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AKTIVIERENDES UNVERMÖGEN Christian Liclair über „Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“ in der nGbK, Berlin

„Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“, nGbK, 2020, Ausstellungsansicht

„Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“, nGbK, 2020, Ausstellungsansicht

Die neoliberalen Appelle und Ansprüche einer auf „high performance“ und kreativer Selbstverwirklichung getrimmten Gesellschaft sind inzwischen auf eine Weise angestiegen, dass die Bevorzugung der Aktivität zunehmend in Verruf gerät. Stattdessen wächst das Interesse an Phänomenen des Passivischen, wie eine kürzlich zu Ende gegangene Ausstellung in der Berliner nGbK beweist: Passivität wurde hier als produktives Unvermögen gefasst, als ein Mittel, die biopolitischen Einwirkungen auf unsere Körper derart zu transformieren, dass die Vorstellung eines autonomen Subjekts zugunsten von Ästhetiken der Affizierung infrage gestellt wird, wie der Kunsthistoriker Christian Liclair erläutert.

Zugegeben, dem ersten Eindruck nach erscheint der Titel „Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“ etwas irritierend für die von Kathrin Busch und Ilse Lafer kuratierte Gruppenausstellung – zumindest hinsichtlich des Einsatzes, der den Betrachter*innen hier abverlangt wurde. Erforderte die ambitionierte Show in der Berliner nGbK doch gerade ein besonders hohes Maß an Aktivität von ihren Besucher*innen und konterkarierte damit scheinbar die naheliegenden Assoziationen von Passivität mit Müßiggang, Entschleunigung, bewusster Entsagung und Anteilslosigkeit. So wurde beispielsweise die Zusammenstellung der Werke von Künstler*innen wie Lee Lozano, Paul Thek, Jutta Koether und Wu Tsang zweimal während der knapp anderthalbmonatigen Laufzeit geändert: Für jedes dieser von den Kuratorinnen als „Szenen“ bezeichneten Intervalle gestalteten sie unter jeweils anderer dramaturgischer Zuspitzung nicht nur die Hängung der präsentierten Arbeiten um, sondern tauschten hierfür auch einzelne Exponate aus. Alle drei ‚Inszenierungen‘ eröffneten zudem mit einer Vernissage und wurden von einem anspruchsvollen Vortrags- und Performanceprogramm begleitet. Schließlich variierte mit jeder Neuanordnung aber auch das von Eran Schaerf geschaffene Display halbtransparenter Vorhänge in Blassrosa, Pastellpink und Hellgrau, weshalb sich wiederkehrende Betrachter*innen stets aufs Neue im Raum orientieren und neue Sinnzusammenhänge herstellen mussten. Selbst die Ausstellungsarchitektur präsentierte sich somit weniger als eine nachträglich mit Inhalt gefüllte, passive Hülle, sondern als aktive, bedeutungsgenerierende Komponente.

Was könnte demnach mit radikaler Passivität gemeint gewesen sein? Und welche Rolle wurde dabei den präsentierten Kunstwerken zugewiesen? Begegneten uns doch gleich zu Beginn Lee Lozanos Arbeiten zu Masturbation und exzessivem Drogenkonsum, nicht aber ihre künstlerischen Auseinandersetzungen mit Boykott und Streik, die man einer gebräuchlichen Auslegung von Passivität nach womöglich erwartet hätte. Einen ersten Hinweis auf den von den Kuratorinnen operationalisierten Passivitätsbegriff liefert uns der Titel der einführenden, ersten Szene. Mit „Ästhetiken der Affizierung“ rekurrierten Busch und Lafer offensichtlich auf ein Konzept aus der Affekttheorie, die sich Anfang der 1990er Jahre unter anderem in Reaktion auf diskursanalytische Paradigmen der Subjektkonstitution entwickelte. So begriff etwa Brian Massumi, im Rückschluss auf Gilles Deleuze und Félix Guattari sowie Theoreme der Neurowissenschaft, Affekte als präsubjektive Intensitäten, die sich zwischen Körpern vollziehen, bevor diese bewusst wahrnehm- oder benennbar werden. Affizierung versteht sich in diesem Sinne als produktives Gefüge, das eine Veränderung oder einen Übergang von einer bestimmten körperlichen Verfassung in die nächste bewirkt, egal, wie gering diese Zustandsveränderung ausfallen mag, und egal, welcher Art diese Veränderung ist. [1] Die Handlungsfähigkeit eines menschlichen Körpers ist demnach nicht allein auf diesen reduzibel, sondern resultiert aus dem materiellen Verhältnis des Körpers zu den Objekten in seiner Umgebung – nicht nur auf makro-, sondern auch auf mikroskopischer Ebene wie im Fall von gasförmigen Molekülen, die bestimmte Rezeptoren berühren und damit zum Beispiel eine sinnliche Geruchsempfindung evozieren.

