DIE TÜCKEN DER ABSTRAKTEN NEGATION Tobias Ertl über Boris Lurie in der Scuola Grande San Giovanni Evangelista, Venedig
Obwohl nicht zum offiziellen Programm der Venedig-Biennale gehörend, passt die in der ehemaligen Begräbnisstätte der Scuola Grande San Giovanni Evangelista zu sehende Werkschau des New Yorker Künstlers Boris Lurie (1924–2008) gut zum diesjährigen Motto „Foreigners Everywhere“. Lurie, ein in der Sowjetunion geborener, als Jude verfolgter Holocaustüberlebender, emigrierte 1946 nach New York und begründete dort Ende der 1950er Jahre die bis heute nur marginal rezipierte neoavantgardistische NO!art-Bewegung mit. Die von Luries Nachlassverwalterin, der Galeristin Gertrude Stein, gemeinsam mit dem 2015 in Solingen gegründeten Zentrum für verfolgte Künste ausgerichtete Schau würdigt ihn mit einer Auswahl von etwa 50 zwischen 1958 und 1973 entstandenen Arbeiten als politisch engagierten Künstler, in dessen Praxis die Frage nach der Möglichkeit von Kunst nach dem Holocaust im Mittelpunkt steht. Die Verarbeitung seiner persönlichen Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik verknüpft Lurie in seinen provokativ als „Judenkunst“ (Jew-Art) bezeichneten Collagen und Malereien stets auch mit dem Protest gegen den US-amerikanischen Imperialismus, Neokolonialismus und Antikommunismus in der Zeit des Kalten Krieges.
Die auf freistehenden, künstlich angestrahlten Ausstellungswänden in dem niedrigen, düsteren Raum zwischen Ziegelsteinmauern und alten Grabplatten gehängten Exponate vermitteln das Bild eines politisch engagierten Künstlers, dessen explizite Thematisierung von Gewalt und ethnischer Zuschreibung zu den um 1960 noch größtenteils unpolitisch auftretenden Strömungen der New Yorker Kunstwelt quer steht und der mit den ästhetischen Mitteln des Obszönen, Vulgären und Abjekten an die Antikunst des Dadaismus anknüpft. Die Serie Altered Men (Cabot Lodge) von 1963, aus der sechs Exemplare gleichen Formats in dichter Hängung präsentiert werden, zeigt jeweils identische Reproduktionen eines offiziellen Porträts des republikanischen Politikers Henry Cabot Lodge Jr., das Lurie auf unterschiedliche Weise verfremdet hat. Enger Vertrauter von Dwight D. Eisenhower, Vizekandidat im Nixon-Wahlkampf 1960 und im Sommer 1963 von Präsident John F. Kennedy als Botschafter nach Südvietnam entsandt, war Cabot Lodge eine einflussreiche Figur der antikommunistischen US-Außenpolitik. Auf einem Offsetprint ist das Gesicht noch in Gänze und originaler Farbigkeit sichtbar und die Bildfläche nur durch Mehrfachdruck mit den durchscheinenden Rückständen eines Makulatorbogens und verschiedenen typografischen Varianten des Wortes „NO“ überzogen. In den weiteren Varianten wurde das Politikerporträt auf Leinwand aufgezogen, in expressivem Gestus übermalt und verunstaltet. Da spritzt einmal Action-Painting-mäßig Blut auf Krawatte und Hemdkragen, einmal wird die Bildoberfläche durch den Prozess des Aufklebens und partiellen Wiederabreißens von Bildmaterial beschädigt, ein anderes Mal erscheint anstelle des Kopfes ein schimmlig grüner Klumpen, von einem neongelben Nimbus umstrahlt, was den Strategen des Kalten Krieges assoziativ mit den Vorstellungen von Giftmüll und nuklearer Bedrohung verbindet.
