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JEAN-LUC GODARD (1930–2022) Volker Pantenburg

Jean-Luc Godard

Jean-Luc Godard

In den zahlreichen Nachrufen auf Jean-Luc Godard war mehr als einmal vom Ende des Kinos die Rede: „If cinema really is dying, then he died with it; or better still, it died with him“, so Fredric Jameson im Blog der New Left Review. Die Gleichsetzung von Godard und dem Kino unter endzeitlichen Vorzeichen ist nicht neu. Sie schließt an Godards eigene Lust an, das Kino von seinem Ende her zu perspektivieren. Schon in den 1950ern, noch als Kritiker, hatte er den Eindruck, zu spät zu sein. Die Lubitschs, Langs, Griffiths oder Dreyers, selbst die italienischen Neorealisten konnte man in Henri Langlois’ ­Pariser Cinémathèque Française durch nachholendes Binge-Watching in staunender Hingabe verinnerlichen – Zeitgenossen waren sie schon nicht mehr. Auch deshalb funktionierten Godards Blick und die daran anschließende schreibende und filmende Produktion von Anfang an im Meta-­Modus, waren immer Teilnahme und Beobachtung zugleich.

Fin de Cinéma konstatierte 1967 der End-Credit von Week-End; das war Godards Abschiedsgruß in Richtung eines bestimmten Typs von Kino. Ein ebenso wohlsituiertes wie bigottes Ehepaar auf dem Weg ins Wochenende gerät in einen nicht enden wollenden Stau. Zwischen aufheulenden Motoren und hupender Aggressivität entwickelt sich ein apokalyptisches Szenario aus Blech und Wohlstandsschrott. Die Verrohung der Konsumwelt mündet in Kannibalismus, während die produktiveren Kräfte – der Film zeigt das in den selbstbewussten Figuren eines Algeriers und eines Kongolesen – aus dem globalen Süden kommen. Godard war zu diesem Zeitpunkt, nach etlichen Kurz- und 14 abendfüllenden Filmen, darunter in dichter Folge À bout de souffle (1960), Vivre sa vie (1962), Le Mépris (1963), Pierrot le fou (1965) und La Chinoise (1967) mit den Ikonen Jean Seberg, Anna Karina und Anne Wiazemsky, entschlossen, alles bisher Erreichte auszustreichen und ganz anders, wenn möglich ohne Godard, weiterzumachen: Unter dem Label „Groupe Dziga Vertov“ setzte er auf 16-mm-Equipment anstelle großer Filmteams, akquirierte Fernseh­aufträge statt Produzentenchecks, wandte sich an politische Zielgruppen statt an ein klassisches Kinopublikum. Im Juni 1971 sorgte ein schwerer Motorradunfall für eine Zäsur, die Vertov-­Gruppe – bei näherem Hinsehen vor allem ein Duo mit Jean-Pierre Gorin – fiel 1972 auseinander. Godard verließ Paris, zog 1973 nach Grenoble, um dort mit dem Kameraingenieur Jean-Pierre Beauviala zu arbeiten, und schließlich nach Rolle am Genfer See, wo er seit 1977 gemeinsam mit Anne-­Marie Miéville lebte und arbeitete. Die Fluchtlinie dieser Jahre führte vom Zentrum an die Peripherie Frankreichs und dann über die Grenze zurück in die Schweiz, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht und 1955 seinen ersten Film, Opération Béton, gedreht hatte. Der schrittweise Rückzug aus Paris zielte auf immer größere Unabhängigkeit ab, und diese Produktionsautonomie prägte die Arbeiten der letzten 50 Jahre – bis zum selbstbestimmt entschiedenen Tod. In den außergewöhnlichen Fernsehserien Six fois deux/Sur et sous la communication (1976, 610 Min.) und France/tour/détour/deux enfants (1979, 300 Min.) zeigen Miéville und Godard, wie sie sich mit videografischen Mitteln in die Bilder hineinschreiben und was sich aus ihnen herauslesen lässt; etwa, wenn man die analytischen Potenziale freisetzt, die in der Verlangsamung und dem Stillstand der Bilder liegen. Das „Fin de cinéma“ war in Wirklichkeit das Gegenteil eines Endes. Immer wieder folgten neue Anläufe und Hakenschläge, die das Kino mit den Mitteln von Kopiergerät, Videomischpult, elektrischer Schreibmaschine und Pritt-Stift zugleich infrage stellten und sein Repertoire erweiterten.

