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CARL HEGEMANN (1949–2025) Von Christoph Menke

Carl Hegemann

Carl Hegemann

Carl Hegemann war Dramaturg. Nach Stationen in Recklinghausen, Freiburg und Bochum kam er 1992 an die Volksbühne in Berlin, die in ihrer großen Zeit nicht nur das Theater, sondern die Kunst in Deutschland neu definiert und dadurch geprägt hat. Diese Phase der Intendanz von Frank Castorf, die untrennbar mit Regisseuren wie Herbert Fritsch, Christoph Marthaler, René Pollesch und Christoph Schlingensief, mit den Bühnenbildner*innen Bert Neumann und Anna Viebrock sowie Schauspieler*innen wie Kathrin Angerer, Hendrik Arnst, Sophie Rois und Martin Wuttke verbunden ist, hat Hegemann entscheidend mitbestimmt. Nach einer Professur für Dramaturgie in Leipzig von 2006 bis 2014 ist er noch einmal für die letzten Jahre der Intendanz von Castorf an die Volksbühne zurückgekehrt, bis er sie dann endgültig verließ und sich an vielen Orten an vielen Inszenierungen, oft in Zusammenarbeit mit Jette Steckel, beteiligte – vor allem als unermüdlicher Berater, Anreger, Kommentator und Gesprächspartner für Leute, die das Theater ernst nehmen. Für all diese war er ein Lehrer. Und dies nicht nur im Medium des Gesprächs, das er hingebungsvoll betrieb und genoss, von einem zum anderen Gegenstand und Gegenüber weitertreibend, sondern auch als Autor. Seine Autorschaft war gattungsübergreifend, zumeist in ein und demselben Text. So wie viele der Theaterinszenierungen, an denen er beteiligt war, zugleich Drama, Dialog, Essay, Traktat, Gedanke, Geschrei waren – und am Ende, durch die vielen Stunden, die man ihnen folgte, Gesang wurden. (Carl Hegemann hat immer wieder Friedrich Hölderlin zitiert: „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“ Die letzte Wendung war für ihn entscheidend.)

Hegemann war der geniale Erfinder und Finder von Überschriften und Motti. Ein Kapitel seiner Dissertation (die er 1982 unter dem Titel Identität und Selbst-Zerstörung veröffentlichte) trägt die lange, gewundene Überschrift „Die Funktion transzendental-anthropologischer Elemente in einer historisch-kritischen Theorie moderner Lebensbedingungen“ und zitiert in seinem Motto, zum Kontrapunkt, die Weisheit der Tabakreklame: „Lachen, so sagen manche, unterscheidet den Menschen vom Tier. So auch das Rauchen.“ Das von Hegemann herausgegebene Buch, das Castorfs 2017 uraufgeführte Faust-Inszenierung an der Volksbühne begleitete, hat den genau treffenden Titel Wie man ein Arschloch wird. Kapitalismus und Kolonisierung. Hegemann war witzig. Und zugleich ein großer Systematisierer. Zur Inszenierung von Richard Wagners Tannhäuser, die er 2011 mit Sebastian Baumgarten erarbeitete, fertigte er ein großes Tableau an, in dem alle Elemente dieser Oper verzeichnet und in gegensätzliche Verbindungen gebracht wurden: die Schmerzen mit dem Spaß, Rom als Ort der Dekontamination und der Entsühnung mit dem weisen Silen und Jacques Lacans Realem. Diese Verbindungen und Gegenüberstellungen von Heterogenem sind weit mehr oder noch etwas ganz anderes als Assoziationen, Einfälle, Aperçus: Sie bilden ein System, das Hegemann aufs Präziseste erklären konnte. Er war witzig, weil er präzise war. Und nur weil er beides war, konnte er es wagen (und konnte es ihm gelingen), 2021 im Alexander Verlag eine Dramaturgie des Daseins zu veröffentlichen, die das leistet, was der Untertitel ankündigt: Everyday live, ein Durchdenken der Paradoxien des gegenwärtigen Lebens, das der Dauerüberwachung durch die alten und neuen Medien die Dauerreflexion des Theaters entgegensetzt. Es ist Carl Hegemanns Hauptwerk, weil es all seine verschiedenen Tätigkeiten bündelt und jetzt von uns – „als sei es eine Summe“ – gelesen werden kann.

Das sind ein paar Daten, Etappen und Aspekte dieses Lebens, das nun jäh zu Ende gegangen ist. Das Entscheidende, an das ich hier erinnern möchte, ist jedoch, wie Hegemann verstanden hat, was er getan hat. Darin liegt die Bedeutung, die sein Werk für die Kunst, nicht nur die des Theaters, heute hat.

Hegemann ging es um die Dramaturgie, die er in dem Sinn begriffen hat, in dem sie an ihrem Anfang im 18. Jahrhundert, zusammen mit dem, was wir seitdem „Kritik“ nennen, entwickelt wurde. Ihr liegt ein Verständnis der Kunst zugrunde, das Hegemann mit unvergleichlicher Radikalität, Konsequenz und Hartnäckigkeit verfochten und für die Gegenwart neu formuliert und verteidigt hat. Dass es die Dramaturgie, dass es Dramaturg*innen gibt, bedeutet, dass es mitten im Theater einen Ort und eine Zeit gibt, an dem und in der sich das Theater mit sich selbst beschäftigt. Und zwar so, dass es sich selbst denkt; die Dramaturgie ist eine Praxis des Sichdenkens des Theaters (so wie es auch die Kritik tut; Dramaturgie und Kritik denken von verschiedenen Seiten aus die Kunst). Dass das Theater sich – im Medium der Dramaturgie – denkt, heißt aber etwas ganz anderes, als dass es sich rechtfertigt, erklärt und kommuniziert; die Dramaturgie hat keine pädagogischen Zwecke (aber gerade deshalb kann sie pädagogische Effekte haben; sie kann uns erziehen). Hegemann ging es in der Dramaturgie um etwas anderes. Es ging ihm um die Wahrheit – um die Wahrheit, die das Theater sagt, indem sie es nicht sagt, sondern indem es Spiel ist. Weil es Hegemann im Theater um die Wahrheit ging, ging es ihm also um das Spiel – nicht als Medium der Illusion, sondern der Zerreißung des Scheins, als Medium des Realen.

