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FORMALE WIMPERNSCHLÄGE Sophia Rohwetter über Rosemarie Castoro im MAK, Wien

„Rosemarie Castoro: Land of Lashes“, MAK, Wien, 2023, Ausstellungsansicht

„Rosemarie Castoro: Land of Lashes“, MAK, Wien, 2023, Ausstellungsansicht

Obwohl Rosemarie Castoro ab den 1960er Jahren Teil der SoHo-Kunstkohorte war, sorgte der von patriarchalen Leitplanken auf Kurs gehaltene Kunstbetrieb dafür, dass ihr medienverschränkendes Werk für die etablierten kritischen Kategorien schwer greifbar blieb. Dabei erkannte Lucy Lippard schon in den 1970er Jahren die kinästhetische Qualität der mit minimalistischen Mitteln geschaffenen Arbeiten sowie deren „sexual drive“. Den feministischen Impetus Castoros, der geschlechtliche Identität offenhielt, versuchte die Ausstellung des MAK nun in die Genealogie der Minimal Art einzuschreiben, in der Hal Foster vor 30 Jahren noch vergeblich nach sexuell konnotierten Positionen suchte. In ihrer Rezension spürt die Kunstwissenschaftlerin Sophia Rohwetter insbesondere auch den lustvollen Spannungen in diesem von Körperlichkeit geprägten Werk nach.

Als Hal Foster 1986 in seiner Genealogie des Minimalismus behauptete, der phänomenologische Wahrnehmungsapparat der minimalistischen Kunst tendiere dazu, Künstler*innen und Betrachter*innen als „historisch unschuldige“ und „sexuell indifferente“ Subjekte zu positionieren, [1] scheint er, wie viele andere Kritiker*innen vor und nach ihm, das Werk Rosemarie Castoros nicht im Blick gehabt zu haben. Denn in den Arbeiten der New Yorker Künstlerin, die sich fließend zwischen Minimal und Postminimal Art, Land Art und Konzeptkunst und medienübergreifend zwischen Malerei, Skulptur, Sprache und Tanz bewegte, tritt genau jenes von Foster vermisste historisch gewordene, sexuierte Subjekt in Erscheinung. Das Museum für angewandte Kunst in Wien (MAK) würdigte die Künstlerin nun mit einer Einzelausstellung, in deren Zentrum Castoros Schaffensphase der 1970er Jahre stand, in der sie den (weiblichen) Körper und seine Proportionen, Gesten und Bewegungen in variable Raumformen und serielle Installationen übertrug, die ein Spannungsfeld zwischen minimalistischer und feministischer Kunst eröffnen und sich quer in die Genealogie der Minimal Art einschreiben.

Die Ausstellung fand im ehemaligen Teppichsaal, gleich neben der Säulenhalle und gegenüber dem von Donald Judd gestalteten Barockraum statt. Es ist bemerkenswert, dass Castoros erste institutionelle Einzelpräsentation im deutschsprachigen Raum ihr Werk in den Kontext der angewandten Kunst stellt – Castoro studierte Grafikdesign am New Yorker Pratt Institute, wandte sich dann aber dem Tanz und der Malerei zu, wobei sich auch in diesen Praktiken das Grafische abzeichnet – und es in unmittelbare Nähe zu Judd rückt, dessen Werk sie hier als vom institutionellen Kunstbetrieb weitgehend ausgeschlossene (Post-)Minimalistin konfrontiert. Tatsächlich kreuzten sich Castoros und Judds Wege bereits in den 1960er Jahren auf der Spring Street in Soho, wo beide ihr Atelier unterhielten und wo heute noch ein Teil der Judd Foundation behaust ist, die im Frühjahr dieses Jahres eine Auswahl Castoros früher abstrakter Malereien zeigte, deren sich scheinbar endlos wiederholende Muster bereits eine choreografische Qualität aufweisen. Die Ausstellung im MAK verzichtete hingegen auf Castoros malerisches Frühwerk und fokussierte stattdessen auf die darauffolgende Phase, in der sie begann, die Gesten der Malerei mit einem, wie Lucy Lippard – eine der wenigen frühen Unterstützer*innen und Kritiker*innen von Castoros Werk – schreibt, „kinästhetischen Impetus“ [2] in skulpturale Formen zu übertragen.