Godard, spätestens durch die Histoire(s) du ­cinéma (1988–1998) zur Trademark JLG mit eigener Drucktype geworden, schien das Konzept des Autorenkinos, von ihm und den anderen Kritikern der Cahiers du cinéma in den 1950er Jahren in polemischer Absicht entwickelt, in Reinkultur zu verkörpern: seine sonore, leicht raunende Stimme, die im Stakkato ratternde Schreibmaschine, das Krächzen der Krähen und die elegischen Klänge aus Manfred Eichers ECM-Katalog (Gija Kantscheli, Arvo Pärt et al.). Aber auch wenn JLG als unverrückbares Zentrum dieses stetig wachsenden und etwas einschüchternden Kosmos erschien, war er doch vor allem „Receiver“ [1] , eine Empfangsstation für Bilder, Töne, Worte. Hinzu kommt, dass der Autorenbegriff das kollaborative Moment verdeckt, das sich nach den Arbeits- und Liebesbeziehungen mit Karina und Wiazemsky sowie der Zusammenarbeit mit Gorin in ­Grenoble und Rolle intensivierte.

JLG ist ab 1972 nicht ohne AMM zu denken. Das militante Projekt Jusqu’à la victoire, 1970 gedreht mit Geld der palästinensischen El Fatah, war in seinem für die radikale Linke der Zeit typischen forcierten Antizionismus hochproblematisch. Nur durch Anne-Marie Miéville konnte das gedrehte Material Jahre später in eine Reflexion auf die möglichen und unmöglichen Verbindungen zwischen den Bildern von dort (Jordanien und die palästinensischen Gebiete) und den Bildern von hier (Paris) eingehen (Ici et ailleurs, 1976). Als Co-Regisseurin, Cutterin, Drehbuchautorin und diskursives Gegenüber (Soft and Hard. Soft Talk On a Hard Subject Between Two Friends, 1986) hat Miéville bis 2002 an zahlreichen Filmen Godards mitgewirkt (und ihn als grumpy old man in einigen ihrer eigenen Filme besetzt). Ob sie so zusammenarbeiten würden wie Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, wurde Godard einmal gefragt. Nein, antwortete er, die Straubs haben ein Tandem – einer sitzt vorne, einer hinten. Sie dagegen, er und Miéville, hätten zwei Fahrräder. Von Miéville stammt auch die Idee, wie eines Tages die Inschrift für seinen Grabstein lauten sollte, um seinem Widerspruchsgeist Rechnung zu tragen: „Jean-Luc Godard, au contraire“. JLG, im Gegenteil.

Wer denkt, mit JLG sei das Kino gestorben, müsste präzisieren können, was das Kino ist. Zwar stimmt, dass Godard in seinen Filmen, Texten, Büchern, Vorlesungen, nicht zuletzt auch in der mehrfach umgeplanten und schließlich in halbfertigem Zustand eröffneten Ausstellung im Sommer 2006 im Centre Pompidou, wie kein anderer Filmemacher das Kino umkreiste und es zur zentralen technischen, ästhetischen, politischen und gesellschaftlichen Kulturtechnik des 20. Jahrhunderts erklärte. Aber er tat das nicht, weil er wusste, was das ist, sondern um mit den Mitteln von Bild und Ton herauszufinden, was es sein könnte und wie die Bilder und Töne ticken. Deshalb das permanente Zerlegen und Zusammensetzen: „Montage, mon beau souci“ (Montage, meine schöne Sorge), in den 1950er Jahren als Kernthema benannt und in den Histoire(s) du cinéma an zentralen Stellen erneut aufgerufen, das heißt immer De- und Remontage.

