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ERSCHÖPFUNG UND DURCHLÄSSIGKEIT Ellen Wagner über SoiL Thornton im Kunstverein Bielefeld

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 2022, Ausstellungsansicht

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 2022, Ausstellungsansicht

Bedeutung konstituiert und wandelt sich ständig. SoiL Thorntons erste institutionelle Einzelausstellung „Decomposition Evaluation“ untersucht die ökologischen und ökonomischen Bedingungen, auf Basis derer sich dieser Wandel vollzieht. Im Zentrum der Ausstellung steht die Reflektion über Entstehen und Vergehen – sowohl auf der körperlich-ökologischen Ebene, mit Blick auf Kompostierungs- und Zersetzungsprozesse, als auch in Form einer Beschäftigung mit der Generierung und dem Zerfall ökonomischer Werte. Kunstwissenschaftlerin und Autorin Ellen Wagner verknüpft die thematischen Stränge der Ausstellung und zeigt, wie Thorntons Arbeiten die Zustände zwischen An- und Abwesenheit, Fülle und Leere erfahrbar machen.

Zuerst fällt der Blick auf die Abstände. Bewegen wir uns durch SoiL Thorntons Schau, begegnen wir Exponaten, die nur selten vor unseren Augen zu komplexen, sich überlagernden Konstellationen zusammentreten. Der Stand des Individuums in einem ökonomischen und ökologischen System ist thematischer Kern der Ausstellung „Decomposition Evaluation“. Die räumliche Anordnung präludiert diesen mit einem Nebeneinander von großflächigen und kleinteiligen Werken, denen jeweils klar ihr Wirkbereich zugewiesen scheint. Die Objekte schmiegen sich eng an Wand und Boden, fordern uns dazu auf, sie einzeln aus der Nähe zu betrachten. Trotzdem wird der atmosphärische Grundton von einem Tasten nach Anschluss bestimmt: Einzelne Serien sind auf mehrere Räume verteilt und nehmen über farbliche und formale Korrespondenzen Kontakt zueinander auf.

Beginnings of dematerialized space/containment through exercising imagination, then exercising active practice? (ready to go) (2022) besteht, gemäß künstlerischer Anweisung, aus genau einer Wand in jedem Ausstellungsraum, die leuchtend chromagrün gestrichen ist. In der Video-Postproduktion erleichtern Chromafarben, die in der Natur nicht vorkommen, eine automatische Erfassung und Ausblendung zugunsten neu hinzugefügter Hintergründe. Die gleichmäßig getönte und ausgeleuchtete Fläche beherrscht das noch unbearbeitete Bild als Platzhalter künftiger Kompositionen. In den Ausstellungsräumen drängt dieser Hintergrund nach vorn, was metaphorisch auch für einen institutionellen oder medialen Umgang mit künstlerischen Positionen, Personen und vor allem deren Potenzialen lesbar wird.

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 2022, Ausstellungsansicht

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 2022, Ausstellungsansicht

Ein Potenzial kann ausgeschöpft oder verworfen werden, sofern es denn das „eigene“ ist. Wer sich aber wen oder was aneignen und welchen Wert und Nutzen daraus ziehen kann, ist in einer kapitalistischen Ordnung stets in Verhandlung. Die Fragilität dieser „Besitzverhältnisse“ und die Unklarheit der „Nutzungsansprüche“ von Persönlichkeiten und Talenten sind Punkte, von denen aus Thornton die Präsenz sowohl von Künstler*innen auf dem Markt und im Diskurs als auch von menschlichen Körpern allgemein zu einem Kippmoment führt. „Decomposition Evaluation“ nimmt die Ab- und Weitergabe von Ressourcen, Raum und Biomasse in den Blick. Dabei stellen sich Fragen nach der Nachhaltigkeit des Anwesend- und Gefragt-Seins, eines Auftritts, der immer kurz davor scheint, aufgebaut oder verwehrt zu werden.

In der technisch kühlen „Vorbehaltlichkeit“ der deckend monochromen, chromagrünen Wände ließe sich ein Gegenstück zum durchlässigen Prozess des Kompostierens sehen, der in mehreren Arbeiten zum Thema wird. Beides bedeutet einen Zwischenzustand: im ersten Fall als Farbsignal, das auf die mediale Performance des Subjekts verweist und sich als Instrument einer Austauschbarkeit der Kontexte zu erkennen gibt; im zweiten Fall als gelebte, im kollektiven Organismus zwischen Auf- und Abbau befindliche Materie.

