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Everything Starts with Imagination Michael Franz über „Studio Eine Phantastik“ in der Shedhalle Zürich

In mehreren Artikeln widmen wir uns anhand von Ausstellungsbesprechungen dem Thema der Kunstpädagogik und ihren Schnittstellen mit der Freien Kunst. Den Beginn macht unser Autor Michael Franz, der hier über die Ausstellung "Studio Eine Phantastik“ in der Shedhalle Zürich schreibt.

Über dem Eingang des Areals der „Roten Fabrik“ im Süden Zürichs, auf dem die Shedhalle ihre Räume hat, hängt ein alter Neonschriftzug, der wohl von einem ausrangierten Fahrgeschäft stammt, wie man es von Jahrmärkten kennt. Darauf steht auf der einen Seite „Future“, auf der anderen „World“ – man betritt also "die „Future“ und verlässt sie wieder zur „World“, oder man nimmt das ganze als "Future World“ wahr, wobei diese hier so aussieht, wie alternative Kulturzentren fast überall aussehen, ästhetisch also eigentlich eher eine „Retroworld“.

Ausstellungsgeschichte und kuratorische Programmatik der Shedhalle sind durch ihre Entstehung im Zusammenhang mit der Umnutzung des ehemaligen Fabrikgeländes und den damit verbundenen politischen Auseinandersetzungen zu Beginn der 80er Jahre geprägt. Getragen von einem Verein und finanziert von der Stadt Zürich werden hier seit 30 Jahren dezidiert politische künstlerische Praxisformen gezeigt, die in den vergangenen Jahren oft auch eine ganz konkrete Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse in Zürich gesucht haben. So waren „klassische“ Ausstellungsformate meist lediglich Teil größer angelegter Projekte, die sich mit Migration, Ökologie und Kapitalismus beschäftigten und hier eindeutige Positionen vertraten.

Unter dem Titel „Studio Eine Phantastik“ ist in der Shedhalle nun eine Ausstellung zu sehen, der es unter verschiedenen Gesichtspunkten sehr gut gelingt, politischen und ästhetischen Anspruch zusammenzuführen, die dabei aber auf der anderen Seite auf exemplarische Art und Weise die Grenzen dieses Ansatzes sichtbar macht.

„Studio Eine Phantastik“, Installationsansicht, Shedhalle, Zürich, 2018

Ursprünglich konzipiert von Paolo Do und Salvatore Lacagnina und in Zürich zusammen mit Annette Amberg und Egija Inzule realisiert, knüpft „Studio Eine Phantastik“ an eine Reihe unterschiedlicher Projekte der Beteiligten an, in denen – im Swiss Institute in Rom und auf der documenta14 – verschiedene Formen des Ausstellens mit politischem, teils auch wissenschaftlich-interdisziplinärem Anspruch erprobt wurden. Der Begriff „Studio“ lässt natürlich an das Künstler*innenatelier denken, steht aber mehr noch für eine Art Arbeitsraum im Allgemeinen, in dem die Besucher*innen nicht nur zu eigenen Assoziationen, sondern auch zu Recherche und Forschung angeregt werden sollen. So gibt es hier – in einem spätestens seit den 90er Jahren vertrauten Setting – Tische und Sitzgelegenheiten, ein Bücherregal mit einem Handapparat und zahlreiche Texte und Materialien, die frei genutzt werden können.

