BREITENGRADE EINES WENDEPUNKTS Agnieszka Roguski über „Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst“ im Museum der bildenden Künste, Leipzig
Hinter den Eingangstüren zum Bildermuseum in Leipzig türmen sich Stühle auf, ihre weinroten Samtbezüge sind staubig, an manchen Stellen quillt alter Schaumstoff hervor. Wie ein fast vergessener Fund im Keller, der darauf wartet, bald endgültig zu verschwinden, sind die Stühle von der Künstlerin Gabi Dolff-Bonekämper auf einem Sockel im Foyer platziert. Ihre Arbeit „STURZLAGE (Die Stühle vom Zentralen Runden Tisch)“ (2019) macht so die ehemalige Kulisse des Aushandlungsprozesses der Wende zum Auftakt einer Revision ostdeutscher Kunst. Tatsächlich ist die Metapher eines Sturzes die Grundbedingung für „Point of No Return“: Die von Paul Kaiser, Christoph Tannert und Alfred Weidinger kuratierte Ausstellung will, im Sinne eines Kassensturzes, eine umfassende Bestandsaufnahme all jener künstlerischen Perspektiven liefern, die sich mit der friedlichen Revolution in Ostdeutschland befassen. Sichtbar werden sollen hier nicht bestimmte Koalitionen von Kunst und Politik, wie sie sonst als sogenannte staatsferne, oppositionelle oder staatsnahe Kunst gezeigt wurden, sondern ein vielstimmiges Spektrum von Perspektiven, Medien und Gattungen. Der Titel ist dabei weniger als Sackgasse denn als Drehmoment zu verstehen: Wie um ein Epizentrum herum angeordnet, beziehen sich die Arbeiten auf Vorausahnungen, unmittelbare Reaktionen und Rückblicke auf die politischen Ereignisse des Jahres 1989.
Eine Ausstellung 2019 in Leipzig zu realisieren, die sich gerade nicht als illustratives Pendant zu politischen Strömungen versteht, hat dabei durchaus politischen Charakter. Die AfD will als stärkste Partei in Sachsen Kulturförderung vom Erfolg abhängig machen und eine deutsche kulturelle Identität als Leitkultur verteidigen. Die Montagsdemonstrationen, die 1989 die Wende einläuteten, sind überdies noch aktuell; in Dresden werden sie nun bestritten von Pegida-Anhänger*innen, die für eine Schließung der einst aufbrechenden sozialen Grenzen eintreten. Hier das Prinzip der Mehrstimmigkeit gegen die Verengung auf einzelne politische Strömungen und später vom Westen – anerkannte Protagonist*innen zu setzen, weitet erstmals das Blickfeld auf ein ganzes Spektrum ostdeutscher Kunst und versteht sie, wie die Wende selbst, als heterogenen, historisch gewachsenen Kontext ohne klare Anfangs- oder Endpunkte. Eine solche breit angelegte Beleuchtung jener nach 1989 oft aus dem Rampenlicht verschwundenen Positionen mutet wie eine Absage an „Dunkeldeutschland“ an, dem diffusen Gehege für einst unterdrückte und aktuell „abgehängte“ Teile der Bevölkerung, die jedoch selten selbst eine Stimme haben, ohne dabei auf eine dieser Zuschreibungen reduziert zu werden. „Point of No Return“ macht damit nicht nur kaum gesehene Perspektiven sichtbar, sondern auf implizite Weise ebenso den Bilderstreit, der zwischen West und Ost bis Mitte der 1990er Jahre vorherrschte und ostdeutsche Kunst aus der Öffentlichkeit verdrängte.
Dies geschieht neben der Ausstellung selbst durch ein vielfältiges Diskursprogramm aus Vorträgen, Filmscreenings und institutionellen Kooperationen, das Räume jenseits des Museums öffnet und diverse Formate bereithält. Tatsächlich sind es zunächst schlichtweg Größendimensionen, die beeindrucken: Mehr als 300 Arbeiten von 106 Künstler*innen werden auf 1.500 Quadratmetern gezeigt. „Point of No Return“ als wenig akzentuierte Rundumschau zu begreifen, würde allerdings zu kurz greifen. Die schiere Masse wird bei genauerer Betrachtung zu einem kleinteiligen Spannungsfeld, das von verschiedenen Zeitlichkeiten, Generationen, Stilen und darin dennoch wiederkehrenden Motiven durchzogen ist. Neben einem Gros an Malereien, unter anderem von Stars wie Neo Rauch, werden auch Fotografien, Skulpturen und konzeptuelle Installationen gezeigt sowie etliche Werke kaum bekannter Protagonist*innen. Eine einheitliche Lesart der Ausstellung wird unmöglich, auch wenn insgesamt eine recht dystopische Grundstimmung vorherrscht.
So scheint Frank Seidels Formation von Tonfiguren direkt in die Ausstellung zu marschieren. Sie könnten sowohl Aufbruch als auch Rückzug signalisieren, schieben einen Kanonenwagen vor sich her und wirken ausgemergelt und grau. Umgeben sind sie von Malereien, die mit starken Kontrasten die deutsch-deutsche Spaltung als unterschiedlich gepoltes Gravitationsfeld artikulieren: In Lutz Friedels Adler (Die Brüder) (1989) steuern zwei Adler auf sich zu, ohne weiterzukommen, Ralf Kerbachs Deutsche Zwillinge (1984) sind aneinandergefesselt, blicken aber in entgegengesetzte Richtungen. Einar Schleefs Bildreihe: Klage (Telefonzelle) (1978-1983) zeigt mit dunklen Farbtönen schemenhaft angedeutete Menschen in Telefonzellen und lässt so die Trennung von Ost und West als vereinzeltes, bedrückendes und nahezu stumm erscheinendes Miteinander-Sprechen zwischen den Staaten erscheinen.
