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GHOSTS AND THE MACHINE Anna Sinofzik über Matthias Groebel bei Schiefe Zähne, Berlin, und Drei, Köln

„Matthias Groebel: Chemical“, Schiefe Zähne, Berlin, 2024

„Matthias Groebel: Chemical“, Schiefe Zähne, Berlin, 2024

Mit maschinengestützten Malereien, die in den Neunziger- und Nullerjahren auf Basis von TV- und Videostills entstanden, wurde Matthias Groebel in den vergangenen drei Jahren viel Aufmerksamkeit zuteil. Nun haben zwei Galerien die ältesten und neuesten Arbeiten des Künstlers gezeigt: Bevor Groebel begann, mit seiner selbst gebauten Maschine und Tools digitaler Bildbearbeitung Stills auf Leinwände zu übertragen, bediente er sich einer Kombination aus fototechnischen und malerischen Verfahren. Inzwischen zeichnet er mit einer neuen, algorithmisch gesteuerten Maschine. Anna Sinofzik nimmt die Einzelausstellungen in Berlin und Köln zum Anlass, um über Groebels späten Karriereschub sowie das Geisterhafte in seinen Bildern nachzudenken.

Die aktuelle Erfolgsgeschichte von Matthias Groebels Malerei folgt manch klassischen Regeln der Kunst. Zum Beispiel gibt es eine zur Legende taugende Story im Cyberpunk Style, geprägt vom Künstler Andreas Selg, der Groebel – überzeugt von dessen Arbeit und ihrer Bedeutung – 2021 eine eigentlich ihm selbst zugedachte Galerieshow überlassen hat [1] und der wenig später als Co-Kurator an der Ausstellung im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen beteiligt war, in der ich Groebels sogenannte Fernsehbilder das erste Mal sah. [2] Schlüsselszenen der Erzählung um Groebel werden seither gern aufgegriffen – dieser Text stellt keine Ausnahme dar –, zu anekdotisch und einprägsam sind die Motive: Groebel als Outsider und Nerd, der in den späten Achtzigern damit begann, auf Schrottplätzen nach Bauteilen für eine Malmaschine zu suchen; der im Geiste des DIY entsorgte Elektrogeräte zweckentfremdete und daraus eine Apparatur konstruierte, die aus Airbrushpistolen Farbe auf Leinwände schoss; der Open-Source-Strategien nutzte, um jene derzeit zunehmend verschlüsselten Privatsender zu hacken, die ihm in den Neunziger- und Nullerjahren als primäre Bildquelle dienten. Dass Groebel jahrzehntelang weitgehend außerhalb des Galeriesystems agierte, passt ins Narrativ, das derzeit aktiv weitergeschrieben wird. Dem Pressetext zu Groebels jüngster Berliner Ausstellung – der ersten seines Frühwerks aus den Achtzigerjahren – lässt sich zum Beispiel entnehmen, dass der gelernte Apotheker seine ersten Bilder mit einer Fotoemulsion herstellte, die auf einem Rezept aus dem frühen 20. Jahrhundert basierte. Während die Schau bei Schiefe Zähne eine Lücke in Groebels Ursprungsgeschichte füllt, wird bei Drei in Köln mit neuen Arbeiten eine konzeptionell konsequente, ästhetisch jedoch überraschende Erweiterung seiner künstlerischen „Produktlinie“ präsentiert und anschlussfähig gemacht. Die narrative Rahmung der Fernsehbilder durch die aktuelle Präsentation und Vermittlung von Groebels ersten und neusten Arbeiten, scheint mir für die nachhaltige Etablierung seines Werks wesentlich. Denn während die etablierte Logik des Galeriesystems zunehmend von alternativen (Selbst-)Vermarktungsmethoden herausgefordert wird, werden einzelne Werke oder Werkreihen weiterhin vor allem im Kontext von Werdegängen und Gesamtwerken kommuniziert, vermittelt und schließlich wertgeschätzt. Mit wachsendem Konkurrenzdruck und erweiterten medialen Möglichkeiten nimmt die Bedeutung von Ursprungsmythen als „tales turned into a selling point“ [3] dabei sogar zu. Einen Bogen zwischen Groebels jüngsten Ausstellungen spannend, widmet dieser Text sich der Frage, welche Rolle die hauntologische Dimension, die mit Blick auf die Fernseh- und Videobilder vielfach angedeutet, nicht aber unter Einbezug weiterer Werkreihen erörtert wurde, in Groebels verspäteter Erfolgsgeschichte spielt.