Das sind die Kategorien desjenigen Denkens, das die Dramaturgie begründet hat und dem sich Hegemann seit seinem Philosophiestudium in Frankfurt am Main zeitlebens widmete. Bei Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Karl Marx fand er den Gedanken, der ihn nicht mehr losgelassen hat – so wie er überhaupt nichts auf die Ansicht gab, dass eine Kunstform, wie die Tragödie oder die Oper, oder eine Denkweise, wie die der Aufklärung und des Idealismus, veraltet sei und wir ohne ihre Formen besser dran seien. Dieser Gedanke begründete für Hegemann die Dramaturgie, weil er das Denken an das Theater und das Theater an das Denken bindet. Die Dramaturgie war für Hegemann das Medium, in dem sich das Theater und das Denken verbinden. Aber nicht, weil sie darin ein und dasselbe werden. Sondern weil das konsequente Denken zum Theater kommt, kommen muss, und das konsequente Theater zum Denken treibt.

Dass das Denken zum Theater kommen muss, hat Hegemann oftmals mit einem Satz von Hölderlin erklärt: „Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens.“ Hegemann erläutert diesen Satz in seiner Dramaturgie des Daseins so: „Schönheit und Vollkommenheit sind an Armut und Mangel gebunden. Die Wahrheit des unbeschränkten Subjekts, seine grenzenlose Freiheit, ist immer nur eine Fiktion, nur im Schein können wir zu ganzen Menschen werden, als lebendige Wesen sind wir konstitutiv auf unsere Unfertigkeit und Schwäche angewiesen: letztlich auf unsere Sterblichkeit.“ Was Hegemann hier ganz einfach zusammenfasst, ist die ursprüngliche Einsicht, die er Fichte verdankt (und in seiner Dissertation entfaltet): Wir können nur Subjekte sein, die ihrer selbst bewusst und daher frei, also „aktiv“ sind, wenn wir einen Anstoß von außen erleiden. Das Subjekt ist ein Paradox, aktiv und passiv – oder aktiv, weil passiv –, die unmögliche Einheit eines „Selbst-Widerspruchs“ (wie Hegemann sagte).

In dieser Paradoxie lag für ihn das zentrale Problem des Denkens und deshalb die Essenz des Theaters. Sie ist das zentrale Problem für das Denken, weil es erkennen muss, dass es die Vollkommenheit und den Mangel, die Freiheit und die Passivität nur zusammen geben kann, zugleich jedoch ihr Zusammensein nicht in einen Begriff, in eine Theorie fassen kann. Das Denken muss etwas denken, das es nicht zu begreifen vermag. Es muss anerkennen, dass seine Versuche, unser Tun und Leben zu begreifen, in eine Fiktion führen, die Fiktion des sich begreifenden und selbstbestimmenden Subjekts. Und zugleich begründet dieses Scheitern des Denkens für Hegemann die Notwendigkeit des Theaters. Das ist seine Essenz. Aber nicht, weil das Theater diese Paradoxie zeigen und mitteilen sollte, sondern weil es so operiert; weil Theater zu spielen heißt, diese Paradoxie zu entfalten, sie im Sprechen und Bewegen zu verkörpern. Theater zu spielen, heißt nicht, das Handeln darzustellen, sondern auf andere Weise zu handeln. Nicht, um einen Zweck oder Plan, ein Bild von uns selbst und der Welt zu verwirklichen, denn dann sind wir im Handeln nur bei uns selbst – bloß Subjekte. Sondern so, dass unsere Armut und unser Mangel – das Scheitern der Selbstkontrolle, also zuletzt der Tod – zur Bedingung eines Gelingens werden, das umso strahlender, berauschender ist, weil wir es nicht selbst gemacht haben. „Erobert Euer Grab“ stand in Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Schlingensief auf Hegemanns Laptop.

Wenn jemand für immer gegangen ist, will man festhalten, was von ihm bleiben sollte; in jedem Nachruf steckt ein Wunschzettel. Auf diesem hier steht der Wunsch, dass Hegemanns Werk allen, denen es um das Theater und die Kunst geht, eine Einsicht hinterlassen habe, die ihnen etwas bedeutet. Die Einsicht, dass es ebenso im Denken wie im Spiel des Theaters nicht um politische, moralische, pädagogische Zwecke geht, sondern dass sie gerade darin frei sind, dass sie für uns notwendig sind: notwendig, um eine Wahrheit zu verkörpern. Carl Hegemann hat uns gezeigt, dass man sich dann keine Sorgen machen muss.

Christoph Menke ist pensionierter Professor für Philosophie an der Goethe-Universität, Frankfurt/Main. Letzte Buchveröffentlichung: Theorie der Befreiung (Suhrkamp, 2022).

Image credit: © Thomas Aurin