Abrupt lässt uns Thornton auf einen Durchgang stoßen, der durch ein riesiges L-förmiges Inflatable, den Husband Chair (KB) (2022), versperrt ist. Dessen weiche Oberfläche in fast schon schwarzem Braun lässt die Luft sacht vibrieren. Dahinter befindet sich, unzugänglich und nur im Anschnitt sichtbar, das Pendant einer Arbeit, die wir ein Stockwerk höher von Nahem sehen. Dirt photo (guarded) und Dirt photo (vulnerable) (beide 2022) zeigen Abzüge vom analogen Foto einer Friedhofsansicht, wie sie profaner nicht sein könnte: Rasenfläche, Schubkarre, Erdaushub. Nicht viel mehr. All das in grober Körnung, die Greifbarkeit und Zerbrechlichkeit in eins fallen lässt: den bevorstehenden Zerfall eines materiell manifestierten Gedenkens und Vergessens, dessen „Halbwertzeit“ nicht zuletzt sozial bedingt ist.

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 2022, Ausstellungsansicht

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 2022, Ausstellungsansicht

Die Voraussetzungen gesellschaftlicher Zugänglichkeit, gerade in Bezug auf die Räume, Institutionen und Diskurse der Kunst, stehen schon länger im Zentrum von Thorntons künstlerischen Interessen. Seit Abschluss an der Cooper Union 2012 reflektiert Thornton malerisch wie skulptural Wert- und Bedeutungsschöpfung in einer von Alltagseindrücken und Collage geprägten Abstraktion. Neu ist in dieser ersten institutionellen Einzelpräsentation in Europa das Thema körperlicher Vergänglichkeit. Diese wird hier nicht nur als positiv anzunehmende Qualität menschlicher Lebendigkeit adressiert, sondern auch in kritischer Anerkennung der Tatsache, dass nicht alle Menschen gleich verletzlich sind, dass selbst der Tod noch Unterschiede macht und soziale Gefälle hervortreten lässt. Beide inhaltlichen Stränge umspielen einander in der Bielefelder Ausstellung und bilden ein assoziationsreiches Gewebe.

So zeigt beispielsweise actualizing implications of self care through world care via capitals regenerative processes, i mean earths (2022) Zertifikat und Materialprobe eines von Myzelien durchsetzten Sargs, der verspricht, nicht eine letzte Ruhestätte zu bieten, sondern die Auflösung des Körpers ins Ökosystem mithin zu neuem Leben zu befördern. Im Verhältnis dazu wirken die Assemblagen am Boden in der Schau passiv. Plattgedrückte und ausgesaugte Hüllen legen sich um leere Behältnisse; mittels Oberflächenimitat flexibilisiertes, einfoliertes Allzweck-MDF wurde zu buchstäblichen „Präsentiertellern“ gefertigt. Die auf einem dieser Objekte „servierte“ Arbeit Who makes who at home (TZK edition) (2021) besteht aus einem in Epoxidharz getauchten und somit unbrauchbar gemachten Schlüssel zum Redaktionsbüro von Texte zur Kunst und dem herausgebrochenen Metallstab einer Polizeiabsperrung. Vielsagend sind beide aneinandergebunden, als verwiesen sie auf etwas sie selbst Übersteigendes, schwer in Worte zu Fassendes. Zwar verkörpert jedes Element für sich einen eingeschränkten Zutritt zu einer konkreten Öffentlichkeit, doch überlässt es Thornton unserer Vorstellungskraft, wie wir beide verknüpfen und mit welcher kritischen Denkrichtung, welchem Medium oder welchem politischen Spektrum wir welche Ein- und Ausschlüsse verbinden.

Assisted Cleansing/tactile gap glue (372 of 1,000,000) (seit 2020) wiederum präsentiert überfahrene Getränkedosen, gesammelt auf den Straßen New Yorks und in Aufbewahrungsboxen verstaut. Die teils noch vorhandenen Strohhalme hängen ihnen wie kraftlose Zungen aus dem Mund. Insgesamt 18 dekorative Mülleimer in Form von Einkaufstüten hat Thornton unter körperlicher Anstrengung für Waisted Breath (2022) zerbeult, mit Wünschen „beflüstert“ und anschließend in Plastikbeuteln vakuumiert abgepackt – die Hoffnungen produktförmig konserviert.