Ausgehend von Schriften des italienischen Autors und Pädagogen Gianni Rodari, in denen im Zusammenhang mit kunstdidaktischen Überlegungen eine „Grammatik der Phantasie“ (so der deutsche Titel eines Sammelbandes mit praktischen Anregungen zum kreativen Schreiben) beschrieben wird, versammelt „Studio Eine Phantastik“ eher assoziativ Arbeiten von Künstler*innen verschiedener Generationen, die ganz unterschiedliche Medien nutzen. Diese stehen mit dem der Ausstellung zugrunde liegenden kuratorischen Interesse mal expliziter – wie die „Einschlafgeschichten“ Harun Farockis oder die kleinen, aquarellierten Umschläge von Sprachlehrbüchern aus der Grundschule von Hinrich Sachs („Die Muttersprache“, 1992 – heute) – und mal weniger direkt im Zusammenhang – wie Enzo Cucchis große Malerei „Cinque Punte“ (2018) oder Giulia Piscitellis Stoffbahnen, auf die die Künstlerin mit Bleiche einfache Gegenstände gezeichnet hat, die gerade durch die zwangsläufige Unbeholfenheit in der Ausführung (man sieht dabei kaum, was man malt), unmittelbare Wirkung entfalten.

Das beiläufige Nebeneinander von Video, Malerei, Skulptur und Fotografie („Urban Screens“ von Vincenzo Castella, große Abzüge von Bildern, die im Rahmen eines Workshops in der Sukkulenten-Sammlung Zürich entstanden sind) wird – im weitesten Sinne – durch Bezüge auf Kindheit, Fantasie und Utopie verknüpft, ohne dabei in seiner Ästhetik zu einfach, eindeutig oder gar „kindlich“ zu werden. Insgesamt herrscht eine eher „sinnliche“ Anmutung vor, trotz der Kombination mit den oben genannten theoretisch-intellektuellen Elementen. In der lichtdurchfluteten, großen Ausstellungshalle wirkt das atmosphärisch dicht, beinahe „traum-artig“ – was einen gelungenen Rückbezug zum Ausgangspunkt des kuratorischen Ansatzes ergibt.

Auf den von der englischen Bildhauerin und SupaStore-Initiatorin Sarah Staton entworfenen Podesten und Sockeln, die eine formal eigenwillige und doch funktionale Ausstellungsarchitektur bilden, liegt neben zahlreichen Büchern auch eine Auswahl von Schüler*innenarbeiten aus dem Archiv der Kinder- und Jugendzeichnung der Stiftung Pestalozzianum. Die billigen Reproduktionen der Blätter im Originalformat, die in einem kleinen Stapel ausliegen, angefasst und umgeschichtet werden können, tragen ebenfalls dazu bei, die Rolle der „Kunst“ in der gesamten Anordnung der Ausstellung aus einer anderen Perspektive zu betrachten – und so erscheinen auch die Arbeiten der „etablierten Künstler*innen“ als Anregungen zur eigenen Auseinandersetzung damit und als sinnvolle Ergänzung des übrigen Recherchematerials, ohne dass ihre ästhetische Eigenständigkeit wirklich gefährdet würde. Durch die geschickte, großzügige Anordnung aller Elemente entsteht eine Umgebung, die tatsächlich dazu anregt, sich längere Zeit mit den weiteren Aspekten des Konzepts zu beschäftigen.

„Studio Eine Phantastik“, Installationsansicht, Shedhalle, Zürich, 2018

Die eingangs kurz erwähnte Ausrichtung an Rodari und dessen sozialistisch-reformpädagogisch geprägtem Ansatz und die damit verbundene Entscheidung, Kunstpädagogik und -didaktik konkret zum Thema zu machen, erweist sich als gute Setzung, zumal diese Begriffe im Kunstfeld heute eher „Unworte“ sind – was widersinnig ist, weil jede Form von Vermittlung (wie sie in Kunstausstellungen selbstverständlich passiert) immer schon auf irgendeine Art didaktisch bzw. pädagogisch ist und das Spannungsverhältnis von Kunst und Vermittlung auch historisch, spätestens seit Friedrich Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, mehr oder weniger explizit andauernd präsent ist. Der offene Umgang mit der Thematik eröffnet den Raum, in dem sich das Konzept der Kurator*innen entfaltet – ohne dabei infantilisierend auf die Besucher*innen einzuwirken. Neben Überlegungen zu einer „Grammatik der Phantasie“, also dazu, wie Imagination und Kreativität strukturiert und verfasst sind bzw. durch Gesellschaft, Schule und Erziehung geformt werden, geht es um die „Kunst“, Geschichten zu erzählen und darum, wie diese Formen unserer Wahrnehmung und Konstruktion von „Welt“ zwangsläufig politisch werden. Implizit wird mit diesem weit gefassten Ansatz auch ein (nicht unkritischer) Bezug zur stark aktivistisch geprägten Programmatik hergestellt, die in der Shedhalle seit ihrer Gründung verfolgt wird.

