Ryman, die Verwendung von Collagematerial, das in die Farbschicht eingearbeitet (und nicht äußerlich appliziert) ist, an Jasper Johns, dessen White Flag (1955) von einem fallenden Stern in Kapfers Navet (2020) zitiert zu werden scheint. Wie uns die beiden Blüten auf dem schwarzen Gemälde präsentiert werden, lässt an Andy Warhols Blumenserie denken und der Rapport von Herzchen, den die Künstlerin mit dem Pinselstil auf tout coeur (2020) in die Farbschicht eingekratzt hat, an Cy ­Twomblys ‚linkische‘ Pinselschreibe.

Allen Gemeinsamkeiten und allen seriellen Verfahren zum Trotz bildet diese Auswahl an Gemälden alles andere als eine Serie. Im Gegenteil: Es handelt sich durchgehend um ausgeprägte Bildindividuen. Dabei werden die genannten Materialien mit zwei unterschiedlichen Bildträgern kombiniert: Leinwand und Holz. Darin kommt einerseits eine an Materialitäten sich entzündende künstlerische Sensibilität, andererseits ein experimenteller Zugang zum Tragen. Der Unterschiedlichkeit der Lösungen entspricht aber auch eine Differenz inhaltlicher Implikation. Die Gegenüberstellung eines schwarzen und fünf weißer Monochrome scheint dabei programmatischen Sinn zu haben.

Das schwarze, unbetitelte Gemälde (2020) setzt sich aus einer schwarzen Farbfläche, die etwa zwei Drittel des Formats einnimmt, und einem darüber gelagerten querrechteckigen Feld zusammen, in dem drei Figuren, zwei Blüten und eine Buchstabenform, auftauchen. In auffälliger Weise wird hier ein dogmatischer, zum Literalismus gesteigerter Modernismus beobachtet; das auf einer scharfkantigen Holzplatte aufgebaute Bild verfügt über keinerlei Tiefe. Die Farbfläche ist undurchdringlich und reflektiert das einfallende Licht. Die Figuren sind aus Papier geschnitten und sitzen emphatisch auf der Bildoberfläche. Das Verfahren hat etwas Analytisches, als sollten so etwas wie reine Figuren und ein reiner Grund als Konstituenten der Malerei unterschieden werden. Zugleich gehört die Inszenierung einer visuellen Ökonomie glänzender Oberflächen und reiner Signale an, die nichts mehr mit Malerei, selbst im klassisch modernistischen Sinne, zu tun hat, sondern das optische Regime kommerzieller Bildmedien heraufbeschwört. Sie erinnert an das Endspiel des Mediums, wie es in den 1960er Jahren zwischen Johns, Warhol und Frank Stella ausgetragen wurde.

Die weißen Gemälde sind jedoch ganz anderer Art. In ihnen kehrt eine genuin malerische, fast altmeisterliche Tiefenanmutung zurück. Nicht ein Illusionsraum, sondern eine Wirkung, bei der die Schichtung lasierend aufgetragener Farbe eine Rolle spielt und helle Formen aus einem dunklen Grund hervorzutreten scheinen. Die Farbmaterie Bitumen, die im schwarzen Bild ausschließlich herangezogen wurde, wandert hier in die unteren Schichten der Bildoberfläche. Darauf kommen – außer bei tout coeur – Lagen aus Papier und teils durchscheinende, teils deckend aufgetragene weiße Ölfarbe. Der Bildaufbau ist dabei äußerst komplex, auch die Überlagerungen ergeben eine komplexe Struktur. Es bedarf einiger Zeit, sich einzusehen.

Nora Kapfer, „untitled“, 2020

Nora Kapfer, „untitled“, 2020

Bei den drei Großformaten (Navet, Saison und untitled, alle 2020) führt eine solche Einlassung früher oder später zur Entdeckung gegenständlicher Elemente. Navet – das den zitierten ‚fallenden Stern‘ unmittelbar am rechten Rand in der unteren Bildhälfte enthält – funktioniert in dieser Hinsicht am langsamsten. Saison – auf dem man relativ rasch ein rechteckig umgrenztes weißes Feld mit schablonenartigen Aus­sparungen in Gestalt von schematisierten Blüten und Blätterpaaren entdeckt – am schnellsten. Auf der unbetitelten Leinwand finden sich die zugehörigen weißen Blütenkränze in traubenartiger Ballung sowie eine Gestalt, die an einen menschlichen Körper in eigenartiger, letztlich aber rational nicht auflösbarer Stellung erinnert: Die Konfiguration richtet zwei Hinterbacken nach oben, und ‚steht‘ – doch gibt es in diesem Bild keine Standfläche – auf drei Füßen. Wenn man sich so weit auf das Gemälde eingelassen hat, treten die übrigen Formen in Resonanz zu diesen gegenständlichen Elementen. Das Kurvenpaar der Hinterbacken taucht gedreht, isoliert und als Negativform weiter oben wieder auf. Dieses Umspringen zwischen Positiv- und Negativform, Figur und Grund ist dabei die eigentliche, für das Verständnis der Bildlogik relevante Entdeckung. Denn im Falle dieser Arbeit sind mehrere weißflächige Gebilde mit unregelmäßigen Konturen auffällig. Nur der dreifüßige Hintern und die Blütentrauben ließen sich als Figurenpositive auflösen. Für die anderen gewinnt man einen neuen Zugang und wird allerhand mögliche Körper- oder Pflanzenprofile ausmachen, aber zu keinen eindeutigen Resultaten gelangen.

