NEULICH AM DIGITALEN LAGERFEUER, MIT 130 SCHWESTERN… Christian Höller über Laure Prouvost in der Kunsthalle Wien
Kommt man in Laure Prouvosts Ausstellung in der Kunsthalle Wien, muss man sich als Erstes durch ein kleines Spalier von Hi-Hats bewegen. Die vier Rhythmusmaschinen aus dem Haus der renommierten Firma Paiste geben, ausgelöst von erratisch programmierten Bewegungsmeldern, kleine Begrüßungsschläge von sich – als wollten sie den Besucher*innen gleich zu Beginn vermitteln, dass alles nun Folgende ganz und gar nicht deren eigener Regie unterliegt. Vielmehr stimmt die Installation mit dem lautmalerischen Titel Hi Her Garden (wie alle Werke der Schau aus 2023) auf eine gewisse Stochastik ein, ein unvorbereitetes Konfrontiert-Werden mit undurchschaubaren Kräften – etwas, das sich thematisch und formal durch die gesamte Schau zieht.
„Ohmmm age Oma je ohomma mama“, wie die Ausstellung onomatopoetisch betitelt ist, macht dieses Ausgesetzt-Sein – oder positiv formuliert: dieses fürsorgliche Mit-Energie-gespeist-Werden – an der Figur der Großmutter fest. Nicht unbedingt an der leiblichen Oma, um die der wortspielerische Dada-Ulk des Titels kreist, sondern an einer Art von genealogischem Konstrukt: der Nonna, Granny, Babuschka, oder, wie immer sie im Singsang der betörenden, im gesamten Ausstellungsraum zu hörenden Tonspuren genannt wird, als ein ideelles Reservoir kulturellen bzw. intellektuellen Rückhalts. Prouvosts Großmutter-Theorie hat wenig bis nichts mit evolutionsbiologischen Überlegungen am Hut, [1] sondern zielt mehr auf das Abstecken eines geistigen Referenzspektrums (früher hätte man vielleicht Kanon dazu gesagt).
Auch der Begriff „Hommage“ wird im Titel verballhornt, führt er doch das französische Wort für Mann in sich, und genau dieser patriarchalen Etymologie will sich Prouvosts Programmatik entschieden widersetzen. Bezogen ist die „Ohmmm age“ oder „Oma je“ (beides Transkriptionsvarianten des gesprochenen Wortes „hommage“) vielmehr auf eine Vorläuferinnenschaft, die dezidiert feministisch ausgerichtet ist, dabei aber keinerlei biologischer Abstammung geschuldet sein möchte. Im Gegenteil: Evoziert wird mittels der den Ausstellungsraum durchziehender Audiokomposition bzw. in einem der Videos ein genealogisches Tableau von „130 Sisters“ – künstlerischen bzw. diskursiven Referenzfiguren, die in Summe eine Art heterogenes Flickwerk im Hintergrund der Schau bilden. Denn diese „gegenkanonischen“ Figuren, von Artemisia Gentileschi bis Éliane Radigue, von Rosa Parks bis hin zu den OMAS GEGEN RECHTS [2], werden selbst nicht vollständig vor den Vorhang geholt, sondern sind mehr in Form von Andeutungen oder kurzen Namedroppings kopräsent, ohne dass ihr Wirken direkt in das Ausstellungssetting eingegangen wäre. Der hier angerufene Gegenkanon stellt insofern, wie bei Referenzlisten häufig der Fall, eher eine Art Zusatzfolie dar: gern gehört, weil darin vielerlei Bekanntes und vielleicht noch zu Entdeckendes anklingt, aber für die konkrete Machart der Schau zugleich auch ein wenig irrelevant, weil darin formal eigentlich ganz andere Register gezogen werden.
Die Register sind vor allem die des Theaters oder besser: eines im Raum verteilten Stationendramas. Im Dunkeln des großflächigen Ausstellungssaals ist ein – was die Abfolge betrifft, eher sprunghaft organisierter – Parcours angelegt, der durch Licht- und Soundregie verschiedentlich aktiviert wird. Soll heißen: Die im höhlenartig wirkenden Raum verteilten Ballungen von Mobiles (von der Decke hängend), Objekten auf kleinen Sandaufschüttungen sowie zwei luftigen Videokojen (mit alternierend gezeigten, im ganzen Raum wahrnehmbaren Filmen) erfahren über wechselnde, teils abrupte Scheinwerferbewegungen eine Form der Animierung. Schattenspiele unterschiedlichsten Zuschnitts, wobei nicht vorhersehbar ist, wann und wo sie als Nächstes auftauchen werden, komplettieren dieses wie von Geisterhand gesteuerte Spiel.
