GESTALTUNGSKRAFT IM SOMMERLOCH Beate Söntgen über Vanessa Bell in der Courtauld Gallery und „Gardening Bohemia: Bloomsbury Women Outdoors“ im Garden Museum, London
So groß, wie es der Titel vermuten lässt, ist die Vanessa-Bell-Ausstellung in der Londoner Courtauld Gallery nicht. Mit gutem Recht wird die Künstlerin hier als „A Pioneer of Modern Art“ reklamiert, wie die kleine, ja winzige, in nur zwei Räumen entfaltete Schau zu belegen vermag. Bell fristete lange ein Dasein als Schattenfigur. Aufgewachsen in einem spätviktorianischen Intellektuellenhaushalt und früh als älteste Tochter nach dem Tod der Mutter und der Stiefschwester für die jüngeren Geschwister und den überforderten Vater verantwortlich, galt die Aufmerksamkeit der Familie wie des Publikums vor allem ihrer literarisch begabten, psychisch fragilen Schwester Virginia Woolf. In der Bloomsbury Group wurde Bell überstrahlt von dem Maler Duncan Grant, der als der erhoffte Retter aus der britischen Geschmacksnot gefeiert wurde, und von Roger Fry, dem Allrounder. Er war nicht nur als Kritiker, Kurator und Künstler berühmt, sondern auch als genialer Kopf der von den Dreien gegründeten Omega-Werkstatt. Diese sollte es jungen Künstler*innen ermöglichen, durch die Gestaltung von Textilien, Möbeln und weiteren Einrichtungsgegenständen ein festes Einkommen zu erzielen, um zugleich ihre künstlerische Arbeit unbelastet weiter verfolgen zu können. Beide Männer waren in dichter Folge Liebhaber Bells, die wiederum mit Clive Bell verheiratet war. Mit Grant verbanden sie eine über die Liebesbeziehung hinausreichende, lebenslange Arbeitsgemeinschaft und eine gemeinsame Tochter.
Die verwickelten Lebens-, Liebes- und Arbeitszusammenhänge waren nicht zuletzt der Grund für die Unterschätzung der Kunst von Bell, die als artistic housewife die jeweiligen Wohnorte zu einem Zuhause machte und als emotionales Zentrum die Gruppe zusammenhielt. Diese zeitraubenden Aufgaben hielten die Künstlerin nicht nur oft vom Malen ab, sie standen auch oft im Fokus der Rezeption. In der Courtauld Gallery ist nun, und zwar allein aus eigenen Beständen, eine Schau zusammengestellt worden, die die Eigenart und Vielfalt von Bells Arbeit hervorhebt. Dabei fokussiert die Ausstellung die 1910er Jahre, die zu den einschneidendsten gehörten, was Leben und Werk der Künstlerin betrifft. Angeregt durch den kunsttheoretischen Austausch mit Fry, vertiefte Bell ihre Auseinandersetzung mit dem französischen Postimpressionismus, um kurz darauf eine eigenständige Darstellungsform zu entwickeln. Starke, leuchtende Farben und Kontraste, kippende Perspektiven und eine Form der abstrahierenden Figuration sind Gestaltungsmerkmale, die in den Entwürfen für Gebrauchszusammenhänge – Textilien, Keramik, Teppiche oder Paravents – ebenfalls zur Geltung kommen.
Mit dem Gemälde A Conversation (1913–1916) ist ein Hauptwerk der frühen Phase zu sehen, das zugleich den Geist der Bloomsbury Group einfängt, sowohl motivisch als auch im feinen Humor, den das Bild zeigt. Drei weibliche, nah beieinandersitzende Figuren in intensivem Austausch: Eine biegt ihre Hand, einen Sprechgestus andeutend, den beiden Lauschenden entgegen. Das Gespräch, so zentral für Bloomsbury, wird hier in einem intimen Setting verortet und damit in die weiblich konnotierte Form der Konversation gewendet. Zugleich erscheint diese im Medium der stummen Malerei, als leiser Spott über die von der Gruppe priorisierte männlich besetzte Form der Diskussionskultur, an der bei Bloomsbury, ungewöhnlich genug zu dieser Zeit, auch Frauen teilnahmen.
Bells Stillleben kehren ihren Sinn für das Plastische und Haptische hervor, den sie auch in der eigenen, von Fry initiierten gemeinsamen Herstellung von Keramiken geschärft hat. So wölbt sich eine Vase optisch aus dem Bild heraus, zeigt Spuren ihrer Herstellung und übermittelt die Rauheit ihrer Oberfläche. Die Gemälde sind von sensueller Fülle und bezeugen eine Selbstsicherheit im Pinselstrich, die Bell erst in dieser Zeit erworben hat. Wie die Erfahrung im Kunsthandwerk die Malerei in ihren plastischen Werten verstärkt, so wird letztere wiederum in Design for a folding screen - Adam and Eve (1913-14), in der Ausstellung nur im Entwurf zu sehen, buchstäblich verräumlicht. Bei den reduzierten, flach dargestellten Figuren handelt es sich um Adam und Eva, die sich ohne die Präsenz der Schlange nackt und unbekümmert im Paradies vergnügen – Zeichen für die Bedeutung, die ein von Scham – und Schuldgefühlen befreiter Umgang mit Körperlichkeit für Bells künstlerische Arbeit hat.