SCHIEFE ZÄHNE: SPÄTER EINBLICK INS FRÜHWERK

Schon der Farbigkeit nach ist es unverkennbar die „braune“, wahlweise „graue“ oder „erbsensuppengrüne“ BRD der frühen Ära Kohl, wie sie die Goldenen Zitronen besangen, die uns in Groebels frühen Malereien begegnet. Als Pharmazeut mischte er Mitte der Achtzigerjahre eine Emulsion aus Gelatine, Eiweiß, Halogensalzen und Silbernitrat an, um eine Auswahl hochskalierter Kompaktkameraaufnahmen auf 95 x 95 cm große Leinwände zu übertragen: Das Porträt eines Punks (der in seiner schemenhaften Übertragung auch als Skinhead durchgehen könnte) vorm Kölner Dom. Snapshots von pogendem Konzertpublikum. Ein Landschaftsbild mit windschiefem Verkehrsschild an einer Bundesstraße. Die Tonalität des Vergangenen geht in den gezeigten, ausnahmslos unbetitelten Arbeiten, die Groebel zwischen 1986 und 1990 herstellte, zunächst auf die Bildgebungstechnik zurück; in ihrer stumpfen Farbarmut ähneln seine Motive historischen Lichtbildern, etwa Ferrotypien. Aus heutiger Sicht kommt der Abstand tatsächlich vergangener Jahrzehnte hinzu, der dazu verleiten kann, den muffigen Konservatismus der Zeit verklärend beiseitezuschieben. Einen Großteil der Bilder hat Groebel mit malerischen Abstraktionen versehen: mit kurvigen Formkonvoluten, die häufig wie behelfsmäßige Markierungen aussehen und die figurativen, fototechnisch aufgebrachten Motive mal verdecken, sie dann wiederum partiell hervorheben oder ergänzen. Einige von Groebels Gesten erinnern an kollabierte Signets oder kryptische Codes – und damit an eine weitere Zitronen-Zeile: Das alte Westdeutschland, das sich in diesen Bildern diffus genug darstellt, um trist und verheißungsvoll zugleich zu erscheinen, barg – in den Worten der Band – vielfach die „Gewissheit, Träger[in] von Geheimwissen zu sein“.

Matthias Groebel, „Untitled“, 1987

Matthias Groebel, „Untitled“, 1987

Als Groebel seine frühen Arbeiten produzierte, war „Geheimwissen“ in der Kunstwelt noch eine veritablere Währung als heute. Grundlegende Chiffren der Malerei ließen sich nicht ergoogeln, sondern vor allem im sozialen Kontext erlernen. Im Rheinland, wo Groebel bis heute lebt, boomte der Kunstmarkt damals wie nirgendwo sonst in der Republik. Groebel verstand sich als Maler, agierte jedoch am Rande jener Kreise, in denen die gerade angesagte Malerei entstand. Es war der zeitliche und räumliche Kontext, in dem Martin Kippenberger den Insiderwitz zum zentralen Prinzip seiner künstlerischen Strategie machte. Dieser Witz, der sich von Betrachter*innen zwar als solcher identifizieren, aber nur selten vollständig dechiffrieren lässt, spiegelt die oft exklusiven Mechanismen einer Szene, die in Groebels Werk hereinspielt, während er selbst ihr Outsider blieb. Sein betont unartikulierter, grober Strich mag eine gewisse Verwandtschaft zum Bad Painting aufweisen, doch seine malerischen Referenzen weisen weiter zurück.