Während die Ästhetik der Bilder durch ihre Mischung aus Druckverfahren, (Dé)Collage und expressivem Malgestus an den formalistischen Neodadaismus eines Robert Rauschenberg erinnert, steht ihre aggressive ikonoklastische Rhetorik, die die Charaktermasken des Imperialismus ins Visier nimmt, eher in der Tradition des kritisch-satirischen Realismus eines John Heartfield oder George Grosz. Das fotografische Porträt Cabot Lodges taucht als Bildschnipsel auch in mehreren der großformatigen, an Hannah Höchs antimilitaristische Wimmelbilder erinnernden Collagen auf Leinwand auf. In Lumumba is Dead (Adieu Amerique) oder Big NO Painting (1963) fungieren aus Hochglanzmagazinen herausgerissene Werbebilder, pornografische Darstellungen aus Bondage-Heften, Fragmente von Zeitungsüberschriften und deren partielle Übermalung mit häufig Blut oder Exkremente evozierenden Farbschlieren als Elemente einer destruktiven Arbeit am Bild, die das ästhetische Material zu Abfall degradiert. Die Collagen zielen auf eine Ästhetik des Abjekten und auf eine unmittelbare Schockwirkung. Besonders deutlich wird dies im Gebrauch von Nazisymbolik – Hakenkreuze und „Judensterne“ –, die Lurie konfrontativ mit Abbildungen von Pin-up-Girls, Waschmittelreklamen und Zeitungsbildern von Leichenbergen aus Konzentrationslagern kombiniert. Theodor W. Adornos Satz, dass „alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, […] Müll [ist]“ [1] , drängt sich beim Betrachten dieser Bilder auf. Auf verstörende Weise werden Massenkonsum und Massenvernichtung einander suggestiv angenähert. Nicht zuletzt die Pop Art und ihre „mimetische[…] Affirmation“ [2] der Konsumkultur muss dabei immer wieder als Zielscheibe von Luries Protestkunst herhalten (zum Beispiel in Anti-Pop Stencil, 1964) – obwohl sich die formalen Verfahren durchaus ähneln, zum Beispiel in der seriellen Wiederholung des Wortes „NO“, das sich in so gut wie allen Bildern wiederfindet, in seiner Wiederholung aber zu einer ohnmächtigen Leerformel des Protests verkommt. Alles wird gleichermaßen zu Restmüll – Indifferenziata –, wie es in Italien heißt, oder abstrakter Negation, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel gesagt hätte.
Problematisch erscheint Luries Werk insbesondere im Hinblick auf den obsessiven Gebrauch von aufreizenden Bildern des weiblichen Körpers, die er aus Illustrierten, Pornomagazinen und Pin-up-Kalendern herausreißt und in seine Collagen klebt. Vordergründig protestiert der Künstler mit seinen Bildern gegen die Kommerzialisierung von Sexualität und bedient damit einen in der Linken der 1950er und frühen 1960er Jahre verbreiteten Topos, in dem der (meist nackte) weibliche Körper als privilegierter Signifikant von Warenform und Spektakelkultur identifiziert wird. Wie sich in Selbstzeugnissen des Künstlers nachlesen lässt, wird die kritische Absicht allerdings schon dadurch ambivalent, dass der künstlerische Akt des Sammelns, Zerschneidens oder Zerreißens, Zusammenklebens und Übermalens von populären Aktdarstellungen selbst als eine lustvoll-obsessive Tätigkeit erlebt wird. Wie bereits eine frühe, ab 1947 entstandene Serie von gemalten Aktdarstellungen mit dem misogynen Titel Dismembered Women sind Luries Collagen gleichwohl auch als Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung zu verstehen: Seine Großmutter, Mutter, Schwester und Jugendgeliebte mussten sich entkleiden, bevor sie im Dezember 1941 im Wald von Rumbula gemeinsam mit Tausenden lettischen Jüd*innen von SS-Leuten erdmordet wurden. Es entsteht der Eindruck, dass der Künstler die eigene traumatische Gewalterfahrung hier unbewusst an etwas wiederum Fremdem, dem weiblichen Körper, reproduzieren und ausagieren musste.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Misogynie in Luries Darstellungen vermisst man in der Ausstellung jedoch ebenso wie eine Verhältnisbestimmung zwischen den Themen des Holocaust und des Kolonialismus, die in seinen Bildern enggeführt werden. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass es vor allem um eine strategisch motivierte Präsentation der in privaten Händen befindlichen Sammlung während der Biennale geht – wofür die publikumswirksame Inszenierung der Schau in einer mittelalterlichen Grabstätte, zu der jeder inhaltliche Bezug fehlt, die aber, von der Kuration zu einem „Ort für die Ewigkeit und für die Auferstehung“ verklärt, prädestiniert scheint, um Luries Werke als „Ausdruck des Leidens in Erinnerung an den Horror des Holocaust“ und als „Symbole der Hoffnung“ vorzustellen. [3]
Hinter dem abstrakten Nein zu Krieg und Gewalt verbirgt sich jedoch auch eine spezifisch deutsche erinnerungspolitische Perspektive. Luries Kunst ist „zeitlos und mahnt die Gesellschaft, eine ‚never again‘-Haltung einzunehmen“ [4] ,heißt es in Rafael Vostells Katalogbeitrag, und der Kunsthistoriker Jürgen Joseph Kaumkötter attestiert der „Holocaust-Kunst“ Luries einen „überzeitlichen sakralen Wert“ [5] . Jürgen Wilhelm, deutscher SPD-Politiker und Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, konkretisiert das abstrakte „Nie wieder“ mit der Behauptung, dass „[r]echte und zunehmend auch linke Ideologie“ auf „faschistische Feindbilder“ baue und „erst recht nach dem 7. Oktober 2023“ die „besondere Verantwortung Deutschlands“ für die „prekäre politische Situation im Nahen Osten“ auf der Tagesordnung stehe [6] – die Tausenden zivilen palästinensischen Opfer werden erwartungsgemäß mit keinem Wort erwähnt. Dieser Diskurs ist symptomatisch für eine erinnerungspolitische Enthistorisierung des Holocaust, die gegenwärtig vor allem gegen antikoloniale Diskurse mobilisiert wird und für die sich die vermeintlich „überzeitlichen“ Werte der Kunst gut einspannen lassen.
