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BERAUSCHTER BETRIEB Eva Biringer über Trinkende in der Kunstwelt

Yuki Kimura, „MPEG-4 H.264 Reflecting in Sizes“, 2019

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Thematisch lose an unsere aktuelle Ausgabe „Resortization“ anknüpfend, befasst sich der jüngste Beitrag von „Current Attractions“ mit einer besonderen Form des Refugiums: Die Kunstwelt, so die Autorin Eva Biringer, biete ihren Akteur*innen reichlich Gelegenheit, sich in den Alkohol zu flüchten. Zudem profitiere die Kunst maßgeblich von seiner Wirkung und gehe mit dem Rausch ein symbiotisches Wechselspiel ein. Wie in ihrem Buch Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen nimmt Biringer auch hier explizit die sogenannte emanzipierte Frau in den Blick, der sie in Folge fortwirkender Geschlechterstereotypen eine besondere Suchtgefährdung attestiert.

„All of my smiling, all of my socialising is fuelled by alcohol. […] I really like that glow, but in the end it’s not true energy.“ [1] Dieser Satz stammt aus einem Guardian-Interview, wer ihn spricht, ist Tracey Emin, bekannt geworden unter anderem durch ein Zelt, an dessen Wände sie die Namen aller Personen schrieb, mit denen sie eine Nacht verbracht hatte. So offen wie sie ihr Intimleben enthüllt, äußert sie sich auch über ihre Trinkgewohnheiten. In wilden Zeiten wäre sie an einem gewöhnlichen Tag gerne mal auf diverse Dosen Stella-Bier und eine halbe Flasche Brandy gekommen, später nur noch auf eineinhalb Flaschen guten Weißwein, maximal zwei. Fotos aus dem Jahr 2010 zeigen sie im schulterfreien Vivienne-Westwood-Dress, komatös auf dem Rücksitz einer Limousine hängend. Sie habe sich, wie Simon Cable in Daily Mail schadenfroh bemerkte, bei den GQ Awards wohl etwas zu freimütig am Gratischampagner bedient. [2] Besonders tragisch ist in diesem Zusammenhang , dass die Londonerin kurz zuvor verkündet hatte, ihren Alkoholkonsum drastisch gesenkt zu haben.

Frauen, die Schmerz, Enttäuschungen und Sehnsucht mit Alkohol betäuben ist ein Phänomen, das öfter vorkommt als gedacht, und zwar besonders oft unter emanzipierten, beruflich erfolgreichen, äußerlich perfekt erscheinenden Frauen. Ein gesellschaftlich weitgehend akzeptiertes Laster, das von der Gewohnheit zur Erkrankung werden kann – und bei vielen wird. 2015 zählten in Deutschland 14 Prozent aller erwachsenen Frauen zu den sogenannten Risikotrinkerinnen. [3] Bei jenen mit hohem Sozialstatus ist es sogar jede fünfte. [4] Monatelang habe ich mich selbst mit diesem Thema beschäftigt und die Ergebnisse in einem Buch mit dem Titel Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen festgehalten. Im Kunstbereich sind es dem Klischee nach hingegen eher Männer, die saufen, zur Steigerung ihrer Kreativität und als Beweis ihres Nonkonformismus. Sie schneiden sich im Absinthrausch ein Ohr ab oder schaffen Bierdosenwerke mit dem Titel Alkoholfolter – aus seiner Abhängigkeit hat Martin Kippenberger kein großes Geheimnis gemacht.

