Der Ai Weiwei-Komplex. Vera Tollmann, Stefan Heidenreich und Yuk Hui über Ai Weiwei
Ai Weiwei, "Han Dynasty Vases with Auto Paint", 2013, Foto: Mathias Völzke
Im Vorfeld von Ai Weiweis kürzlich im Berliner Martin Gropius Bau zu sehenden Ausstellung „Evidence“ reiste der Anwalt und Sammler Peter Raue nach Beijing, um sich über das dort gegen den Künstler anhängige Gerichtsverfahren genauer zu informieren. Die Reise unternahm Raue im Auftrag der Berliner Initiative "Die Freunde Ai Weiweis", die auch innerhalb der Ausstellung im Lichthof einen Stand hatten, an dem Besucher ihre Petition "Reisepass für Ai Weiwei" unterschreiben konnten. Vor Ort konnte Raue nur für einen der Anklagepunkte Fakten ermitteln, nämlich den wegen subversiver Tätigkeit. Ai hatte die 5.000 Opfernamen des Erdbebens in Sichuan im Jahre 2008 recherchiert und veröffentlicht, zum Ärger der lokalen Kader und der damaligen Regierung. Die gegen den Künstler ebenfalls erhobenen Steuervorwürfe bezeichnet Raue in der Arte-Dokumentation "Ai Weiwei – Evidence" als „diffus“.
Im Pressetext zur Ausstellung wird Ai nicht nur als Künstler geführt, sondern auch als Politiker. Manche würden ihn hierzulande auch als Aktivisten bezeichnen. In seinem eigenen Land gilt Ai offiziell nicht als politischer Aktivist. Tatsächlich gibt es in der Volksrepublik kein dezidiertes Wort für „Aktivisten“. In der Sprache der Partei wird er als 异见份子(yì jiàn fèn zǐ) bezeichnet, was soviel heißt wie jemand, der andere Ansichten als der Staat oder die kommunistische Partei hat, ein Dissident also. Das Fehlen eines Begriffs für „Aktivisten“ schließt in der offiziellen Sprache schon semantisch alle Formen von Widerstand gegen die dunkle Seite der Politik aus. Hier zeigen sich die Widersprüche zwischen offizieller Sprache, westlicher Wahrnehmung und der Position des Künstlers, nicht nur in China, sondern mehr noch im Westen.
Uns gilt Ai Weiwei zweifelsohne als Künstler. Zugleich beklagen wir, dass Widerstand in China in kulturelle Nischen ausweichen oder sich als „Kunst“ tarnen muss. Erweitert man ihm dagegen ungebrochen diesen Status um den eines politischen Aktivisten nach westlichem Verständnis, wie es der Ausstellungskurator tut, müssen wir zugleich bestätigen, dass Politik in China aus westlicher Sicht etwas Theatralisches hat. Denn, wiewohl der Umstand von Ai Weiweis Verhaftung natürlich ein Politikum darstellt, so sind nicht nur die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, sondern auch seine konkreten politischen Ziele doch unklar. Vielleicht gerade wegen dieses Widerspruchs erscheint Ai Weiweis Werk in seinen politischen Aspekten verspielt und ironisch. Als der Künstler zu seiner aktuellen Ausstellung interviewt wurde, erwiderte er, dass wohl sein bestes Werk in der Tatsache seiner eigenen Abwesenheit, seinem Nichterscheinen zur eigenen Ausstellung bestehe.
Diese Abwesenheit kontrastiert mit der ostentativen Anwesenheit der Person im eigenen Werk, von frühen Selbstporträts bis zu jüngsten Selfies und Youtube-Musikvideos. Ai Weiwei legt viel Wert auf sich selbst als Figur, etwa wenn er in dem Film „The Fake Case“ Artikel über sich selbst liest oder oder sich dabei filmen lässt, wie er einen Al Jazeera-Beitrag („Chinese artist Ai Weiwei silenced“) über seine Freilassung auf Youtube ansieht oder einen Guardian-Artikel („Ai Weiwei attacks injustice in China in magazine article“) liest. Im Film „Never Sorry“ signiert er zahlreiche Cover einer Ausgabe des chinesischen Lifestyle-Magazins iLook, das ihn in einer mehrseitigen Bildstrecke zeigt. Und wenn er via Skype mit seinem Anwalt und Unterstützer Jerome Cohen in New York spricht, zeichnet er den Stream vom Monitor mit dem Smartphone auf.