Aller ideologischen Widersprüche seines Werkes und der Verengung seiner Rezeption zum Trotz lassen sich in Luries politisch engagierter Kunst auch Ansätze verzeichnen, die über die gegenwärtig zu beobachtende Polarisierung zwischen antisemitismuskritischen und antikolonialen Perspektiven hinausweisen. In der Collage Lumumba is Dead (Adieu Amerique) (1961) stellt Lurie etwa durch die assoziative Anordnung von collagiertem Material eine Verbindung zwischen seiner eigenen Erfahrung als Holocaustüberlebender, dem Eichmann-Prozess und der von belgischen Truppen und der CIA gestützten Ermordung Patrice Lumumbas im selben Jahr her. Auf die Reproduktion eines gezeichneten Porträts von Eichmann ist ein Hakenkreuz geschmiert, darüber der Schriftzug „Imperialismo Yanky“. Wenn auch politisch nicht besonders aussagekräftig – da ganz dem Geist der abstrakten Negation verpflichtet – deuten solche Beispiele darauf hin, dass Lurie Nationalsozialismus und Holocaust gerade nicht als singuläres Ereignis im Sinne einer historischen Abgeschlossenheit, sondern als fortwirkendes, mit den Ideologien des (Neo)Kolonialismus und Antikommunismus verflochtenes Geschehen verstand. Um der heute wirksamen rechten Instrumentalisierung von Antisemitismusbegriff und Holocaustgedenken entgegenzuwirken, sind Perspektiven nötig, die die ideologischen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus aufzeigen, ohne deren jeweilige historische Spezifik zu leugnen. Eine Beschäftigung mit Lurie und der NO!art könnte sich für eine an antikolonialen und antisemitismuskritischen Perspektiven interessierte Kunstgeschichte also lohnen. Zu sagen, dass die Ausstellung diese Chance zu ergreifen verpasst hat, wäre allerdings noch zu mild ausgedrückt.
„Boris Lurie – Life with the Dead. Zum 100. Geburtstag des Künstlers“, Scuola Grande San Giovanni Evangelista, Venedig, 20. April bis 24. November 2024, anlässlich der 60. Biennale von Venedig.
Image credit: 1. – 5. © Daniela Tobias/Zentrum für verfolgte Künste
ANMERKUNGEN
[1] | Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 2003, S. 359f. |
[2] | Benjamin H. D. Buchloh, „Introduction“, in: Neo-Avantgarde and Culture Industry: Essays on European and American Art from 1955 to 1975, Cambridge, Mass., 2003, S. xviii. |
[3] | Gertrude Stein, in: Gertrude Stein/Rafael Vostell/Jürgen Joseph Kaumkötter, Hg., Boris Lurie: 100th Anniversary: Life with the Dead, Berlin 2024, S. 144. |
[4] | Rafael Vostell, „Boris Lurie – Zeitlos“, in: Ebd., S. 149. |
[5] | Jürgen Joseph Kaumkötter, „Boris Lurie und die Holocaust-Kunst“, in: Ebd., S. 180. |
[6] | Jürgen Wilhelm, „Boris Lurie – und kein Ende des Traumas“, in: Ebd., S. 152. |