Dabei hängt, nüchtern betrachtet, die ganze Kunstwelt an der Flasche. Nehmen wir die klassische Vernissagesituation. So wie Menschen gemeinhin mit steigender Promillezahl vermeintlich interessanter erscheinen, nehmen wir auch die Kunst wahr: Farben leuchten, Gesprächspartner strahlen, das Objet trouvé ist jeden Preis wert. Nicht umsonst wird Alkohol als soziales Schmiermittel bezeichnet. Das Lachen perlt, der Esprit sprüht, und die den meisten Menschen angeborenen Hemmungen im Umgang mit Fremden werden einfach weggespült. Fest steht, dass Alkohol die Kunst affiziert und andersherum. Das kann schon auch lustig sein: Ich habe mir sagen lassen, dass an so mancher Kunstakademie, in Wien und Berlin jedenfalls, Discounterwein-Bechern zu den inoffiziellen Studienfächern gehört. Nicht alle trinken hinterher so affirmativ und öffentlichkeitswirksam wie Tracey Emin, vor allem Frauen nicht. Aber trinken – das tun sie schon, und die Grenzen zwischen Genuss, Gewohnheit, Missbrauch und Abhängigkeit sind im wahrsten Sinn des Wortes fließend. In einem Interview mit der Welt gesteht Alicja Kwade: „Ich hatte kurze Momente, wo ich dachte, jetzt könnte ich eine Sucht entwickeln. Da hab ich manchmal um zwölf Uhr das erste Glas Wein getrunken. Alkohol ist schlimm. Seit ich dreizehn bin, beschäftigt mich das.“ [5] Nach dem Interview trifft Kwade ihre New Yorker Galeristin: mit einer Flasche Weißwein und Champagner in der Handtasche.

Im Umgang mit Alkohol lohnt es sich zu fragen, was dieser einem gibt und was er einem nimmt. Vieles ist ohne ihn nicht möglich oder nur sehr schwer zu erlangen: jener Kurzurlaub für den Kopf, das Gefühl, eins mit völlig Fremden zu sein, die gesteigerte Empfänglichkeit für Kunst, für Schönheit allgemein. Die Künstler*innen unter uns werden vielleicht Inspiration ergänzen. Leider macht Alkohol auch so verdammt wehrlos (sofort) und anfällig für Depressionen und Angstzustände (mittelfristig). Eine Freundin von mir, Kunstgeschichtlerin und Land-Art-Expertin, hat sich in den Selbstmord getrunken.

Alkohol ist, anders als Tracey Emin das im Guardian-Interview betonte, sehr wohl eine Form von Energie, aber eine dunkle, je nach genetischer Disposition und Umwelteinflüssen, vornehmlich zerstörerischen. Warum brauchen wir die, auch und gerade in Verbindung mit Kunst, an die doch per se der Anspruch herangetragen wird zu berühren, zu verwandeln? Braucht das Vernissagepublikum, brauchen die Kurator*innen, die Feuilletonist*innen diese Energie? Ich rate dazu, mal nüchtern zu bleiben und zu schauen, was passiert. Gut möglich, dass an die Stelle des Alkohols eine andere Form von Energie, ein anderer glow tritt als der, den Tracey Emin beschrieben hat. Einer, der die Dunkelheit mühelos überstrahlt.

Eva Biringer ist Journalistin und Autorin. Bei Harper Collins ist ihr Buch Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen erschienen, in dem sie der Frage nachgeht, warum ausgerechnet emanzipierte Frauen so viel Alkohol trinken. Es geht darin auch um Sektgläser werfende Galeristen und das viele Jahre zurückliegende Praktikum der Autorin bei Texte zur Kunst.

Image credit: Courtesy of the artist and Jenny’s, Los Angeles; photo Ed Mumford

Anmerkungen

[1]Geoffrey Beattie, „On the couch with Tracey Emin“, in: Guardian, 15. Januar 2006.
[2]Simon Cable, „Don‘t worry, she‘s not really The Stig: Tracey Emin carried to her car … after posing as racing driver at GQ Awards“, in: Daily Mail, 9. September 2010.
[3]Sarah Kahnert/Ute Mons/Katrin Schaller, „Alkoholatlas 2017“, Deutsches Krebsforschungszentrum, S. 40.
[4]Ebd., S. 50.
[5]Frédéric Schwilden, „Die meisten menschlichen Eigenschaften sind Zufall und total egal“, in: Welt, 26. September 2021.