SoiL Thornton, „Assisted Cleansing/tactile gap glue (372 of 1,000,000)“, 2020

SoiL Thornton, „Assisted Cleansing/tactile gap glue (372 of 1,000,000)“, 2020

Basierend auf unspezifischen klassischen Motiven der Warenwelt, auf Kisten, Tüten, Dosen, muten diese Arbeiten zunächst anachronistisch zum algorithmisch personalisierten Onlineshopping der Gegenwart an. Ihre Bildsprache streift surrealistische ebenso wie Pop Art- und Post-Internet-Ästhetik, sodass im Betrachten die Zeiten zusammenschießen und das Verhältnis von Verausgabung und Selbstverwirklichung – als Herstellung eines Konsumierbaren, bisweilen (scheinbar) hergestellt auch durch Konsum – als alte und bleibende Problematik sichtbar wird.

Durch ihre emotional aufgeladene Bearbeitung erwecken die Objekte den Eindruck von Stellvertreter*innen-Subjekten. Wohin aber führt das Gedankenexperiment, Menschen oder Künstler*innen analog zu Readymades aidés zu betrachten – zu „nachgeholfenen“ (seriellen) Industrieprodukten voller unsichtbarer Hoffnungen? Was impliziert es, Subjekte als „fertig vorgefundene“, biografisch in die ein oder andere Richtung geprägte, verwertbare Einheiten oder Objets trouvés aufzufassen? Und wie passen die hier allegorisch ausgedeuteten Assemblagen in eine digitale Welt – mehr Leichen als Zombies, die jede Aktivitätsanzeige verweigern? Welchen Hintergrund würde man ihnen geben, sobald der Greenscreen ausgeblendet ist? Oder kommt es vielmehr auf den Untergrund an, den Nährboden in der physischen Welt?

Die Erde, Soil und SoiL, darf in der Schau für sich stehen, als Einladung zum Teilhaben: Auf dem Kompost im Hof des Kunstvereins können Besucher*innen Küchenabfälle hinterlassen, doch keine bereits verarbeiteten Lebensmittel. Die Arbeit Pay it Forward (2022) macht so Zerfall als lebendig produktives Moment sichtbar. Sie verleiht durch ihre ohne viel menschliches Zutun entfaltete Fülle auch der inszenierten plakativen Leere der nachbearbeiteten Readymades eine Bedeutung als deren Gegenstück. In der Kontrastierung der Farben und Materialien scheint eine Gegenüberstellung auf: vom grellen Chromagrün, stoisch Raum für Raum wiederkehrend, und von warmen dunklen Tönen, atmend als Kompost oder als skulpturaler Körper aus Luft und einer Haut aus seidigem Textil.

Thornton schafft es, die Bühnen, die wir gern bespielen, erfüllen und nur ungern abgeben, wie auch die Körper, an denen wir ebenso hängen, in An- und Abwesenheit zugleich zu zeigen. Das Auftreten und Abgehen, mithin die Momente kurz vor und nach einer wahrgenommenen, anerkannten „Präsenz“ rücken ins Zentrum als gestaltbare Bedingungen für den Auf- und Abbau von Strukturen. Sie sind in ihren anbahnenden und transformatorischen Kräften ausschlaggebend für ein ökonomisches und ökologisches Verständnis, das jenseits antagonistischer Funktionalität zu denken vermag – und jenseits „work“ und „life“ vielleicht gegenseitige Sicht- und Spürbarkeit ermöglicht.

„SoiL Thornton: Decomposition Evaluation“, Kunstverein Bielefeld, 20. August bis 30. Oktober 2022.

Ellen Wagner ist Kunstwissenschaftlerin, Autorin und aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach/M. Ihre Dissertation erschien als Falsche Signale. Strategien der Mimikry in der Post-Internet Art 2021 bei Diaphanes.

Image credit: Courtesy of the artist and Kunstverein Bielefeld, photos Fred Dott