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REBECCA HORN (1944–2024) Annika Karpowski

Rebecca Horn

Rebecca Horn

„Kunst existiert irgendwo zwischen Himmel und Hölle – man muß sie nur immer wieder neu, mit heimlichen Netzen wie einen ­seltenen Schmetterling einfangen.“ [1] Mit diesen 1989 getippten Zeilen brachte Rebecca Horn die Essenz ihrer Praxis zu Papier und rief dabei eines ihrer Leitmotive auf. Horn vermochte es wie kein*e andere*r, zwischen zwei Polen feine Linien und Flüchtiges in poetischen Bildern festzuhalten. Anfang September dieses Jahres ist die ­Künstlerin mit 80 Jahren verstorben. Sie hinterlässt ein einzigartiges Werk aus über sechs Dekaden, das in seiner künstlerischen ­Sensibilität und ­Pluralität gesellschaftliche, ­politische und kulturelle ­Fragestellungen konstant reevaluierte.

Von Beginn an erkundete Horn die Verbindungen zwischen individueller und kollektiver Erfahrung sowie die gesellschaftlichen Implikati­onen solcher Zusammenhänge. Ihre Arbeiten haben kunsthistorische Kategorien bewusst erweitert und manifestieren sich in einer Vielfalt an Medien und Ausdrucksformen – von Performances und Zeichnungen über Filme, [2] kinetische Skulpturen, Gedichte und Drehbücher bis hin zu raumgreifenden Installationen, ­Bühnenbildern, Malereien und Fotoübermalungen. In ihrem Theatrum Mundi fing sie kurze Momente heimlich ein und transformierte sie in Werke von zeitloser Schönheit.

Geboren wurde Rebecca Horn am 24. März 1944 als jüngstes von vier Geschwistern in einem kleinen Dorf im Odenwald, südlich von ­Frankfurt/M. Bereits in ihrer Kindheit kam sie mit Kunst in Berührung, denn ihr Onkel war Maler, und dessen unkonventionelles, „farbenfrohes Leben“ [3] , so erzählte sie später, habe sie sehr bewundert. Nach dem Abitur schrieb sie sich 1963 zunächst für ein Studium der Volkswirtschaft in Hamburg ein, hauptsächlich als Zugeständnis an die elterlichen Wünsche. Rebecca sollte wohl das Familienunternehmen weiterführen. Doch es kam anders: Bereits kurz nach Studienbeginn ­entschloss sich Horn – ohne das Wissen der ­Eltern –, in ein Studium der Kunst und Philosophie zu wechseln.

Literatur und das eigene Schreiben waren von Beginn an zentral und flossen auf synergetische Weise zurück in Horns Werke. Auch das Studium bei ihrem Lehrer Kai Sudeck begann zunächst mit einer Lektüre, dem Roman Tagebuch eines Diebes (Journal du voleur, 1949) von Jean Genet, den er Horn als Pflichtlektüre anempfahl. Auf den Spuren des zwielichtigen Autors reiste die damals 20-Jährige voller Neugier in das Vergnügungsviertel von Barcelona und durchlebte dort körperlich wie emotional intensive Tage, die sie Jahrzehnte später für eine autobiografische Erzählung an diesen Ort zurückführen sollten. Im Frühling 1992 pachtete Horn sieben Räume im Hotel Peninsular und verwandelte sie in eine poetische Installation El Rio de la Luna: Geigen, die an Möbeln und Wänden montiert waren, spielten vollautomatisch; zwei Pistolen richteten sich bedrohlich aufeinander; ein Paar Herrenschuhe zitterte unruhig auf dem Boden; Wasser tropfte wie Tränen von einem an der Decke ­schwebenden Bett in Trichter, während sich ein Rad aus Flamingofedern sanft ­motorengesteuert öffnete und schloss. Den Betrachter*innen wurde im Foyer ein Schlüssel anvertraut, sodass sie den Kreislauf, den die Installation eröffnete – vom ersten hoffnungsvollen Aufeinandertreffen über Zärtlichkeit und Erfüllung bis hin zum Schmerz –, ­eigenständig durchschreiten und durchleben konnten.