Sidsel Meineche Hansen, „Seroquel“, 2014, Videostill

Sidsel Meineche Hansen, „Seroquel“, 2014, Videostill

Vor diesem Hintergrund erscheinen Lozanos Grass Piece und No Grass Piece von 1969 – Arbeiten, die eine zentrale Stellung im Raum einnahmen – wie der gezielte Versuch, künstlerische Praxis als transgressiven Selbstverlust zu inszenieren. In diesen beiden zeitlich aufeinanderfolgenden, tagebuchähnlichen Aufzeichnungen notiert die Künstlerin physische und psychische Veränderungen an ihrer Person während wochenlangen, konstanten Marihuana-Konsums (Grass Piece) bzw. anschließender Entzugserscheinungen (No Grass Piece). Die geläufige Phrase „under the influence“, mit der man im Englischen drogen- und alkoholinduzierte Zustände charakterisiert, führt uns dabei näher an die etymologische Herkunft der Passivität heran. So benennt das altfranzösische passif alles, auf das von außen eingewirkt wird, was also unter dem Einfluss von Fremdem (ent-)steht. Der Begriff geht auf das altgriechische pathos zurück, das jegliche Form des Erleidens bezeichnet, die ohne unser Zutun geschieht. Passivität, wie Busch sie in ihrem gleichnamigen Buch versteht, ist insofern radikal, als sie nicht zur Wahl steht, sondern erlitten wird: Sie ist ein der Subjektwerdung vorhergehendes Unvermögen. [2]

Hat Lozano ihre molekulare Affizierung noch selbst in die Wege geleitet, zeigte sich uns der Aspekt des Ausgeliefertseins fast schmerzlich in Paul Theks Arbeit aus seiner Technological Reliquaries-Serie. Für Untitled #79 (1964) bildete der Künstler ein nicht genau zu bestimmendes Stück Fleisch nach – offen gelegte Muskeln, blutige Sehnen und Fasern – und präsentierte es in einem nummerierten Glaskasten. So führte uns dieses Exponat den für die Ausstellung ebenfalls maßgeblichen Begriff des „Fleisches“ konkret vor Augen, der bereits im Ausstellungstitel akzentuiert war. Diese terminologische Festlegung sei, so der begleitende Katalog, bedeutsam, da über das Fleischliche eine elementare Empfindsamkeit zum Ausdruck komme, nämlich diejenige, als Körper ebenso erreg- wie verwundbar zu sein: „Fleisch, das ist der sensible Körper in seiner unwillkürlichen Affizierbarkeit, die sowohl Lust als auch Schmerz umfasst.“ [3] Vermittelt über die Haut, befinden wir uns konstant in direkter Abhängigkeit zu äußeren Einflüssen: eine sensible Ausgesetztheit, die uns besonders im Schmerz entgegentritt.

Darauf, dass Schmerz (wie auch Lust) eine der Affizierung nachträgliche Bedeutungszuschreibung ist, wird im Katalogtext nicht eingegangen. Allerdings fand sich dieser Umstand in der Ausstellung mit mehr oder weniger klaren Verweisen auf erotische Praktiken der BDSM-Kultur angedeutet, etwa in Jimmy De Sanas Arbeit Masking Tape aus seinem 1979 erschienenen Buch Submission. Darüber hinaus ließe sich anhand dieser Fotografie das für die Ausstellung postulierte Verständnis von Passivität als Unvermögen und fleischlicher Affizierbarkeit als eine radikale Form von Potenzialität verstehen, die die Vorstellung eines autonomen Subjekts sowie die heteronormative erotische Kartografie des Körpers infrage stellt. Sadomasochistische Praktiken wie die in De Sanas Arbeit dargestellte Bondage-Szene instrumentalisieren den gesamten Körper (und nicht lediglich die sogenannten Sexualorgane) aufgrund seiner elementaren Affizierbarkeit als potenziellen Ort für die Generierung von Lust durch Intensivierung von Körperkontakt. [4]

„Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“, nGbK, 2020, Ausstellungsansicht

„Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“, nGbK, 2020, Ausstellungsansicht