„Matthias Groebel: Chemical“, Schiefe Zähne, Berlin, 2024

„Matthias Groebel: Chemical“, Schiefe Zähne, Berlin, 2024

Gerade in Kombination mit den farbarmen, alltäglichen Fotomotiven wirkten Groebels Abstraktionen wohl schon in den Achtzigern weniger neu und wild als vielmehr etwas altbacken, vorsichtig, fast melancholisch. Wenn die BRD in seinen Bildern vorkommt, dann wird sie nicht im Zuge eines ironischen oder zynischen Zeichenspiels verhandelt, das scharfe Kritik am damals aufkommenden Neoliberalismus formuliert; als Lebenswelt des Künstlers war die westdeutsche Wirklichkeit für ihn vor allem naheliegender Bildgegenstand, um malerische Techniken zu erproben. Auch sein Strich scheint weniger herausfordern zu wollen, als affirmativ auf vorausgegangene Künstler*innengenerationen zu rekurrieren – zum Beispiel auf Kompositionen des Informel, von denen viele der sich als progressiv begreifenden jungen Maler der Zeit sich dezidiert abgrenzen wollten. In einem Bild der Ausstellung, dem frühsten und einzigem aus dem Jahr 1985, sieht man pastose, breite Pinselstriche ganz ohne fotografisches Motiv auf der Leinwand, deren Format sie zwar füllen, wo sie aber dennoch ein wenig verloren wirken; zudem zugleich suchend und (fremd-)bestimmt, als wollten sie die eines K. R. H. Sonderborg sein. Erst im Dialog mit der figurativen Bildebene wird Groebels malerischen Gesten etwas Eigenes, geisterhaftes zuteil: Wie Spuren persönlicher Erinnerungsdurcharbeitung werden sie scheinbar zum malerischen Mittel, sich mit Momentaufnahmen aus seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. [4] Zugleich lassen sie sich – Elemente der figurativen Motive hervorhebend, ergänzend, markierend oder maskierend – als überzeichnete und analoge Vorläufer jener Werkzeuge der digitalen Bildbearbeitung lesen, die Groebel sich Jahre später in seinen sogenannten Fernsehbildern zunutze machen würde. Letztere waren es, die dem Autodidakten, der vom Kunstmarkt lange mehr oder weniger ignoriert wurde, kürzlich vermehrt Galerieausstellungen und Repräsentanzen verschaffte. [5]

EXKURS: VON DER BROADCASTING-ÄRA ZUR BESTEN SENDEZEIT

Auf den ersten Blick haben Groebels Arbeiten aus den Achtzigern mit den Fernsehbildern der Neunziger- und frühen Nullerjahre vor allem das Format von 95 x 95 cm gemein. Vor dem Hintergrund der malerischen Bezugnahme auf das Informel, die im Frühwerk durchscheint, mag Groebels künstlerische Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen den Vergleich mit K. O. Götz’ Rasterbildern der Reihe Density 10: 3: 2: 1 nahelegen. Doch während Götz die einzelnen Bildpunkte seiner formalästhetisch und konzeptionell gänzlich anders gelagerten Reihe von Hand zeichnete, um Bilddichte und Modulation modellhaft darzustellen, sind Groebels Punkte maschinell gemalt und übersetzen TV-Stills in figurative Malerei. Als Quelle nutzte er das Privatfernsehen, das damals noch weitgehend unreguliert das heterogene Material internationaler Broadcaster in westdeutsche Haushalte sendete, [6] manchmal auch gerippte Filme oder Workout-Anleitungen auf VHS. Die Standbilder, die Groebel wählte, schnitt er gern zu Close-up-Porträts unterschiedlichster, größtenteils unbekannter Protagonist*innen zu und farbseparierte sie mit einem Vorläufer von Photoshop, um die einzelnen Bildebenen in seine selbst gebaute Maschine einzuspeisen, die – Layer für Layer – Farbe durch frisierte Airbrushpistolen auf seine Leinwände schoss. Das Prinzip lässt an einen Inkjet-Drucker denken und wenn das Groebel auch kaum zu einem Proto-Wade Guyton macht, sind gewisse Parallelen unverkennbar. Wie Guytons Malerei lebt Groebels von charakteristischen glitches. Während bei Guyton defekte Druckköpfe und Papiereinzüge Schlieren erzeugen, gehen bei ihm Bildstörungen häufig auf Fehler in der Datenübertragung zurück; in anderen Fällen lassen unsaubere Sprühköpfe Bildpunkte bluten und die aufgrund schlecht aufgelösten Ausgangmaterials ohnehin unscharfen Motive seltsam bewegt erscheinen. Bei beiden Künstlern sind die Spezifika (und spezifischen Unzulänglichkeiten) der Maschinen entscheidend, zudem greifen beide immer wieder manuell in den automatisierten Prozess des Geräts ein, das Groebels Fall selbst Produkt kleinteiliger Handarbeit ist. Wie die grundlegende Rolle der Fernsehbilder für die mittlerweile rege Rezeption von Groebels Arbeit bekräftigt, hat der Künstler auf Basis seines maschinell gestützten Verfahrens gefunden, was er in seinen frühen Bildern noch zu suchen schien: eine besondere malerische Handschrift.