Doch zunächst entstanden 1967 die ersten Skulpturen aus Polyester und Fiberglas, an denen Horn ohne Schutzmaske arbeitete, da man bis dahin angenommen hatte, diese Materialien seien unbedenklich. Ihre schwere Lungenerkrankung musste sie lange Zeit stationär auskurieren. Später erzählte sie, dass sie in dieser Zeit von einer Schaukel geträumt hatte, mit der sie sich „über die Mauern des geschlossenen Geländes in eine freie, künstlerische Landschaft katapultieren“ [4] konnte. Doch stattdessen lag sie während eines eiskalten Winters im Krankenbett und konnte nur zeichnen. Das half ihr, für „Überlebensstrategien und eine neue leichtfüßige Skulpturenwelt Platz [zu] schaffen“. [5]

Dieses Narrativ trug vor allem in der jüngeren Vergangenheit zu einem weiterführenden Verständnis der Werkgenese der Künstlerin bei und diente als Ausgangspunkt für Analysen vorrangig ihres Frühwerks, das größtenteils in der Tate in London konserviert wird. Basierend auf Skizzen, fertigte Horn Körperskulpturen an, die performative und prozessuale Ansätze des individuellen Körpers aufgriffen und zunächst auf die Selbstwahrnehmung ausgerichtet waren. Mit Apparaten, Masken und die Finger verlängernden Handschuhen erforschte Horn aber auch die Umwelt auf neue, distanzierte Weise. Diese Tools ermöglichten es ihr, Dinge zu sehen und zu ­ertasten, ohne sich ihnen vollständig auszusetzen, und damit eine bewusste Trennung zwischen dem Erlebenden und dem Erlebten aufrechtzuerhalten. Manche dieser von Horn für den performativen Einsatz entwickelten Objekte eröffneten hingegen eine Symbiose aus Risiko, körperlicher Verwandlung und existenzieller Grenzerfahrung. Auf Einladung Harald Szeemanns zur documenta 5: präsentierte sie 1972 Kopf-­Extension in der Karlsaue. Dieses fünf ­Meter hohe Horn, das ein männlicher Darsteller auf seinem Kopf ­balancierte, ragte überdimensional in die Höhe, während ein schwarzer Stoff dessen Gesicht verhüllte. Die Künstlerin führte den Mann gemeinsam mit drei Personen in einer hoch konzentrierten Choreografie an langen Leinen durch den Park, und beim Anblick der Aktion wurde die inhärente Lebensgefahr des Vorgangs spürbar.

Dem schloss sich eine intensive Auseinander­setzung mit dem Verhältnis von Körper und Maschine an. In ihrer künstlerischen Heran­gehensweise an das Thema erkundete Horn insbesondere die Ambivalenz zwischen ­Poesie und Aggression. Dieser Ansatz wurde unter anderem in den viel beachteten Spielfilmen Der Eintänzer (1978) und La Ferdinanda: Sonate für eine Medici-Villa (1981) auf eine neue Ebene gebracht und zugleich in Richtung einer stärkeren Automatisierung der ­Objekte ausgeweitet. So zeigte sie 1982 zur ­documenta 7 eines ihrer sublimsten Werke: die Pfauenmaschine. In einem kleinen ­Tempel auf der Schwaneninsel fächerte sich in Slow Motion ein metallisches Rad auf und imitierte so das ­natürliche Spiel eines balzenden Pfaus. Anstelle des bunten Federkleides reckten sich in repeti­tiver motorisierter Bewegung kalte, spitze Alu­kiele in den engen hohen klassizistischen Raum. Hier streckte sich nicht mehr, wie einst mit ­prothesenartigen Körperverlängerungen und -fächern, der Mensch aus, um den Raum zu ertasten, sondern die ­Maschine. Die ­Arbeiten nahmen Anleihen bei den animalischen ­Metamorphosen der Mythologie Ovids und den fantastischen Imaginationen eines Raymond Roussel. [6] In ähnlich sur­realistischem Denken folgte sie ihrer Freundin und Mentorin Meret Oppenheim, deren Porträt wie ein Leitstern in Horns Odenwälder Küche hing. Nach dem Studium in Hamburg und London pendelte Horn zunächst viele Jahre zwischen New York und Westberlin. Letzteres sollte eine wichtige Wirkungsstätte werden: Als Lehrerin, Ideengeberin und Weggefährtin gestaltete sie die Stadt mit. Hier entstanden die ­berühmten ­Berlin-Übungen in 9 Stücken, die Horn mit Freund*innen wie Otto Sander zwischen 1974 und 1975 in einer Schöneberger Altbauwohnung ­drehte. Nach vielen großen Ausstellungen in Deutschland, darunter beispielsweise ­Skulptur Projekte Münster, an denen sie 1987 teilnahm, erhielt Horn 1989 den Ruf an die Westberliner Hochschule der Künste als Professorin für ­Multimedia. Im selben Jahr übernahm sie Teile der großväterlichen ­Textilfabrik und nutzte diese als Atelier.