Die Ausstellung beginnt also in einem Raum, der neben nationalstaatlichen, repräsentativen Anordnungen und Symbolen immer wieder die Brücke schlägt zum individuellen, unterschiedlich perspektivierten Schicksal. So beschreibt die Mitte des Raumes eine Installation von Via Lewandowsky, in der ein prototypisches Wohnzimmer der 60er Jahre, Herzstück jedes Eigenheims, mit einem klaren Schnitt durchtrennt wurde – Wellensittich inklusive. Bereits Durchtrenntes wird wiederum in vielen Variationen neu zusammengesetzt von David Polzin, der verschiedene Stühle zerteilt, bearbeitet und daraus neue Formen schafft. Ehemalige Wohnutensilien werden so zu grotesken, untauglichen und humorvollen Objekten. Einen Blick ins Innere und Private der staatlichen Ordnungen wirft ebenso Peggy Meinfelder, die etwa mit Westpaket (2006) die Beziehung zum westdeutschen Nachbarn als Anhäufung verschiedener Westwaren wie Schokolade und Kaffee so inszeniert, dass sie nicht mehr als individuelle, persönliche Geste, sondern anonym und rationiert erscheinen.
Jenseits einer zentralen Eingangshalle sind die Arbeiten in „Point of No Return“ in mehreren kleinen Räumen angeordnet. Die Bewegung durch die Ausstellung scheint so zwar einem thematischen Aufbau zu folgen, der jeden Raum unter ein bestimmtes Motto stellt, kann aber auf unterschiedliche Weise vollzogen werden; die Motive und Themen kehren fast zyklisch, manchmal auf redundante Weise, wieder. Die Titel der einzelnen Räume scheinen – leider ohne humorvolle Absicht – teils fast ironisch aufeinander bezogen zu sein, etwa wenn „Romantisches Ich“ durch „Passage“ nach „Niemandsland“ führt. Vor allem klare Form- und Farbkontraste zwischen den Bildern und Skulpturen bringen Dynamik in die Ausstellung. Besonders auffallend sind Gegenüberstellungen wie Cornelia Schleimes von Fülle und warmen Farben strotzende Malereien zu den grauen, leer anmutenden Bildern von Martin Hoffmann. Aber auch Arbeiten wie etwa Moritz Götzes grellbunte Bilder im Pop-Art-Stil bieten der oft bedrückenden Atmosphäre der Ausstellung ein klares Gegenüber, wie sie es einst gegenüber dem SED-Regime taten. Das wohl eindrücklichste Beispiel für jene beklemmende, ja, unheimliche Stimmung sind die Bilder von Doris Ziegler. Ihr Zyklus Passagenbilder (19881993) stellt ein wichtiges Novum der Ausstellung dar, das einen klaren Ortsbezug zu den Leipziger Passagen aufmacht. Heute als Shoppingziel oder Touristenattraktion bekannt, sind die Leipziger Passagen in Zieglers Bildern bizarrer Schauplatz des sozialen und politischen Umbruchs. Wie eine Parodie auf den Aufbruchsgeist zeugen sie von Isolation und Stillstand inmitten der rasanten Veränderungen, die mit der Wende einhergingen. Roland Nicolaus betitelt die letzten Momente vor dem Mauerfall auf ebenso lakonische Weise mit seiner Arbeit Warten auf Buletten (1989). Zieglers düstere Ironie wiederum, die sich mit clownesken Motiven wie Masken und Trommeln durch ihre Bildwelten zieht, höhlt das Jahr 1989 gewissermaßen aus, ohne ihm Schwere zu nehmen. Nicht nur in Zieglers Arbeiten tauchen immer wieder Masken und Artisten auf, was ihnen einen surrealen Beigeschmack von Zirkus, Kunststück und Alptraum verleiht und die Ausstellung in jedem Falle zu einer Arena macht – einer Vorstellung, die verschiedene Darbietungen und Kämpfe bereithält.
„Point of No Return“ schafft so ein Ineinandergreifen von Generationen, Schulen und Gesinnungen, ohne dabei beliebig zu werden oder den Anspruch auf historische Vollständigkeit zu erheben. Als multiperspektivisches Geflecht könnte sie dennoch – oder gerade deswegen – politische Zuschreibungen deutlicher als solche thematisieren, statt teils sehr große Schlagworte über sie zu spannen und diese auf manchmal wenig nachvollziehbare Weise zu ordnen. Die Erwartung, gerade das historisch und politisch Unterrepräsentierte ins Blickfeld zu rücken, bleibt gänzlich unerfüllt, sobald es um die Repräsentation von Künstlerinnen in der Ausstellung geht – eine Erwartung, die gerade ein männliches Kuratorenteam umso deutlicher formulieren sollte, um Ausstellungsgeschichte neu zu schreiben. Nichtsdestotrotz gelingt es „Point of No Return“, das spezifisch Heterogene eines historischen Drehmoments auf subtile Weise auszudrücken, ohne dabei lediglich zurückzublicken oder die „Entdeckung“ bereits bestehender Kunst zu zelebrieren; die politische Arena von 1989 gewinnt so auf eindrückliche Art an Präsenz.
„Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst“, MdbK, Leipzig, 23. Juli bis 3. November 2019.
Agnieszka Roguski ist freie Kuratorin und Autorin und lebt in Berlin.