„I am a paintersculptor I used to call my self an artist“ [3] , erklärte Castoro 1970 in einer an ihren ersten Ehemann Carl Andre adressierten Tagebuchnotiz („from R to C“). Dieser Identitätswandel von der Künstlerin zur „paintersculptor“ kann in der Ausstellung selbst nicht nachvollzogen werden, wird aber durch die im Saaltext als „Schlüsselwerk“ bezeichnete Arbeit Non-Correspondence Letter (1969) dargestellt, die jenen Wendepunkt in Castoros Praxis markiert. Bei diesem unbeschriebenen „Brief“ handelt es sich um eine Miniatur eines aus weißen Holzpaneelen und metallenen Scharnieren zusammengesetzten Paravents, das einen skizzenhaften Auftakt zu ihrer Werkgruppe Freestanding Walls bildet, die Castoros dynamische Verschränkung von minimalistischer Ästhetik und choreografischer Kinästhetik veranschaulicht. Two Curves (1970), eine der Freestanding Walls, besteht aus Masonit-Paneelen, die mit dichten, wellenhaften Graphitlinien bemalt sind und dem Titel entsprechend zwei Kurven bilden. Sie führen exemplarisch vor, wie Castoro die Praxis des Malens zunehmend räumlich inszenierte und dabei die erweiterte Leinwand zu einem Bühnen­element transformierte, das nach performativer Aktivierung verlangte.

Rosemarie Castoro in New York, 1970, Selbstportrait

Rosemarie Castoro in New York, 1970, Selbstportrait

Geprägt von der New Dance Group, in die Castoro schon zu Studienzeiten involviert war, und inspiriert von den Bewegungen und Nota­tionssystemen des minimalistischen Tanzes – 1966 wirkte Castoro als Tänzerin bei Yvonne Rainers Performance Carriage Discreteness mit, für die Andre die Requisiten designte – war ihr Malatelier gleichsam Bewegungslabor, in dem sie mit verschiedenen Medien, darunter auch immer wieder der eigene Körper, experimentierte. Ein mit Selbstauslöser aufgenommenes Selbstporträt von 1970 zeigt Castoro vor einer Freestanding Wall an Seilen horizontal von der Decke hängend, wobei ihr Körper zugleich schwerelos und angespannt und wie eine räumliche Verlängerung der malerischen Linien erscheint. Castoros Körper – und ihr Werk insgesamt – befindet sich in einem Zustand strukturierter Spannung, wie Lippard schreibt: „Although sexual in its drive, her work is too fast to be sensuous, too controlled to release all of its energy; it exists in a state of extremely structured tension, its momentum expressed with great physical intelligence by implied projection of the body (and the body ego) into space.“ [4] Diese räumliche Bezugnahme auf den Körper materialisiert sich in Form von überdimensionierten Stirnfransen (Bangs, 1972), zoomorphen Wimpernkränzen (Land of Lashes, 1975) und vulvenhaften Formationen, wie eine Installation aus im Kreis angeordneten zugespitzten und ihrer Rinde entnommenen Ästen unterschiedlicher Länge (Beaver’s Trap, 1977/78) und die aus Stahl geschweißte Serie Mountain Range (2003–2006), deren gefaltete Struktur an eine Landschaft aus wandernden Vulven erinnert.