„Matthias Groebel: A Change in Weather (Broadcast Material 1989-2001)”, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021/22

„Matthias Groebel: A Change in Weather (Broadcast Material 1989-2001)”, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021/22

Groebels Fernsehbilder wurden zunächst vor allem im Kontext der Medienkunst wahrgenommen. [7] Dabei weisen sie durchaus formale Prinzipien der Konzeptkunst auf, etwa das Verfahren der Appropriation oder das Prinzip der Serialität. Dem kunsthistorischen Rückgriff steht die Antizipation neuer Bildtypen gegenüber: Das quadratische Format gleicht im Seitenverhältnis einer Instagramkachel, zudem legen die vielfach mit dekontextualisierten Textfragmenten kombinierten Motive den Vergleich mit Memes nahe. Mal überlagert Groebel das Porträt einer desillusioniert dreinblickenden Person mit der Phrase „Instant Relief“, mal das einer wie leblos daliegenden mit den Worten „Private Place“. Neben obskuren Botschaften und düster rauschenden Bildpunkten sind es die extremen Nahansichten unbekannter Gesichter, von denen eine unbehagliche Intimität ausgeht, die aus heutiger Sicht weniger mit der Erfahrung nächtlichen Zappens, als vielmehr mit der des Doomscrollings durch endlose Social-Media-Feeds korrespondiert.

„Matthias Groebel: Phantoms All Around Me“, Gathering, London, 2024

„Matthias Groebel: Phantoms All Around Me“, Gathering, London, 2024

Im Frühjahr letzten Jahres wurde bei Gathering in London eine Reihe von Bildern aus den Nullerjahren ausgestellt, die Groebel mit derselben Malmaschine hergestellt hat wie seine Fernsehbilder, die im Gegensatz zu diesen jedoch nicht auf Found Footage basieren. Wie die ganz frühen Arbeiten gehen die der Londoner Show (die Hannes Schmidt, der die Galerie Schiefe Zähne führt, kuratiert hat) auf eigene Aufnahmen Groebels zurück. Anstelle des persönlichen Umfelds, das der Künstler in den Achtzigern porträtierte, sieht man hier Passant*innen vor viktorianischen Fassaden des Londoner Viertels Whitechapel, die er mit dem Camcorder gefilmt hat. Die veränderte Aufnahmetechnik bringt ästhetische Unterschiede wie eine verminderte Bildschärfe und eine flachere Farbigkeit mit sich (und die spürbar bleibt, obwohl Groebels Bearbeitung ihr offenbar mit erhöhten Kontrasten entgegengesteuert). Zudem hat der Künstler sich vom bisher vorrangig von ihm verwendeten Format gelöst und, im Gegensatz zu den bislang hier besprochenen Arbeiten, bisweilen mit multiplen Panels gearbeitet. Die besondere Handschrift seiner Apparatur bleibt jedoch unverkennbar. Wenn man so will erweiterte die Londoner Show also die 2021 erfolgversprechend eingeführte „Produktlinie“, ohne allzu offensichtlich mit ihrer Ästhetik zu brechen.