Kapfers Arbeiten sind so reich an malerischen Ereignissen wie nur je ein Beispiel der biomorphen Abstraktion. Diese hatte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts am Übergang zwischen Surrealismus und Abstraktem Expressionismus floriert und war mit psychoanalytischen Theorien bildlicher Figuration verbunden. Wie jene sind Kapfers Bilder von einem emphatischen handwerklichen Charakter. Man könnte hier etwa an einen ‚abstrakten‘ Willem de Kooning der späten 1940er Jahre denken. Was bei Kapfer jedoch im Gegensatz vor allem zu den amerikanischen Malern dieser Periode keine Rolle spielt, ist die malerische Geste, die seitdem einen zentralen Platz in der kritischen Auseinandersetzung mit Malerei hat. Deren Parodie, Dekonstruktion, Mechanisierung und Eliminierung war ein treibendes Anliegen der Neoavantgarden. Nichts scheint an der modernistischen Malerei so problematisch zu sein – da scheinbar zwangsläufig an die Vorstellung einer genialen, expressiven, männlichen künstlerischen Subjektivität gebunden – wie die Apotheose der Geste im Abstrakten Expressionismus.

„Nora Kapfer: Come a time“, Galerie Lars Friedrich, Berlin, 2020, Ausstellungsansicht

„Nora Kapfer: Come a time“, Galerie Lars Friedrich, Berlin, 2020, Ausstellungsansicht

Es ist nicht so, dass Kapfer alle Pinselspuren getilgt hätte. Sie haben bei ihr allerdings keine formbildende Kraft. Form wird in Kapfers Bildern vielmehr durch Kontur und Textur erzeugt. Für beides ist die Arbeit mit Papier, es handelt sich um japanische Sorten, entscheidend. Denn Konturlinien scheinen in ihren Gemälden stets geschnittene Linien zu sein. Kapfer erzeugt ihre Silhouetten mit Schere oder Messer. Zeichnen ist hier ein Ausschneiden in einer Tradition, die bis zur Scherenschnittmode des 18. Jahrhunderts zurückreicht und im kubistischen Papier collé und Henri Matisses Papiers découpés ein Gegenmodell zur malerischen Geste bildet. Das beschnittene Papier wird sowohl als solches eingearbeitet wie als Schablone verwendet. Es dient aber auch dazu, dem Bild Textur zu verleihen. Diese verdankt sich einem autogenerativen chemischen Prozess, der vielleicht die wichtigste Entdeckung von Kapfers maltechnischen Experimenten ist: Die teerähnliche, in der Petrochemie gewonnene Farbsubstanz Bitumen ist ein aktives, nie völlig austrocknendes Material, das aus den Grundschichten der weißen Gemälde quasi emporsteigt und sich mit den anderen Materialien verbindet. Das führt nicht nur zu einer bräunlich-grauen Abtönung der Ölfarbe, sondern auch zum Sichtbarwerden der Papierstruktur in Gestalt von Gittern, Parallellinien, Sternen und eher amorphen Mustern.

Das Schneiden, das Schablonieren und diese subkutane Farbaktivität stehen freilich in einer prononcierten Spannung zur Idee der Meisterschaft und Expressivität malerischer Gestik. Kapfers Verfahren hat mit den Bildtechniken Max Ernsts (etwa der Frottage) sicherlich mehr zu tun als mit dem biomorphen gesture painting der New Yorker Szene. Indes ist es für die Einschätzung des künstlerischen Unternehmens nicht unwichtig, dass Kontur und Textur bei Kapfer tendenziell in einem Konfliktverhältnis stehen. Die Bilder drängen uns meist nicht dazu, in den Texturen Gestalthaftes zu erkennen. Gleichzeitig stehen Kapfers Feldkompositionen (besonders bei Saison und dem weißen titellosen Bild) in einem denkbaren Kontrast zu den Einheits- und Unmittelbarkeitsvorstellungen, die mit dem all-over der Nachkriegskunst in der Regel verknüpft waren. Die Idee bildlicher Einheit ist in Kapfers Malerei zerbrochen. Stattdessen leistet die Monochromie eine nur oberflächliche Integration der sich vielfach überlagernden und wechselseitig in die Quere kommenden Bildelemente.

Diese Bildlichkeit erinnert eher an die schrillen Arbeiten Robert Rauschenbergs, obwohl bei Kapfer kein Bemühen um eine Anverwandlung der „Bilderschwärme“ (David Joselit) unserer massenmedialen Umwelten zu erkennen ist. Es scheint tatsächlich darum zu gehen, dieser großen Auseinandersetzung zu entkommen und die Autonomie der Malerei neu zu erkunden. Die gut durchdachte Zusammenstellung der Schau und die (direkten wie indirekten) kunsthistorischen Referenzen geben diesem Projekt einen dialektischen Charakter. Kein Weg führt zurück ins Paradies der alten Werte und Praktiken. Doch kann man womöglich im Wissen um die Entwicklung der letzten 60 Jahre zu einer Kehrtwende in der Kunstgeschichte zurückkehren und den Prämissen, die die alten Werte und Praktiken infrage gestellt haben, auf andere Weise begegnen als jene, die in die dramatische Inszenierung einer Dichotomie zwischen Geste und Maschine geführt hat.

„Nora Kapfer: Come a time“, Galerie Lars Friedrich, Berlin, 12. September bis 7. November 2020.