MARIE-LUISE ANGERER (1958–2024) Von Karin Harrasser

Marie-Luise Angerer
Ihren letzten Text schrieb Marie-Luise Angerer über Verlustkontrolle, über die Zumutung des Verschwindens. Nun ist seit Kurzem auf Wikipedia zu lesen, sie sei eine deutsch-österreichische Medien- und Kulturwissenschaftlerin gewesen. Die Vergangenheitsform ist eine Zumutung. Noch etwas anderes hat sich kürzlich in dem Eintrag verändert: Wegbegleiter*innen haben sich in den Tagen nach ihrem Tod am 2. März 2024 mit Nachdruck darum gekümmert, dass ihre Doppelstaatsbürgerinnenschaft erwähnt wird. Sie selbst hatte sich sehr darum bemüht, denn als politisch wache Zeitgenossin wollte sie sowohl in ihrem Herkunftsland als auch an ihrem Wohnort Berlin wahlberechtigt sein. Die Bindestriche in deutsch-österreichisch, in Marie-Luise, in Medien- und Kulturwissenschaftlerin passen überhaupt sehr gut zu einer Denkerin des Dazwischen, die sie gewesen ist. Angerer war sowohl dem Bodenständigen als auch dem Abstrakten, dem Ländlichen wie dem Urbanen, der europäisch-kontinentalen wie auch der anglophonen Theorietradition verpflichtet. Im österreichischen Vorarlberg geboren, studierte sie in Wien Kunstgeschichte, Romanistik, Philosophie und Kommunikationswissenschaften. Aus diesen disziplinären Samen entwickelte Angerer ihr Interesse für zeitgenössische Kunst, für Sprache und Literatur, für Theorie und Medienwissenschaft. An der Ausformung einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft im deutschsprachigen Raum war sie als Theoretikerin, Lehrende und universitäre Akteurin wesentlich beteiligt.
Die Promotion der Wissenschaftlerin in den 1980er Jahren wies eine psychoanalytische und sprachphilosophische, also „wienerische“ Prägung auf. Ihre Habilitation mit dem Titel „Medienkörper. Produktion und Repräsentation von Geschlechtsidentitäten“ war hingegen beflügelt von ihrer Neugierde für die damals international aufblühenden feministischen, kritischen Technowissenschaften. Ein Auslandsstipendium ermöglichte es Angerer, sich mit diesen Theorietraditionen aus Kalifornien, Australien und Kanada auseinanderzusetzen und dann in ihr Wirken zunächst an der Universität Salzburg und später in Bochum, Köln und schließlich in Potsdam einzubringen. Als Avantgardistin verband sie dadurch die Wiener Theorietradition mit in Europa anfangs eher vom Hörensagen bekannten Denkströmungen. Und sie etablierte den Körper als Schauplatz medienwissenschaftlicher Forschung.
Ihre vielfältigen Interessen kulminierten in einem Gravitationszentrum, nämlich über das nachzusinnen, was uns in unseren Alltagshandlungen als Quelle und als Antrieb entgeht: Sigmund Freuds Unbewusstes, Michel Foucaults Dispositiv, Donna Haraways Cyborgs, Gilles Deleuze’ maschinische Affekte, Rosi Braidottis Nomad*innen. Ich wähle hier bewusst den Genitiv, eine Form, die Marie-Luise Angerer in ihren Theorietexten selbst oft verwendet hat: Konzepte und ihre Urheber*innen verzahnte sie mit einer grammatikalischen Form, die die Richtung der Zugehörigkeit unklar erscheinen lässt. Ist das Unbewusste eine Schöpfung Freuds oder Freud eine Schöpfung seines Unbewussten? Hat Haraway die Cyborgs erfasst, oder wurde sie von ihnen erfasst? Solche Rätselfiguren und Kippbilder sind willkommene Anlässe für ein Denken, das Heilsversprechen und Kontrollfantasien gleichermaßen misstraut. Weder begriff Angerer den Affekt – großes Thema ihrer Forschung der letzten Jahre – als ein Reich der Freiheit von sozialen und kulturellen Zwängen, noch wollte sie Sinnlichkeit und Empfinden als Angriffspunkte für kybernetische Optimierung und algorithmische Bewirtschaftung preisgeben. Bezeichnend für ihren Denkstil ist zudem ein Denken in Gesellschaft. Ihre Texte sind bevölkert mit anderen Theoretiker*innen, die sie zu Wort kommen lässt, deren Thesen sie zuspitzt, erweitert, abwandelt. Da gibt es kaum einen Satz, der sich nicht mit einer Denkperson und -figur auseinandersetzt. Aus diesem Muster schält sich jedoch immer ein engagiertes Eigenes heraus. Ein Denken, das historische Kontinuitäten und Paradigmenwechsel – etwa von der Sexualität zum Affekt als Leitidee – benennt und Sprünge in Form von begrifflichen Setzungen wagt: Angerers Nichtbewusstes, Angerers Affektökologien.
Die hohen theoretischen Einsätze ihrer Texte verdecken mitunter, dass Marie-Luise eine Verankerung intellektueller Arbeit im politischen und künstlerischen Zeitgeschehen wichtig war. Besonders in der Lehre wurde das sichtbar. Da wurden Kriegsberichterstatterinnen und Fotografinnen eingeladen, oder es gab kollaborative Lehrveranstaltungen zu weiblichem Widerstand und Erinnerungspolitik. Sie hat unzählige Menschen zusammengebracht, Freundschaften gestiftet und Studierende gefördert, das Gewebe von Medienwissenschaft und Medienkunst mit einem feministischen Kettfaden versehen.
Zwei Bewegungen verflochten sich in Angerers Wirken: ihr beharrliches Durcharbeiten von zentralen Problemen des Fachs und ihre Offenheit für Revision und Verzweigung. Überall war ihre Neugierde spürbar, die sich auch in Reisen und der Bereitschaft, sich auf zunächst fremde Kontexte einzulassen, zeigte. Unterwegs – auch so ein Dazwischen – hat sie sich wohlgefühlt. Vor Kurzem ist sie über jene Schwelle gegangen, die für uns Lebendige unerfahrbar bleibt, uns aber als Sterbliche verbindet. Marie-Luise Angerer hat uns so viel zu denken gegeben und sie wird der vielgestaltigen Community, die sie selbst mitgebaut hat, fehlen.
Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz.
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