DREI: PROGRAMMÄNDERUNG? ZURÜCK IN DIE GEGENWART

Nun ist Groebels Maschine kaputt. Wie er mir im Gespräch in seiner Kölner Ausstellung berichtet, versucht er noch, sie zu reparieren. Indes hat er begonnen, mit einer anderen Technik zu experimentieren und die Zäsur im eigenen Werk zur Tugend zu machen. Einige Ergebnisse sind nun eben in der Galerie Drei in Köln zu sehen. Den Anspruch, die Wiedererkennbarkeit seiner Praxis weiterhin zu gewährleisten, hatte Groebel bei der Entwicklung seiner neuen Malmaschine offenbar nicht. Zwar nutzt er erneut eigene Aufnahmen als Ausgangsmaterial, doch bringt er sie diesmal weder chemisch auf noch über maschinell gesetzte Bildpunkte. Stattdessen übersetzt er die Fotos per Scan in einen digitalen Datensatz aus zigtausend Punkten, welche seine neue Maschine zeichnerisch verbindet: An elektronischen Steuerelementen führt sie verschiedene Sets von Stiften über monochrom bemalte Leinwände – und zwar mithilfe eines Algorithmus, der sicherstellt, dass sich die Linien nicht überkreuzen. Immer wieder unterbricht Groebel auch hier den automatisierten Prozess, um manuell einzugreifen. Manche der resultierenden Bilder muten von Weitem fast fotografisch an (mal erkennt man eine bischöfliche Prozession, mal einen Jecken beim Karnevalszug), bei näherer Betrachtung diffundieren die figurativen Motive jedoch zu wirr verdichtetem Strichwerk. Wie bei Groebels erster Maschine sind es nicht zuletzt die technischen Unzulänglichkeiten der eigens konzipierten Apparatur, die den Duktus dieser Bilder bedingen, der hier jedoch ein gänzlich anderer ist. Wenngleich sich die neuen Arbeiten formalästhetisch fundamental von Groebels früheren Maschinenbildern unterscheiden, setzen sie sein malerisches Projekt aber konsequent fort, indem sie analoge mit digitalen Verfahren zu Kompositionen verschränken, die mediale und technische Bedingungen so weit ins Zentrum rücken, dass sie als informationspraktischer Materialismus [8] gelten können.

„Matthias Groebel & Jean Katambayi Mukendi: New Technologies“, Drei, Köln, 2024/25

„Matthias Groebel & Jean Katambayi Mukendi: New Technologies“, Drei, Köln, 2024/25

Die eingespeisten Motive sind für Groebel vor allem formal und weniger inhaltlich von Interesse. Und doch rufen sie Kontexte auf, in die sich viel hineinlesen ließe (Karneval, Katholizismus). Gleiches gilt für die Paarung mit der zweiten, zeitgleich bei Drei gezeigten Position: Kurator Martin Germann hat Groebels Arbeit mit der von Jean Katambayi Mukendi kombiniert, was sich in puncto Künstlerbiografie sowohl als perfect match wie als identitätspolitischer Counterpart lesen lässt. Auch Mukendi, gelernter Elektroingenieur und Mathematiker, kam als Quereinsteiger zur Kunst. Seine Zeichnungen (Afrolamps, 2024), die an Totemmasken, Schaltkreise und Produktzeichnungen erinnern, thematisieren den massiven Kobaltabbau in Katanga, der Heimatregion des Künstlers, wo sich die Ausbeutung der Kolonialzeit fortsetzt, um den immensen Bedarf an Lithiumbatterien in den Industrienationen zu decken. Dass sich Groebels neue Bilder auf den ersten Blick leicht Mukendi zuordnen lassen, mag zum einen daran liegen, dass sie kaum Ähnlichkeit zu früheren Werken aufweisen. Andererseits an den stereotypen Vorstellungen, anhand derer Besucher*innen die verschlungene Linienführung der neuen Malmaschine möglicherweise vorschnell kategorisieren, exotisieren: Ihr Duktus lässt sich leicht mit traditionellen afrikanischen Mustern in Verbindung bringen, deren zigzags in populärwissenschaftlichen Texten gern als Symbol für unstete Lebenswege gedeutet werden.