Wie sehr diese Übersetzungsprozesse in beide Richtungen fruchten, wird an den Teppichentwürfen sichtbar, die Bell für die Omega-Werkstatt anfertigte. Sie sind verlebendigt durch kontrastierende Farbflächen, deren Umrisse durch das Knüpfen verwischen; ein Effekt, den Bell dann wiederum für die Malerei nutzte. Umgekehrt weisen die schwarz-weißen Umschlagentwürfe für Woolfs Bücher in der Hogarth Press dicke, Figur-Grund-Hierarchien verflüssigende Konturen auf; ein Darstellungsverfahren, das dann ebenfalls von ihr für die Malerei genutzt wurde.
Diese wechselseitigen Bereicherungen der verschiedenen Medien und gestalterischen Einsätze lässt die Ausstellung, unterstützt durch ausgezeichnete Wandtexte, hervortreten. Der Bloomsbury-Raum in der Sammlungspräsentation, der ebenfalls Malerei und Künste im Gebrauch konstelliert, erhellt das Werk Bells im Zusammenhang der Gruppe. Was die Ausstellung jedoch nicht vermag, ist, die annoncierte Pionierleistung von Bell als Malerin angemessen anschaulich zu machen. Das liegt nicht allein an der geringen Zahl der Gemälde. Die ausgestellten Bilder zeigen die gemäßigtere, wenn auch sensuell starke Seite von Bell. Es fehlen die leuchtenden, mit Farb- und Formgebung experimentierenden Bilder der 1910er Jahre. Fast alle Werke stammen aus dem Nachlass von Roger Fry. So wird hier vor allem sein Blick, seine Perspektive auf Bell und ihr Werk sichtbar. Wie aus Korrespondenzen und Tagebüchern zu entnehmen, bewirkte Bell mit ihrer, auch von anderen beschriebenen starken sinnlichen Präsenz Frys sexuelles Erwachen, der dann lange unter dem Ende der Beziehung gelitten und auch die künstlerische Emanzipation von Bell schwer verkraftet hat. Ob seine geringe Aufmerksamkeit für die Künstlerin als Kritiker, der ansonsten keine Scheu hatte, über Freund*innen zu schreiben, mit diesen Kränkungen zusammenhängt, bleibt Spekulation.
Unterbelichtet bleibt auch die bedeutende Rolle Bells in der Omega-Werkstatt, sowohl was die kreativen als auch die unternehmerischen Aspekte angeht. Bell räumte die Scherben des Krachs mit Wyndham Lewis und anderen Werkstatt-Künstler*innen wegen eines Auftrags weg; eines Krachs, den Fry durch unfaires Verhalten verursacht hatte. Die Pionierin der Moderne erscheint in Bezug auf die Werkstatt als Entwerferin von Teppichen und nicht als insgesamt künstlerisch wie organisatorisch gestaltende Figur. Trotz dieser Einschränkungen ist die Minischau eine beeindruckend dichte Präsentation der Vielfalt der Gestaltungsweisen von Bell.
Wie sehr deren künstlerische Arbeit geprägt war von der häuslichen Umgebung, die sie wiederum selbst gestaltete, macht eine andere, ebenfalls kleine und ebenfalls erhellende Ausstellung deutlich, die Claudia Tobin im Londoner Garden Museum eingerichtet hat. „Gardening Bohemia. Bloomsbury Women Outdoors“ zeigt die Gestaltungskraft von vier Frauen der Gruppe, die ihre Gärten auf sehr unterschiedliche Weise für ihre künstlerische Tätigkeit nutzten und sowohl im Garten wie in den Künsten zu experimentellen Formen und Verfahren kamen. Im Abschnitt zu Bell wird deutlich, wie das Arrangieren von Pflanzen, Farben, Objekten und Figuren draußen den Anordnungen in den Gemälden entspricht, die oft auch das Gärtchen von Charleston Farmhouse in Szene setzen. Diesen äußerst schlichten Landsitz in Sussex hatte Bell mit „ihren“ Männern bezogen, die als aktive Landarbeiter nun nicht in den Kriegsdienst eingezogen wurden. Vor allem mit Grant lebte sie dort (ihr Ehemann Clive war, so der Spott der Gruppe, auf ein schickes Anwesen einer seiner Geliebten gezogen), aber mit Fry richtete sie nach dessen Entwürfen einen Garten ein. Innen und Außen wurden in der Öffnung des Ateliers zum Garten verschliffen, der auch selbst als Studio genutzt wurde. Auf den Gemälden Bells verschwimmen die Räume ebenfalls, zum einen motivisch, im Wandern von Vegetabilem aus dem Garten in Vasen, auf Stoffe und ins Ornamentale, zum anderen darstellungstechnisch, in einem Pinselduktus, der Körper, Pflanzen, Stoffe und Möbel verschmelzen lässt.