Ai Weiwei, 2012, Foto: Gao Yuan
Der gelegentliche Narzissmus mag – möchte man biografisch argumentieren – eine Wurzel in seiner Herkunft haben. Ai Weiwei stand als Sohn von Ai Qing immer nah am Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein Vater gilt als einer der wichtigsten Dichter Chinas, seine Gedichte wurden zur Schullektüre. Zugleich war er an gehobener Stelle der kommunistischen Partei in die offizielle Politik eingebunden. Doch die politische Protektion, die er familienhalber von höchster Ebene hatte, fand ihre Grenzen. Viel spricht dafür, dass sich Ais Inhaftierung im Jahr 2011 und die derzeitige Reisebeschränkung auf eine politische Intrige zurückführen lassen. Gerüchte besagen, seine Festnahme am Flughafen in Beijing kurz nach Eröffnung der deutschen Aufklärungsausstellung im Nationalmuseum sei auf Anordnung eines Lokalpolitikers erfolgt, der sich im Wahlkampf als Hardliner profilieren wollte. Seine Unterstützer, die Ai bis in höchste Parteikader hat, konnten ihm nur bis zu einem gewissen Grad helfen. Das Ergebnis, dass eine zunächst undurchsichtige Anklage zu einem nicht genauer begründeten Hausarrest führt, stellt eine typisch chinesische Lösung eines Konflikts dar. Alle Beteiligten wahren ihr Gesicht, ohne sich je in der Öffentlichkeit erklären zu müssen. Deutsches Rechtsverständnis, mit dem sich etwa Peter Raue dem Fall näherte, trägt hier wenig zum Verständnis der Abläufe und Resultate bei.
Mittelbar hat sich für den Künstler damit ein seltsamer Profit ergeben, denn seither spricht er, jedenfalls in der Wahrnehmung der westlichen Welt, als verfolgter Regimegegner, und er tut dies auch unangefochten für alle chinesischen Künstler. Dieses westliche Medienbild von Ai Weiwei erregt in China teilweise Ärger, und zwar nicht nur von offizieller Seite, bestätigt es doch das im Westen gängige Vorurteil vom unfreien Regime im Gegensatz zu unserer vermeintlich liberalen Gesellschaft. Ein derartiges Schwarz-Weiß-Denken wird der Lage nicht gerecht, auch wenn Ai WeiWei es durch sein jüngeres Werk immer wieder bekräftigt. Ein Großteil seiner neueren Arbeiten bezieht sich nun auf staatliche Zwangsmaßnahmen: das Remake der Zelle, die Repliken der Gefängnis-Kleiderbügel aus Kristallglas und Edelstahl, die Dokumentation vom Abriss seines Shanghaier Studios, eine Wandtapete aus Schuldscheinen, die er für Solidaritätsspenden zur Rückzahlung einer vermeintlichen Steuerschuld ausgegeben hatte.
Dabei blieb die Recherche nach dem Erdbeben in Sichuan, um eine vollständige Namensliste aller Opfer zu erstellen, das einzige tatsächlich im Ausland rezipierte aktivistische Projekt des Künstlers – denn stärker wird seine Positionierung als Aktivist wahrgenommen.[1] Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zeigt zu Sichuan drei Arbeiten. Ai inszeniert verbogene Armierungseisen eingestürzter Häuser, von denen wegen Pfusch am Bau zu wenige verbaut wurden. Mal sind sie durcheinander im Raum verteilt, dann als Tierfiguren und schließlich drei Einzelstücke aus weißem Marmor auf einem tischförmigen Sockel.
Ais künstlerische Karriere, die man über die politischen Aspekte seiner Arbeit nicht aus den Augen verlieren darf, führt von der Akademie in China über konzeptuelle Experimente in New York und über dokumentarischen Filmarbeiten in Beijing zur vollständigen Anpassung an die Gesetze des internationalen Kunstmarkts und der großen Galerien. 2012 listete ihn ArtReview als mächtigsten Künstler weltweit. Diese Liste führt er noch immer an, vor Marina Abramović. Seiner Marktposition entsprechend änderten sich seine Werke in Ausführung und Inhalt und nahmen immer größer Ausmaße.
Ai Weiwei, "Stools", 2013, Ausstellungsansicht Martin-Gropius-Bau 2014, Foto: Eric Gregory Powell
Zum Repertoire seiner Groß-Installationen gehören Mengen alter Fahrräder, Holzschemel, Möbel, selbst ganze Häuser und gerne vorindustrielle Materialien wie Holz, Marmor, Bronze und Glas. Die Produktions-Maschinerie Ais bedient die Wünsche großer Institutionen und Sammler in zwei verschiedenen Formaten. Für Großinstallationen werden in der Regel einfach große Mengen gleichartiger Objekte ausgestellt, gerne mit einem schon fast touristischen China-Flair - Hocker, Stühle, Möbel, Hölzer, meistens mit Hinweis auf den historischen Wert, einerlei ob aus der Qing- oder der noch früheren Ming-Dynastie, oder als Schocker für westliches Geschichtsverständnis die mit Autolack überzogenen 2000 Jahre alten Vasen aus der Han-Periode. Exklusive Sammlerstücke dagegen werden aus hochwertigem Material gefertigt, von Quarz bis Marmor. In beiden Fällen wird symbolischer Wert direkt in Marktwert überführt. Die Originalität seiner frühen Arbeiten, die noch von einer konzeptuellen Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit lebten, scheint hinter den zusehends rezepthaften Antworten auf die politische Gegebenheiten und Anforderungen des Marktes nur noch selten durch.