Matthias Groebel, „Untitled“, 2024

Matthias Groebel, „Untitled“, 2024

Groebels zackiger Strich hat tatsächlich etwas mit komplexen Wegen zu tun, allerdings in ganz anderer Art: Der Algorithmus, der ihn steuert, ist vom sogenannten Traveling-Salesman-Problem inspiriert, einer Optimierungsaufgabe aus der Unternehmensplanung und theoretischen Informatik. Ihr Ziel ist es, eine Sequenz für den Besuch mehrerer Orte kombinatorisch so festzulegen, dass keiner (außer der Ausgangsstation) mehr als einmal besucht wird, die Route des Handelsreisenden also möglichst kurz ist. Das Traveling-Salesman-Problem bzw. dessen Lösung dient der Effizienz und Optimierung und kommt damit zwar potenziell der Nachhaltigkeit zugute, aber auch dem Kapitalismus als vielleicht größtem Problem unserer gesellschaftspolitischen Gegenwart ohne greifbare Lösung. Gerade in Verbindung mit Mukendis Thema lässt sich in Groebels Technik eine kapitalismuskritische Komponente hineinlesen, die er selbst wohl kaum so beabsichtigt hat. Und wer den Traveling Salesman Willy Loman aus Arthur Millers Klassiker kennt, dürfte sich daran erinnern, dass sich Vergangenheit und Gegenwart für ihn auf ähnliche Weise vermischen, wie es alte analoge und neue digitale Verfahren auf Groebels Leinwänden tun.

EPILOG: SPECTERS OF GROEBEL

In Texten und Gesprächen zu Groebels Fernseh- und Videobildern ist immer wieder von Geistern die Rede. [9] Ausstellungstitel wie „Phantoms All Around Me“ (die Londoner Show) betonen die gespenstische Dimension, die in vielen seiner Bilder aufscheint. Bei den Fernseh- und Videobildern vermittelt sie sich recht offensichtlich durch Screen Glitches – Klassiker des Horrorfilmgenres, wo flirrende Bildschirme und gestörte Programme nicht selten als Gateways für spukende Seelen fungieren. Doch auch in Groebels frühen Arbeiten ist das Geisterhafte als wesentliche Komponente anwesend. Hier kommt es vor allem durch verwittert monochrome, chemisch erzeugte und alchemistisch anmutende Abzüge zustande und durch Gesten, in denen vergangene Generationen von Maler*innen herumzugeistern scheinen. Auch historische Rückgriffe – in den frühen Bildern auf das Informel, später auf die Konzeptkunst – lassen sich als Aspekte des Hauntologischen lesen. Die uncannyness der aktuellen Arbeiten mag mit den Gefahren emergenten maschinellen Bewusstseins zunächst wenig zu tun haben. Doch wenn Groebels Technik verglichen mit jüngsten Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz auch harmlos wirkt: In der Malerei seiner Apparatur, die wie von Geisterhand Stifte führt, verbinden sich Mensch und Maschine auf frankensteinhafte Weise, suggerieren im Rekurs auf Historisches eine Untersuchung heute relevanter technikethischer Fragen.

Groebels Werk hat also nicht nur in Teilen, sondern in seiner Gesamtheit etwas Hauntologisches an sich. Und zwar vielleicht weniger im Sinne von Jacques Derrida, für den die Specters of Marx in den frühen Neunzigerjahren zu spuken begannen, als vielmehr im medienarchäologischen Verständnis von Mark Fisher und Simon Reynolds, für die musikalische Verweise auf verschwundene Medien wie das analoge Fernsehen nicht bloß eine Faszination für eben diese signalisieren, sondern vor allem eine gewisse Melancholie. „The tracks bleed into one another (…), like failing memories“, [10] so Fisher über Sound, der von Verlorenem erzählt, ohne den Verlust als solchen zu thematisieren. In Groebels Maschinenbildern aus den Neunziger- und Nullerjahren sind es Bildpunkte und Farben, die bluten. Ihre aktuelle Anziehungskraft lässt sich auf die nostalgische Verklärung vergangener Jahrzehnte zurückführen. Zugleich sprechen sie jedoch den Geist einer Gegenwart an, in der sich der Optimismus von Open Source ebenso erschöpft hat, wie die Subjekte des Spätkapitalismus es sind. Während Derrida in Specters of Marx noch auf die progressive Allianz der „New International“ setzt, zerlegt sich die Linke inzwischen zusehends, die Hoffnung auf neue Technologien hat sich längst in Horror vor ihnen verkehrt. Unabhängig davon, ob solche Gedanken für Groebel eine Rolle spielen, können sie helfen, den Reiz seines Werks und dessen späten Erfolg zu erklären.