Hinzu kommt, dass auch die an den Wänden verteilten Lautsprecher nach einem Zufallsprinzip aktiviert werden und die eigens für die Schau komponierte Audiomontage Zwiebelfäden der Musikerin Elisabeth Schimana bruchstückhaft verteilt erklingen lassen. Der Gesamteffekt ist der einer anhaltenden Desorientierung – dauernd geht etwas los, wo man gerade nicht ist, oder wird es plötzlich zappenduster, wo man sich gerade aufhält; wie bei einem Stationenparcours, dessen dramaturgische Anordnung den Besucher*innen demonstrativ entzogen ist, ohne sie jedoch in ein völliges Chaos zu stoßen (die Anzahl der Stationen bleibt überschaubar). Man könnte auch sagen: Jede*r muss sich ihren*seinen Weg durch dieses „Scattering“ von Minidramen bahnen und die Logik bzw. Verknüpfbarkeit der darin verteilten Komponenten selbst eruieren – oder vielleicht auch einsehen, dass so manche Verlinkung schlichtweg ins Leere führt.
Nicht ins Leere, sondern auf die konkrete Fassbarkeit des von Prouvost beschworenen Großmütterlichen (in besagtem erweiterten Sinn) zielen die beiden Filme. Genauer gesagt handelt es sich um eine dreigeteilte, rhapsodisch angelegte Arbeit. Präsentiert in zwei durchlässigen, von Viertelkugeln aus Metallstäben gebildeten Kojen, die entlang der Raumdiagonale platziert sind, appelliert Here Her Heart Hovers an zwei Formen des Großmütterlichen: Einmal geschieht das ganz direkt, indem ein Kopf aus Federn, Blättern und sonstigem opaken Material als Schattenriss hinter einer weißen Leinwand die Oma mit allem Möglichen konfrontiert, was der Fortschritt so mit sich gebracht hat: „Oma, did you know that …?“, sinniert die Kunstfigur mit Kinderstimme und führt ziemlich alles ins Treffen, was sich zwischen Klimakatastrophe, KI und Krieg an Schrecknissen der Gegenwart auflisten lässt. Dies hat einerseits etwas affektiv Berührendes, dem man sich schwer entziehen kann. Andererseits strapaziert dies aber auch den zuvor umrissenen Heteronomie-Aspekt über Gebühr, indem suggeriert wird, dass man sich all dieser Dinge – zumal die Klage mit kindlichem Timbre und charmant platzierten Aussprachefehlern vorgetragen wird – schlichtweg nicht erwehren kann. Und die imaginäre Oma, an die diese Appellation ergeht, kann an diesem Syndrom gleichfalls wenig ändern. Was vielleicht auch der Kalauer am Ende des Teils, „Oma, we laugh [ausgesprochen wie love] you“, implizit bestätigt.
Milderung erfährt diese vermeintliche Wehrlosigkeit im Postskriptum des Films, in dem eine Gruppe junger Frauen bei einem Rundtanz ihre „130 Sisters“ – besagte Vorläuferinnen und Inspirationsquellen – pars pro toto mit jeweils einem Satz würdigt. Die gleiche Gruppe sehen wir im dritten (im hinteren Teil des Raums gezeigten) Teil der Arbeit eine Anhöhe an der Küste nahe Marseille ersteigen. Akustisch bilden die Frauen zunächst einen in der malerischen Berglandschaft verstreuten Chor, dessen Mitglieder das Wort „Großmutter“ in allen möglichen Sprachen und Intonationen ins Weite hinausrufen, bis sich die Stimmen immer mehr zu einem Ensemble fügen. Die Gruppe findet sich schließlich auf der Anhöhe wieder, wo sie sich in einem Kreis rund um ein symbolisches Lagerfeuer, das aus glitzernden Mobiltelefonen besteht, Erzählungen über ihre realen und imaginären Großmütter zuflüstert. Flüstern und Hauchen stellen wichtige Momente dar, so wie in vielen anderen Arbeiten von Prouvost, [3] – da darin ein mehrfach aufgeladener Kommunikations- und Interaktionsmodus zum Tragen kommt: zum einen die heimliche Weitergabe von Botschaften, zum anderen ein allgemeinerer Modus des Inspiriert- und Animiert-Werdens, der sich hier unschwer auf die Art von Einflüsterung, für die die 130 Schwestern stehen, beziehen lässt.