Die Bangs sind Teil der Werkgruppe Brushstrokes – geschwungene oder geknotete überdimensionale Besen- und Mopp-Pinselstriche auf Masonit, bearbeitet mit Gesso, Modelierpaste und Marmorstaub und ausgeschnitten mit einer Säbelsäge – von der im MAK neben Bangs die Gruppe Party Of Nine und der einzelne Corner Cut (alle 1972) zu sehen waren. Party of Nine besteht aus neun solchen übergroßen, geschwungenen Pinselstrichen. Als skulpturale Monumente der viel zitierten malerischen Geste des Pinselstrichs meißeln sie den scheinbar spontanen künstlerischen Ausdruck in Masonit und versetzen ihn, in Gestalt verkörperter, die Wand entlangtanzender Ziffern (9) oder „Lollipops“, wie Castoro die Pinselstriche nannte, zugleich in einen bewegungsdynamischen, animierten Zustand. Das Motiv des überdimensionierten Pinselstrichs erinnert an Roy Lichtensteins Brushstrokes (1965–1968), eine Serie grafischer Pinselstriche, mit denen er die subjektive Pinselführung des Abstrakten Expressionismus durch das Reproduktionsmedium Siebdruck entsubjektivierte und auf seinen minimalen Ausdruck als Zeichen reduzierte. Ähnlich wie Lichtensteins feucht-spritzende Pinselstriche die Geste des Pollock’schen Drip Painting mokieren, sind auch Castoros Pinselstriche als eine Überzeichnung der ejakulierenden Ab-Ex-Gesten lesbar. Doch anders als bei Lichtenstein erstarren Castoros skulpturale Pinselstriche dabei nicht zum Zeichen, sondern nehmen die Körperlichkeit ihres dynamischen Herstellungsprozesses als kinästhetische Qualität in sich auf. Castoros „sexual drive“ im Aktionsraum des Ateliers wird durch die Anleitung The Technique of Flat Strokes (1972) deutlich, die die Vorgehensweise zur Herstellung der Brushstrokes beschreibt. Neben instruktiven Sätzen – „Draw with a mop brushstrokes on masonite“ – ergänzte Castoro mit roter Handschrift Verben wie ­„licking“, „tickeling“ oder „massaging“, also körperbezogene, sinnliche Tätigkeiten, mit denen ­Castoro ihre künstlerische Arbeit auch als lustvolles Verfahren beschrieb, als eine sexuelle Begegnung mit dem Material und sich selbst. „Paintings are the places where you watch yourself, painting are reflections, they are the manifestations of sexuality“ [5] , notierte sie 1970 in ihrem Tagebuch. Insofern ist Castoros künstlerische Praxis auch als eine Art Sublimierungsleistung zu verstehen, durch die sexuelle Lust bearbeitet, materialisiert, formalisiert und abstrahiert wird.

„Rosemarie Castoro: Land of Lashes“, MAK, Wien, 2023, Ausstellungsansicht

„Rosemarie Castoro: Land of Lashes“, MAK, Wien, 2023, Ausstellungsansicht

Das zentrale und titelgebende Werk der Ausstellung, Land of Lashes (1976), besteht aus acht vergrößerten, aus Epoxyd, Stahl und Styropor gefertigten schwarzen Wimpernkränzen, die der Größe nach in einer Linie auf einem niedrigen weißen Podest angeordnet sind. Vom Rest des Körpers abgetrennt, mutieren die überdimensionalen Wimpern zu eigenständigen, spinnenartigen Gliedmaßen, die sich, ähnlich wie die neun tanzenden Pinselstriche, in einem Zustand gleichzeitiger formaler Abstraktion und körperlicher Dynamisierung befinden. Als seien sie aus den Eiern von Louise Bourgeois’ Maman (1999) geschlüpft, marschieren sie wie eine Tochterarmee aus Spinnenwimpern auf die Besucher*innen zu.