„In hauntological music there is an implicit acknowledgement that the hopes created by postwar electronica or by the euphoric dance music of the 1990s have evaporated – not only has the future not arrived, it no longer seems possible“, [11] schreibt Fisher in Bezug auf den Verlust von Zukunft, den er in den Nullerjahren vermehrt aus der Musik heraushörte – und der heute in vielerlei Hinsicht unsere Gegenwart prägt. Groebels Malerei gelingt es durch die Verschränkung von historischen Rückgriffen und antizipatorischen Momenten, den Nerv dieser von (gefühlten) Verlusten gekennzeichneten Zeit zu treffen [12] – und zugleich über sie hinauszuweisen. Die Bereitschaft des Künstlers, nicht am Erfolgsrezept der Fernsehbilder festzuhalten, sondern die Erprobung dessen fortsetzen, macht deutlich, worum es ihm eigentlich geht: einen malerischen Bildgebungsprozess, in dem Mensch und Maschine konstruktiv, wenn auch nicht störungsfrei zusammenarbeiten. Dass Ersterer dabei am Ende doch meist die Oberhand behält, mag heute tröstlich erscheinen. Und vielleicht ist auch Groebels Karriere, die gegensätzlich zu der Willy Lomans verläuft, gerade in vergleichsweise düsteren Zeiten eine schöne Erinnerung daran, dass das „acknowledgement that certain hopes have evaporated“ auch im positiven Sinn von der Realität eingeholt werden kann.

„Matthias Groebel: Chemical“, Schiefe Zähne, Berlin, 13. September bis 25. Oktober 2024; „Matthias Groebel & Jean Katambayi Mukendi: New Technologies“, Drei, Köln, 6. November 2024 bis 16. Januar 2025.

Anna Sinofzik ist Autorin und Senior Editor bei TEXTE ZUR KUNST.

Image credit: Courtesy of Schiefe Zähe, Berlin, und Drei, Köln; 1-3. Fotos Julian Blum; 4. Foto Cedric Mussano; 5. Foto Ollie Hammick; 6.-7. Fotos Cedric Mussano

ANMERKUNGEN

[1]https://www.galeriebernhard.com/exhibitions/matthias-groebel.
[2]https://kunstverein-duesseldorf.de/ausstellungen/a-change-in-weather-broadcast-material-1989-2001.
[3]Ana Teixeira Pinto, „The Unfinished Business of Sentimentality“, in: Texte zur Kunst; 2024.
[4]Der Titel der Ausstellung bei Schiefe Zähne, „chemical“, der auf das analoge Verfahren verweist, mit dem die Motive aufgebracht wurden, lässt sich auch auf die molekularen Vorgänge beziehen, die menschliche Wahrnehmung und damit auch das Erinnern und Vergessen steuern.
[5]Bei Schiefe Zähne und Drei ist Groebel seit Anfang 2022 fest im Programm, mittlerweile repräsentiert ihn auch Ulrik (New York); Gathering (London) führt ihn unter den exhibited artists.
[6]Als die privaten Sender wenig später verschlüsselt wurden, um Bezahlmodelle einzuführen, programmierte Groebel eine Entschlüsselungsanleitung, die er Open Source zur Verfügung stellte, das entsprechende Booklet wurde als Teil der Düsseldorfer Ausstellung gezeigt.
[7]Vor knapp zehn Jahren war er zum Beispiel in der Gruppenausstellung „TeleGen. Kunst und Fernsehen“ im Kunstmuseum Bonn vertreten.
[8]Als praxisbasiertes Gegenstück zum informationstheoretischen Materialismus Friedrich Kittlers.
[9]Vgl. zum Beispiel: „Caitlin Doherty im Gespräch mit Matthias Groebel“, in: The New Left Review, 2024; Andreas Selg im Pressetext für Galerie Bernhard; Astrid Wege, „Goebel’s Ghosts“, in: Frame, 2, 2007.
[10]Mark Fisher, Ghosts of my Life, Arlesford/Hampshire, UK 2022, (Kindle Edition), S. 150.
[11]Ebd., S. 21.
[12]Andreas Reckwitz’ neues Buch Verlust: Ein Grundproblem der Moderne ist nur ein Beispiel, das diesem kollektiven Gemütszustand Rechnung trägt.