Neben seiner auf die westlichen Medien gerichteten Stilisierung als aktivistischer Künstler knüpft er aber auch mit Blick auf die chinesische Rezeption an die Figur eines Xia (俠) an. Ein Xia stellt die traditionelle Rolle des Helden dar, der für die Unterdrückten und Ausgebeuteten kämpft, dem europäischen Robin Hood vergleichbar. Erst jüngst spielte eine solche Figur im Film "A Touch of Sin" des Regisseurs Jia ZhangKe die Hauptrolle. Der Film wurde in China verboten, nicht nur wegen der Kritik an sozialen und ökonomischen Zustände, sondern auch weil er eine Hommage an den Xia als einer Figur des politische Widerstands darstellt.
Ai Weiweis ambivalente Selbstdarstellung versucht genau in diese Rollen zu treten, indem er sich als rechtmäßigen Kämpfer gegen staatliches Unrecht inszeniert und den westlichen Begriff künstlerischer Freiheit nutzt. Gelegentlich tritt er auch als Autor in Erscheinung, so wie am 4. Juni 2014, genau 25 Jahre nach dem Tiananmen-Massaker auf der Website von Bloomberg. Das New Yorker Nachrichtenunternehmen ist in China gesperrt, seit dort im Vorfeld des letzten großen Parteitags aufgedeckt wurde, in welchem Umfang chinesische Kader und deren Familien, hier im besonderen die des Ministerpräsidenten Xi Jinping, Geld beiseite schaffen. Alleine die Tatsache, dass Ai ausgerechnet dort veröffentlicht, dürfte ihm den Zorn der Partei-Oberen zuziehen. In dem Artikel vergleicht er die Tatsache, dass sein Name jüngst von zwei Ausstellungslisten gelöscht wurde, mit der offiziellen Politik, Ereignisse wie das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens aus der Geschichte zu verdrängen.
Wenn Ai Weiwei sich derart als Sprecher einer anderen chinesischen Politik auch historisch positioniert, wird er zu einem Symbol, Akteur und Spielball einer komplexen Wechselwirkung zwischen globalem Kunstmarkt, einem autoritären Staat, einem westlichen Begriff künstlerischer Freiheit und den unterschiedlichen Wahrnehmungen auf beiden Seiten. Je mehr er sich als Rebell und Xia stilisiert, je eindringlicher das Medienbild im Westen diese Position verfestigt, desto mehr wird er zum Repräsentanten des eigenen Aktivismus.
Das bleibt nicht unbemerkt, und führt selbst zu künstlerischen Reaktionen. In der Ausstellung „Die 8 Wege“ in den Berliner Uferhallen, die gleichzeitig zu Ai Weiweis Einzelausstellung lief und die eine jüngere Künstlergeneration aus Beijing vorstellte, wurde eine Skulptur von He Xiangyu mit dem Titel “Tod des Marat” gezeigt. In diesem Werk ist Ai zugleich gegenwärtig und abwesend. Eine lebensgroße Figur, die stark an Ai laoshi - den Meister Ai - erinnert, liegt am Boden, das Gesicht zur Erde gekehrt.
Ai Weiwei, "Evidence", Martin-Gropius-Bau, Berlin, 3. April bis 13. Juli 2014
[1] Unter chinesischen Aktivisten ist dagegen durchaus bekannt, dass Ai Weiwei sich auch mit anderen politischen Skandalen beschäftigt hat, und die Verdienste dieser Projekte sollen hier keineswegs geschmälert werden: Zum Beispiel dokumentierte er 2008 den im chinesischen Internet viel diskutierten Fall des 28-jährigen Yang Jia, der in Shanghai sechs Polizisten umgebracht hatte, nachdem er von der Polizei beleidigt und geschlagen worden war (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Yang_Jia_(M%C3%B6rder)); 2010 recherchierte Ai Weiwei einen weiteren Vorfall in Shanghai, bei dem vermutlich wegen Bau-Korruption und -Mängeln bei einem Brand 58 Leute umkamen; und im selben Jahr drehte er einen Dokumentarfilm über Qian Yunhui, der bei einem Unfall brutal von einem Lastwagen überfahren wurde, und dessen Familie jahrelang auf Entschädigung klagte. Ai Weiweis Assistent und er selbst wurden danach von der örtlichen Polizei verhaftet. (https://www.youtube.com/watch?v=pE01QjhPcSY)