Das Interesse an der Imagination und ihrer Verfasstheit mündet heute beinahe automatisch in der Frage, ob und wie man andere gesellschaftliche Strukturen überhaupt noch denken kann. In der Ausstellung wird dieser Zusammenhang weitgehend indirekt hergestellt – Rodari war Kommunist, die meisten der eingeladenen Künstler*innen vertreten mehr oder weniger „linke“, zumindest aber auf Fragen des menschlichen Zusammenlebens bezogene Positionen. Dass der Entwurf einer „Grammatik der Phantasie“ – wie jede Systematisierung psychologischer Vorgänge – natürlich stark vereinfacht ist und lediglich als Modell dienen soll, wird so ebenfalls ausreichend verdeutlicht, es geht hier bei aller „Didaktik“ lediglich um Anregungen, (historische) Spuren und Anhaltspunkte.

Am konkretesten thematisiert der Germanistikprofessor Jack Zipes, dessen Vortrag „Learning from Fairytales“ auf einem mp3-Player in der Ausstellung angehört werden kann, diese Perspektive. Hier geht es ganz explizit um die Frage, welche Narrative unsere Wahrnehmung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch von uns selbst in diesen Zusammenhängen bestimmen und wie diese verändert werden können. Zipes schlägt konkrete Maßnahmen – „eigenes“ Storytelling und dessen Vermittlung von Kindheit an – als Strategie vor. Das gesamte Ausstellungsprojekt, mit all seinen Abschweifungen und ästhetischen „Nebenwegen“, lässt sich so auch als grundsätzliche Überlegung lesen, wie durch geeignete künstlerische und didaktische Konzepte, Kindern (und Erwachsenen) alternative Denk- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet und wie diese im Rahmen institutioneller Ausstellungspraxis initiiert und begleitet werden können. Dieser Ansatz scheint anderen Strategien, gesellschaftlichen Wandel zum Besseren tatsächlich zu bewirken und nicht nur zu beschreiben oder zu fordern, auf den ersten Blick überlegen. Auch wenn es auf Seiten der Rechten als auch der Linken nicht wenige historische Beispiele für die problematischen Folgen ideologischer Indoktrination von Kindern gibt, berücksichtigt er doch die Tatsache, dass sich früh gelernte Denk- und Verhaltensweisen tatsächlich oft nur schwer korrigieren lassen und dass gesellschaftliche Veränderungsprozesse in erster Linie langwierig sind.

Trotzdem stellen sich hier ähnliche Fragen wie bei allen grundsätzlichen Ansätzen, Auswege aus der gegenwärtig als so katastrophal empfundenen Situation zu finden: Reichen gelegentliche Ausstellungsbesuche und z. B. zwei Schulstunden pro Woche, um zu anderen Subjektivitäten, einem aufgeklärteren Bewusstsein zu kommen, oder wäre das dann scheinbar „Eigene“ nicht auch schon durch „das System“ vorformatiert? Und selbst wenn das gelänge – was käme zum Vorschein - tatsächlich etwas ganz Anderes, Besseres? Besteht nicht das „Master-Narrative“, von dem Zipes spricht, letztlich doch auch ausschließlich aus „unseren“ Geschichten? An einigen Stellen der Ausstellung klingt durchaus an, dass diese strikte Teilung nicht sinnvoll aufrecht erhalten werden kann und gerade die überall präsenten Ambivalenzen Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen sein müssen. So ist Zipes Vortrag bei weitem die eindeutigste Aussage dazu. Andere Arbeiten, wie die hier gezeigten Videos von Farocki oder die Keramiken von Betty Woodman bilden dazu einen deutlichen Gegensatz, regen sie mit ihren Verweisen auf ganz andere ästhetische Felder, zur anderen Art der Selbstreflektion, an. Auch der Verweis auf aktivistische politische Bewegungen an der Peripherie Europas und auf die Geschichte der besetzten und selbstverwalteten Seifenfabrik „Vio.me“ in Thessaloniki erweitern hier das Spektrum. Trotzdem könnte dies noch deutlicher werden.