Die Erfahrung des Gartens und des Gärtnerns nährte nicht nur die Malerei, sondern auch die Schreibweisen der weiblichen Bloomsburys, und zwar ebenfalls motivisch wie stilistisch, sowohl bei Virginia Woolf als auch bei Vita Sackville-West, die in den 1920er Jahren gleichfalls eine Liebesbeziehung führten. Bei Sackville-West wurde die Leidenschaft für den Garten befeuert durch den schmerzhaften erbfolgebedingten Verlust der gigantischen Anlage Knole, in der die Schriftstellerin aufwuchs. Für Woolf war der Garten hingegen ein „outdoor room of her own“ mit therapeutischen Qualitäten, in dem es ihr gelang, die Erfahrung psychischer Belastungen in neue Schreibweisen zu transformieren. War Woolfs Garten in Rodmell, im Monk’s House nahe bei Charleston, ein Ort des Rückzugs, des verlangsamten Rhythmus des Lebens, Denkens und Arbeitens, so war der Garten ihrer Schwester ein lauter, sozialer Ort gemeinsamen Gestaltens. Als Ort der Kooperation wurde der Garten auch von Sackville-West genutzt, zunächst als tragfähiger Kitt ihrer Ehe und dann als patriotisches Unternehmen im Krieg. Gärtnern im Verbund mit Vertreterinnen der Women’s Land Army bedeutete die Rettung von Land und Garten, verstanden als poietische Form des Widerstands gegen die zerstörerische Gewalt des Krieges.
Ganz anders lebte Lady Ottoline Morrell auf ihrem Anwesen Garsington, wo der Garten zur Bühne für die extravagante Künstlerin, Kuratorin, Fotografin, Sammlerin und Memoiren-Verfasserin wurde. Hatte sie von zahlreichen Reisen die Gärten der Welt in Form von Textilen in ihr Haus gebracht, so versammelte sie im Garten die Welt: Unterschiedlichste Menschen, Pflanzen, Dinge wurden zum Hintergrund ihrer flamboyanten Auftritte wie ihrer fotografischen Aufnahmen, in denen Morrell versuchte, die durch den Krieg so unbarmherzig verdeutlichte Flüchtigkeit des Lebens als solche zu bannen.
Neben diesen bescheidenen, aber klug pointierten Ausstellungen bleibt die große Ausstellung zu britischen Künstlerinnen in der Royal Academy blass. Werke und Biografien aus 400 Jahren werden versammelt, um bislang meist verborgene Künstlerinnen in die Sichtbarkeit zu bringen. Das ist wichtig und ehrenwert, zugleich aber im Zugriff konzeptuell veraltet. Wenn man an die Vielzahl bedeutender, manchmal auch in Ausstellungen oder künstlerischen Aktionen [1] aufgegriffener Studien etwa von Griselda Pollock, Marcia Pointon oder Tamar Garb denkt, die seit Linda Nochlins bahnbrechendem Aufsatz „Why have there been no great women artists“ von 1971 erschienen sind, gibt es in der Royal Academy kaum neue Einsichten. Dass Künstlerinnen lange nur als Töchter, Schwestern, Modelle und dann oft auch Geliebte von Künstlern im privaten Rahmen Zugang zu einer künstlerischen Ausbildung bekamen, ist schon lange bekannt. Erhellende Konstellationen, wie sie die Ausstellungen in den kleinen Häusern zeigen, ergibt das bloße Sichtbarmachen eben nicht.
„Vanessa Bell: A Pioneer of Modern Art“, Courtauld Gallery, London, 25. Mai bis 6. Oktober 2024; „Gardening Bohemia: Bloomsbury Women Outdoors“, Garden Museum, London, 15. Mai bis 29. September 2024.
Beate Söntgen ist Professorin für Kunstgeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie ist Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturen der Kritik“ und leitete mit Susanne Leeb das Projekt „PriMus – Promovieren im Museum“. Derzeitig forscht sie zu „Künstlerische Lebensform als Intervention“ im Rahmen des SFB „Intervenierende Künste“ der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsgebiete sind Kunst, Kunsttheorie und Kunstkritik der Moderne und der Gegenwart. Zuletzt hat sie mit Julia Voss Why Art Criticism?A Reader (Hatje Cantz, 2022) herausgegeben.
Image credit: 1. – 3. © Estate of Vanessa Bell / The Courtauld, London (Samuel Courtauld Trust) / VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto 1 Fergus Carmichael; 4. © Ben Deakin; 5. © Estate of Vanessa Bell / Bradford Museums & Galleries / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
ANMERKUNGEN
[1] | Hier seien exemplarisch die Guerrilla Girls genannt, deren Arbeit 2023 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gezeigt wurde, als Impuls auch für die weitere Sammlungspolitik. |