Neben dem Wimpernland liegt beziehungsweise hängt das „Nachbarland“ Land of Lads (1975), das aus an Nylonfäden von der Decke abgehängten schwarzen Epoxyd-Leitern besteht, deren vertikale Ausrichtung und phallische Form die horizontale Anordnung der Wimpern umkehrt, so als hätten sich die Wimpern aufgerichtet und dabei den Halt verloren. In dem mehrdeutigen Titel Land of Lads, der sich nicht nur auf das Motiv der Leitern bezieht, sondern sich auch als „Land der Jungs“ übersetzen lässt, zeigt sich Castoros spielerischer Umgang mit sprachlicher Ambiguität und der sprachlichen Konstruktion von Geschlecht, der sich in der Arbeit Beaver’s Trap fortsetzt. „Beaver“ ist sowohl die Übersetzung von Castoros italienischem Nachnamen als auch ein Slangwort für Vulva.

Lässt sich Castoros Falle, eine Kreisformation spitzer Äste, als abstrakte Darstellung einer vagina dentata und damit als ein Symbol weiblicher Selbstermächtigung lesen, wie es der Ausstellungstext vorschlägt, wirft die Arbeit zugleich aber auch Fragen nach der Anerkennung und Zurückweisung weiblicher Identität auf. Ein weiteres Selbstporträt zeigt Castoro im Inneren der Beaver’s Trap, eingeschlossen – als Köder oder Beute – in ihrer vagina dentata. Das eigene Geschlecht wird hier nicht nur zu einem Symbol selbstermächtigender Weiblichkeit, sondern auch zu einer klaustrophobischen Identitätsfalle, in die Künstler*innen durch Zuschreibungen wie Female oder Minimal Artist geraten und denen sich Castoro verweigerte. Schließlich aber ist es genau jenes Spannungsverhältnis zwischen Negation und affirmativer Formgebung sexueller Differenz, zwischen formaler Strenge, politischen Semantisierungen und lustvollen sprachlichen Besetzungen, durch die Castoros Werke als immanente Kritik an der scheinbar „geschlechtslosen“ Minimal Art erkennbar werden und in der Verweigerung einer eindeutigen kunsthistorischen Kategorisierung sogleich über die Subversion dieser hinausgehen.

Ob die durch die Ausstellung mit ihrem Fokus auf Castoros Arbeiten der 1970er Jahre eröffnete alternative Genealogie der Minimal Art trägt, müssen künftige Ausstellungen mit Blick auf ihre frühen Gemälde und ihre späteren, weitgehend unbeachteten Stahlarbeiten, darunter modernistisch anmutende Darstellungen bekannter Opernfiguren, kritisch überprüfen. Nur eine solche umfassende Präsentation wird zeigen, dass sich Castoros künstlerische Praxis, deren Formen, Medien und Materialien sich in einem metamorphen Prozess stetig wandelten, entlang, gegen und jenseits einer Vielzahl künstlerischer Strömungen bewegte.

„Rosemarie Castoro: Land of Lashes“, MAK, Wien, 24. Mai bis 1. Oktober 2023.

Sophia Rohwetter ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und lebt in Wien.

Image credit: 1. + 3. © MAK, photo Georg Mayer; 2. © The Estate of Rosemarie Castoro, courtesy of Thaddaeus ­Ropac

Anmerkungen

[1]Hal Foster, „The Crux of Minimalism“, in: Ders., The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge 1996, S. 35–71, hier: S. 59.
[2]Lucy Lippard, „Rosemarie Castoro: Working Out“ , in: Artforum, 10, 1975, (Übersetzung der Autorin).
[3]Rosemarie Castoros Tagebuch, August 1970–Mai 1971, S. 24, zit. nach Tanya Barson: „Rosemarie Castoro 1964–79: An Obstacle Course for A Dancer? “, in: Rosemarie Castoro – Focus at Infinity, Ausst.-Kat., hg. von MACBA, Museu d’Art Contemporani de Barcelona, 2018, S. 21–35, hier: S. 23.
[4]Lippard.
[5]Rosemarie Castoros Tagebuch vom 08.09.1970, in: Ausst.-Kat., 2018, S. 7.