Letztlich stellt sich so die Frage nach dem Format der „Ausstellung“ selbst und der Rolle der Institution in dieser Konstellation, denn bei aller Offenheit handelt es sich bei „Studio Eine Phantastik“ (noch) um eine Kunstausstellung: organisiert von einem Kurator*innenteam, an einem herausgehobenen Ort mit einer ganz spezifischen Geschichte, finanziert von der Stadt Zürich, verbunden mit allen Privilegien, Hierarchien und Repräsentationseffekten, die dieses Modell mit sich bringt – wie man mit dieser Ebene umgehen, was eine Perspektive sein könnte, zeichnet sich noch nicht deutlich ab. Man könnte sich viele solche Orte vorstellen, an denen auf lokaler Ebene, selbst verwaltet und selbst organisiert, eine ähnliche Symbiose aus Bildungsangebot, „ästhetischer Erziehung“ und künstlerischer Praxis realisiert wird. Wäre das aber noch im Sinne der Institution und der Urheber*innen, würde sich das Format „Ausstellung“ damit, wie „der gute Pädagoge“ selbst entbehrlich machen?

„Studio Eine Phantastik“, Installationsansicht, Shedhalle, Zürich, 2018

Trotzdem könnte die kuratorische Geste, gerade jetzt und an diesem Ort quasi neu auf alte Fragen zu blicken, einen gelungenen Auftakt für eine produktive Auseinandersetzung mit drängenden Problemen bilden. Der offene und zurückhaltende Ansatz des Kurator*innenteams legt nahe, dass den Beteiligten die, wenn nicht aporetische, so doch sehr langfristige Perspektive ihres Konzepts dabei durchaus bewusst war. So wird auch deutlich, dass es hier vor allem um ein „Zeitproblem“ geht, da Imagination und Erzählen – wie jede Form der Veränderung – nur prozesshaft vorstellbar sind: Zeit also, die die Besucher*innen in dieser Ausstellung (und darüber hinaus) brauchen und Zeit für die Kurator*innen, ihr Anliegen weiter zu bearbeiten. Während Zeit im ersten Fall heute ja immer knapp scheint, wird sie auch das Kollektiv - zumindest an diesem Ausstellungsort - wohl nicht mehr haben. Damit wird zumindest an diesem Ort, der eigentlich entscheidende Punkt des Konzepts, der die Fortführung des transformatorischen Prozesses der Gesellschaft und der Institution betreffen würde, Leerstelle bleiben. Welche divergierenden Vorstellungen über kuratorische Arbeit und kollektive Praxis hierfür den Ausschlag dafür gegeben haben,dass die Kurator*innen nicht mehr weiter an der Shedhalle arbeiten werden, bleibt genauso unklar wie die Vision deren zukünftige Ausrichtung.

Storytelling“ ist seit einiger Zeit auch ein ganz großes Ding in Marketing und Public-Relations und so wirkt es dann sehr zwiespältig, wenn zum Abschied am Flughafen Zürich die Werbung in der so genannten „Camel Smoking Lounge“ leuchtend verkündet „Everything starts with imagination“.

„Studio Eine Phantastik“, Shedhalle Zürich, 24. Mai bis 29. Juli 2018.

Michael Franz ist Künstler und lebt in Berlin.

Titelbild: Mädchen, 11, Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb, 1963

Alle Rechte: Shedhalle 2018, Archiv der Kinder- und Jugendzeichnung der Stiftung Pestalozzianum