„Man muss alles in einem Film unterbringen“ [2] , lautete Godards Credo (in Frieda Grafes Übersetzung) schon 1967. Auch wenn dieses „Alles“ in den späteren Arbeiten wiedererkennbaren Parametern folgte – die Landschaften um den Genfer See herum, die Klänge aus der ECM-Diskografie, ein spezifisch französischer Kinokanon zwischen Weimar, Hollywood und den Neorealismen der Nachkriegszeit –, war Godards Vorgehen immer expansiv und inklusiv. Und da so gut wie alles in einem Film von JLG Platz finden konnte (Patti Smith und Alain Badiou, sein Hund Roxy und das Pferd von Don Quijote, Les Rita Mitsouko und Johann Sebastian Bach, Woody Allen und Sam Fuller), konnte auch ständig Ungeahntes passieren. Zwei oder drei Beispiele von vielen aus den Filmen der letzten 20 Jahre: die schreiend schönen DV-Fehlfarben in der zweiten Hälfte von Eloge de l’amour (2001); wie sich die beiden Teilbilder der DIY 3-D-Kamera in Adieu au langage (2014) plötzlich voneinander trennen und auseinanderdriften – eine schockierend simple Idee, aber erst Godard setzte sie um; das Kreuzfahrtschiff im Film Socialisme (2010), das Stationen des Mittelmeers ansteuert, um im Fahrwasser Fernand Braudels eine Gegentopografie zum existierenden Europa zu entwickeln. Godard wählte – unwahrscheinlicher Zufall – ausgerechnet die Costa Concordia, kurz bevor sie im Januar 2012 als Menetekel europäischen Versagens vor der italienischen Küste havarierte.

Ende und Neuanfang, Havarie und Rettung, gingen bei Godard immer Hand in Hand – nicht in dialektischer Abfolge und säuberlich gegeneinander abgegrenzt, sondern chaotischer, uneindeutiger, widersprüchlicher. Dabei sind über die gut sechs Jahrzehnte seines Schaffens zentrale Kategorien kultureller Logik immer wieder neu und anders bearbeitet und der abendländische Kanon sowohl fortgeschrieben als auch demontiert worden. Schon in À bout de souffle oder Pierrot le fou kommen Gemälde von Auguste Renoir, Pablo ­Picasso und anderen Held*innen der Moderne vor. Allerdings sind sie längst auf Postkartenformat gestutzt und als popkulturelle Gebrauchsbilder im Umlauf. Kamera und Kinoleinwand können sie noch einmal in ihrer Monumentalität aufblitzen lassen, aber nicht als Meisterwerke, sondern als kulturelles Treibgut, frei flottierende Zeichen. Auch die Tableaux vivants in Passion (1982), Klassiker der Kunstgeschichte von El Greco über Francisco de Goya bis Eduard Manet, fügen sich nicht dem Zugriff des Regisseurs. Irgendwas ist immer falsch, das Licht, die Choreografie, die Kadrierung.

„Zusammensetzen und auseinandernehmen“ war das Motto von Jean-Pierre Léaud und Juliet Berto, die in der Black Box des abgedunkelten Fernsehstudios von Le Gai Savoir (1968) an einer fröhlichen Wissenschaft der Bilder und Töne basteln. Es ist bis zuletzt Godards Produktionsimperativ geblieben. Nach Le Livre d’image (2018), seinem letzten Film, gingen die Kapitel und Sequenzen zusammen mit Godards engem Mitarbeiter Fabrice Aragno auf Reisen – unter anderem ins Berliner Haus der Kulturen der Welt –, um in wechselnden Konstellationen auf Monitoren zwischen Ikea-Regalen mit Büchern und Bildern räumlich neu arrangiert zu werden. Die Besucher*innen spazierten durch den Film, und irgendwo zwischen den Regalen stand an einem kleinen Schreibtisch ein einfacher Stuhl – Godards Stuhl, wie nachzulesen war. Nichts ist in Godard-Filmen so festgefügt, dass man es nicht wieder zerlegen könnte – die Filme sind Materialsammlungen, Angebote zum Weiterbasteln. Zuletzt haben Filmemacher wie Ephraim Asili (The Inheritance, 2020) oder Vincent Meessen (Juste un mouvement, 2021) das Angebot angenommen und unter anderen geopolitischen Vorzeichen und mit neuer Dringlichkeit La Chinoise aktualisiert. ­Godards Stuhl wird leer bleiben, aber die Vorschläge, die in seinen Filmen und Texten angelegt sind, bieten genug Stoff für etliche Bücherregale.

Volker Pantenburg ist Professor für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2015 gründete er gemeinsam mit anderen das Harun Farocki Institut. Sein aktuelles Buch ist Aggregatzustände bewegter Bilder (Matthes & Seitz, 2022).

Image credit: Fabrice Aragno

Anmerkungen

[1]Kaja Silverman, „The Author as Receiver“, in: October, 96, 2001, S. 17–34.
[2]Jean-Luc Godard, „Man muß alles in einem Film unterbringen“, in: Ders., Godard / Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950–1970), aus dem Französischen von Frieda Grafe, München 1967, S. 176f.