Zu diesen einflüsternden Omas zählt auch die sogenannte [4] Venus von Willendorf, die als Abguss von Hand zu Hand rund um das Lagerfeuer weitergereicht wird. Gleichzeitig stößt die Figur nochmals eine weitere symbolische Tür auf, und so überrascht es kaum, dass im Film zwischenzeitlich auch eine Höhle samt darin applizierten Malereien inspiziert wird. [5] Das Höhlenhafte, mal da, mal dort mit Einsprengseln des großmütterlichen Gegenkanons ausstaffiert, findet sich gleichsam aus der Filmsequenz auf den gesamten Ausstellungsraum gestülpt, in dem noch viele andere solcher inspirativer Fundquellen zu entdecken sind: Glas- und Porzellanobjekte etwa in Form von Händen, Kartoffeln und fliegenden Fischen, die, ebenfalls wie eine Art Lagerfeuer an einem Strand arrangiert, eine Hommage an die Filmemacherin Agnès Varda bzw. deren Film Die Sammler und die Sammlerin (2000) bilden. Oder eine von der Decke hängende „Glasbrust“, die den programmatischen Titel We Were 130 Sisters trägt und von einem auf Sand drapierten Kabelsalat, gedacht als Reminiszenz an die Mathematikerin Ada Lovelace (Ada Programmed Our Future), konterkariert wird. Dazwischen drängen sich immer wieder kleinteilige, fragile Mobiles – meist Hybride aus Naturmaterialien und Plastikschrott – in das staccatohafte Stationendrama und lösen das Großmütterliche unter dem Kollektivsignet Moving Her in eine Reihe entpersonalisierter, wiewohl beweglicher und niemals ruhender Gebilde auf.
Dieser objekthaften Entpersonalisierung widerspricht auf anderer Ebene die Fixiertheit auf die 130 wahlverwandten Vorläuferinnen, wenngleich sie als solche nie vollständig aufgezählt oder als definitiver Kanon hingestellt werden. Prouvosts Glanzstück besteht darin, diese zwei Sphären trotz aller Sperrigkeiten und formalen Inkommensurabilitäten miteinander zu verbinden. Das Bindeglied bildet die Idee, der „Hauch“ des Großmütterlichen, der – begrifflich etwas überstrapaziert – bisweilen auch ins Leere zielen mag. Auf die Gesamtanlage der Ausstellung bezogen impliziert dieser Kunstgriff jedoch, dass erst der Umweg über die maximale Fremdbestimmung so etwas wie gedankliche Handlungsoptionen eröffnet. Oder anders formuliert: dass erst die geisterhafte Präsenz des Anderen den Weg zu etwas „Eigenem“ weisen kann. Wobei das gestammelte „Ohmmm age Oma je ohomma mama“ eine treffliche Bezeichnung dieses gleichsam unmöglichen Aktes darstellt.
„Laure Prouvost. Ohmmm age Oma je ohomma mama“, Kunsthalle Wien, 11. Mai bis 1. Oktober 2023.
Christian Höller ist Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift springerin – Hefte für Gegenwartskunst; letzte Buchpublikation: Stano Filko, Miloš Laky, Ján Zavarský – White Space in White Space, 1973−1982 (Wien 2021, hg. mit Daniel Grúň und Kathrin Rhomberg).
Image credit: 1. Foto Iris Ranzinger, 2. Courtesy of the artist, 3. Courtesy of the artist, Foto Dániel Mátyás Fülöp
Anmerkungen
[1] | Zur „Großmutter-Hypothese“ vgl. den Überblick auf Wikipedia. |
[2] | Eine 2017 gegründete österreichische Plattform für zivilgesellschaftliches Engagement gegen den drohenden Rechtsrutsch. Seit 2018 gibt es auch einen deutschen Ableger. |
[3] | Prouvost hat sich im Übrigen schon in früheren Arbeiten mit der Figur des „Großmütterlichen“ befasst, etwa in dem Video Grandma’s Dream (2013) oder Malereien mit dem Titel The Hidden Paintings Grandma Improved (seit 2017), so wie eine Reihe ihrer Werke (etwa Wantee, 2013) um ihren fiktiven Großvater kreist. |
[4] | „Sogenannt“, weil das nur der Name ist, der der Figur nach ihrem Fund 1908 von Archäologen gegeben wurde, ohne dass sie sich deren ursprünglicher Funktion vor knapp 30.000 Jahren, als sie geschaffen wurde, sicher zu sein; vgl. dazu die Ausführungen von Julia Grillmayr im Ausstellungsbooklet, S. 28ff. Die Zahl 130, die Prouvost für die Ausstellung aufgreift, bezieht sich auf die Anzahl solcher „Venus-Figurinen“, die in ganz Europa gefunden wurden. |
[5] | Das Uterushafte von Laure Prouvosts Installationen wurde auch in Diedrich Diederichsens Besprechung des französischen Venedig-Pavillons 2019 betont. |