Immer bereit für Grenzgänge, war Horn Mitinitiatorin der wichtigen und groß angelegten Ausstellung „Die Endlichkeit der Freiheit“ im August 1990. [7] Kurz nach der Maueröffnung, jedoch noch vor der Wiedervereinigung, realisierte sie als Beitrag zur Schau in einem Haus am Potsdamer Platz den „Raum des ­verwundeten Affen“ und zeigte eine Installation aus einer alten Papierschneidemaschine, Metronomen und Kupferschlangen, die Lichtbögen an der Decke erzeugten, sowie einem Fernglas, mit dem ein Ausblick nach draußen gewährt wurde. [8] ­Wenige Jahre später, 1994, gastierte ihre umfassende Retrospektive in der Nationalgalerie. Mit dieser hatte das New Yorker Guggenheim Museum im Jahr zuvor erstmals einer Frau eine Einzelausstellung gewidmet. Für Berliner Bauten schuf Horn feste an den Ort gebundene Installationen wie Drei Grazien (2000), zu sehen in der Wandelhalle des Bundesrates, und Verspiegeltes Planetensystem (2000) im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (heute Bundesministerium für Digitales und Verkehr). Zwanzig Jahre unterrichtete Horn in der Stadt und hatte dort auch eine ihrer vier weltweit agierenden Galerien. In der Galerie Thomas Schulte war bis November die Ausstellung „Concert of Sighs“ zu sehen, die tragischerweise wenige Tage nach ihrem Tod ­eröffnete. Bei unserem letzten Gespräch im Sommer ­tauschten wir uns über die titelgebende Arbeit (im italienischen Original Concerto dei ­Sospiri) aus und betrachteten gemeinsam einen alten fotografischen Abzug, den ich zu unserem Treffen mitgebracht hatte. Wie Melancholia bei Albrecht Dürer sitzt Horn während der Biennale von Venedig 1997 seufzend hinter einem Trümmerhaufen aus Steinen alter venezianischer Häuser und betrachtet ihr Werk. Auch in vielen weiteren Projekten reagierte Horn auf die Geschichte der Orte: Ihre präzise konzipierten Rauminstallationen, wie Turm der Namenlosen (1994) für ein Stiegenhaus in Wien und das Konzert für Buchenwald (1999) im Schloss Ettersburg sowie im Straßenbahndepot in Weimar, erzeugten eine unverwechselbare Eindringlichkeit. Mit letzterem Werk aus meterhohen Aschewänden und gebrochenen Instrumentenkörpern widmet sich Horn einmal mehr den Kriegsverbrechen Deutschlands und gedenkt der im Konzentrationslager Buchenwald inhaftierten und ermordeten Menschen.

Mit über einem Dutzend ­veröffentlichter ­Kataloge und eigens produzierten Filmen [9] über ihre Ausstellungen etablierte sich ­Rebecca Horn nicht nur als eine der erfolgreichsten ­Künstler*innen der Gegenwart, sondern auch als eine, die ihr Werk bewusst in hoher Qualität und unterschiedlichen Formaten dokumentierte, aufarbeitete und damit umfänglich rezipierbar machte. Dieser Weitsicht ist es zu verdanken, dass ihre Werke, unterstützt durch die von ihr ­gegründete Moontower Foundation, für die Nachwelt ­erhalten bleiben. Die Stiftung hat ihren Sitz auf dem Familiengrundstück. Der kleine Bach, der einst die Mühlen der Textilfabrik im Tal antrieb, fließt immer noch.

Annika Karpowski lebt in Berlin und arbeitet als Kunsthistorikerin für die ­Galerie Thomas Schulte sowie die Moontower Foundation von Rebecca Horn. Zuvor war sie als Kunstkritikerin tätig, wobei ihr besonderes Interesse den Werken von Künstle­rinnen, deren Rezeption und dem Kunstmarkt galt.

Image credit: © Rebecca Horn – Moontower Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn, 2024, photo Gunter Lepkowski

Anmerkungen

[1]Notiz vom 12. Januar 1989, Berlin, im Archiv Rebecca Horn, Bad König-Zell.
[2]Der Eintänzer (1978), La Ferdinanda: Sonate für eine ­Medici-Villa (1981), Buster’s Bedroom (1990).
[3]Kristin Seebeck, „Rebecca Horn. Chronik von Leben und Werk“, in: du. Die Zeitschrift der Kultur, 770, 2006, S. 70.
[4]„Entknüpfungen. Ein Gespräch zwischen Joachim ­Sartorius und Rebecca Horn“, in: Rebecca Horn: The ­Moontower Foundation, Berlin 2013, S. 54.
[5]Ebd.
[6]Der Roman Locus Solus von Raymond Roussel wird in der Forschungsliteratur als wesentliche Inspirationsquelle für das Œuvre Rebecca Horns hervorgehoben.
[7]Das Projekt wurde bereits 1986 von Rebecca Horn, ­Jannis Kounellis und Heiner Müller konzipiert.
[8]Sarah Alberti verfasst ihre Dissertation zum Aus­stellungsprojekt „Die Endlichkeit der Freiheit“ .
[9]Cutting Through the Past (1995) und Moon Mirror Journey (2011).