Während der erste Teil der Ausstellungstrilogie Passivität als Unvermögen und damit als Selbstaufgabe stilisierte, widmeten sich die beiden darauffolgenden Szenen „Digitale Fleischlichkeit“ und „Politiken des Fleisches“ künstlerischen Auseinandersetzungen mit Formen gegenwärtiger Machttechniken. Während diese von Affekttheorien meist vernachlässigt werden, lenkten Busch und Lafer unsere Aufmerksamkeit dezidiert auf jene Regulierungsprozesse, die sie mit Paul B. Preciado als „pharmakopornografisch“ klassifizieren, da diese als biomolekulare Techniken materiell in unsere Körper eindringen. [5] Eine solche Machttechnik verhandelt Sidsel Meineche Hansen eindrücklich in ihrer 3-D-animierten Videoarbeit Seroquel® von 2014, die in unterschiedlichen Konstellationen in allen drei „Szenen“ ausgestellt wurde. Die Künstlerin bedient sich hierfür unter anderem einiger Ausschnitte aus Promofilmen für antipsychotische Medikamente, um das Verhältnis von Patient*in/Konsument*in und Big Pharma kritisch als „industrial complex of your emotions“ zu adressieren (so fasst es zumindest Lydia Lunch im Voiceover des Videos zusammen).

Diesem Pessimismus entgegnete Hansen mit einer anschließenden Sequenz, in der ein weiblicher Avatar selbstzerstörerische Aktionen vollzieht, die einen vertikalen Riss auf ihrer Brust hinterlassen. Allerdings werden dabei weniger die inneren Organe freigelegt, sondern das Raster ihrer digitalen Codierung, das sogenannte Drahtgittermodell, auf dessen Basis der digitale Avatar modelliert ist. Eröffnet die Künstlerin durch dieses Aufreißen einen Möglichkeitsraum, der uns einlädt, pharmakologische Prozesse auch subversiv zu denken? Nicht nur als Ausdruck einer normativ-leistungssteigernden Industrie, sondern als ein Mittel, den ‚eigenen‘ körperlichen Code radikal zu transformieren? Der in den Ausstellungstexten wiederholt artikulierte Rekurs auf Preciado legt eine solche Deutung nahe, basiert sein Buch Testo-Junkie (2013) doch auf der experimentellen Selbstverabreichung von Testosteron und den damit einhergehenden Veränderungen an Körper und Psyche. [6] Es ginge, so Preciado, nicht darum, biopolitischen Techniken pauschal zu entsagen. Vielmehr sollten wir uns fragen, ob wir nur fügsame Konsument*innen sein oder uns bewusst machen wollen, wovon wir affiziert werden, „[to] collectively risk inventing new ways of installing and reinstalling subjectivity“. [7]

Befasst man sich mit der anspruchsvollen philosophischen Grundlage der Ausstellung, zeigt sich, dass die Radikalität der Passivität für Busch und Lafer in der unwillentlichen Sensibilität des Fleisches besteht und damit das bezeichnet, was „passiver ist als die Passivität, die man der Aktivität gegenüberstellt“. [8] Allerdings findet sich in den besprochenen Arbeiten auch eine politische Radikalität adressiert, die im Unvermögen und fleischlichem Ausgeliefertsein identifiziert werden kann. Es zeigt sich ein Appell, diese Passivität nicht einfach resignierend hinzunehmen, sondern die Affizierbarkeit unseres Fleisches aktiv zu nutzen, um ein anderes Verständnis von Subjektivität und Situiertheit in der Welt zu imaginieren.

„Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“, neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V., Berlin, 12. September bis 1. November 2020.

Christian Liclair ist Kunsthistoriker. Seine Dissertation im Forschungsprojekt „Ästhetik des Begehrens“ trägt den Titel „Emancipatory Reimaginations of Sexual Desire in US-American Art during the 1970s“.

Image credit: nGbK, Berlin, Foto: Benjamin Renter; Rodeo, London / Piraeus / Sidsel Meineche Hansen

Anmerkungen

[1]Siehe Brian Massumi, „The Autonomy of Affect“, in: Cultural Critique, 31, 1995, S. 83–109.
[2]Siehe Kathrin Busch, Passivität, Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden, Bd. 6, hrsg. v. Jan-Frederik Bandel/Nora Sdun, Hamburg et al. 2012, S. 36.
[3]Siehe Kathrin Busch, „Radikale Passivität: Politiken des Fleisches, Eine Ausstellung in drei Szenen“, in: Radikale Passivität: Politiken des Fleisches, Ausst.-Kat., hg. von neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin, 2020, keine Seitenangabe.
[4]Siehe hierzu Michel Foucault, „The Gay Science“, in: Critical Inquiry, 37, 2011, S. 385–403, S. 389–397.
[5]Siehe Paul B. Preciado, „Pharmaco‐pornographic Politics: Towards a New Gender Ecology“, in: Parallax, 1, 2008, S. 105–117.
[6]Ders., Testo Junkie: Sex, Drugs, and Biopolitics in the Pharmacopornograhpic Era, New York 2013. Ursprünglich publiziert als Testo Yonqu, Madrid 2008.
[7]Ders., „Pharmaco-pornographic Politics“, S. 115.
[8]Busch, Radikale Passivität, ohne Seitenangabe.