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Heterotopien des Unbehagens Paula-Irene Villa Braslavsky über Judith Butlers Vortrag am 31. Januar 2020 an der TU Berlin

Judith Butler auf der Jubiläumstagung „10 Jahre Fachgesellschaft Geschlechterstudien“ an der TU Berlin, 31.1.2020.

Judith Butler auf der Jubiläumstagung „10 Jahre Fachgesellschaft Geschlechterstudien“ an der TU Berlin, 31.1.2020.

Zehn Jahre wissenschaftliche Fachgesellschaft GeschlechterStudien/Gender Studies wollen gebührend gefeiert werden. Aus gegebenem Anlass hielt Judith Butler einen Vortrag im überfüllten Hörsaal der TU Berlin. Damit wurden nicht zuletzt auch 30 Jahre „Gender Trouble“ geehrt. Paula-Irene Villa Braslavsky, Professorin für Soziologie und Gender Studies, wirft einen zugleich distanzierten wie engagierten Blick auf Butlers Vortrag und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum.

Es galt ein Jubiläum zu würdigen, das nicht einfach gefeiert werden kann. Zehn Jahre wissenschaftliche Fachgesellschaft GeschlechterStudien/Gender Studies sind zwar zehn Jahre gute, durchaus erfolgreiche wissenschaftspolitische Arbeit nach innen und außen. Zehn Jahre institutionalisierte Vernetzung mit nachhaltigen Möglichkeiten zur Konsolidierung; zehn Jahre Sichtbarkeitsgewinne im Blick auf Forschungsförderung, Wissenschaftsgremien und nationale wie internationale Scientific Communities, zehn Jahre Professionalisierung in academia. Doch die Gender Studies würden ihrem Ruf – im Guten wie im Schlechten – nicht gerecht, würden diese Prozesse nicht auch kritisch und skeptisch beäugt werden. Sorgen um disziplinäre, konzeptuell-theoretische oder auch habituelle Hegemonien begleiten das Feld seit jeher (zu viel Soziologie, zu wenig Queer Theory, zu viel Poststrukturalismus, zu wenig STS, zu wenig Transperspektiven, zu viel professorales Gebaren, zu binär, zu wenig intersektional, zu wenig feministisch, to be continued). Das Jubiläum beinhaltet also auch (mindestens zehn Jahre) Sorge um eine mindestens ambivalent, wenn nicht als problematisch beschriebene Normalisierung eines Feldes, das sich selbst gern als besonders (herrschafts-, wissenschafts-, normalisierungs-)kritisch ansieht. Das Feld der Gender Studies ist immer schon eine „heiße epistemische Kultur“ [1] , ein hochpluralistischer Kontext, der sich nicht trotz, sondern durch kontroverse (Grundsatz-)Debatten perpetuiert und dabei besonders reflexiv ist: Grundbegriffe, Theorien, empirische Perspektiven, disziplinäre Zuordnungen, Distanz-Nähe-Verhältnisse zu den sozialen Dynamiken und politischen Bewegungen der Gegenwart, Wissenschaftlichkeit. All dies wird kritisch diskutiert, zumal in einer politischen Situation, in der die Gender Studies für politisierbare Erregung sorgen. Gender ist ein Kristallisationsbegriff diffamierender, toxischer Rhetorik geworden, die nicht mal den Anschein einer Debatte wahren will. [2] Gender und die Gender Studies stehen nicht zufällig im Mittelpunkt autoritärer Politiken, etwa in Ungarn oder Brasilien.

Nun also – im Audimax der TU Berlin mit ca. 1200 Personen – der Jubiläumsvortrag. Judith Butler ist geladen, und nur sie. Nachdem tagsüber die Fachgesellschaft in AGs und Workshops intern gearbeitet haben und sich nachmittags ein großes Podium öffentlich über verschiedene Dimensionen der Arbeit ausgetauscht hat, hält Butler am Abend den alleinigen Festvortrag. Vor ihr gibt es Grußworte, u.a. des Präsidenten der TU Berlin, der sich ausdrücklich als „Fan“ der Rednerin outet und ein überzeugendes Plädoyer für die Wissenschaftsfreiheit hält, die er durch die diffamierenden Angriffe auf die Gender Studies herausgefordert sieht. Danach ein kurzer, wunderbar theoriepoetischer Vortrag der Politikwissenschaftlerin und Professorin für Queer Theory in Künsten und Wissenschaft der Kunsthochschule Köln, Isabell Lorey. Judith Butler ging in ihrem Beitrag auf genau die phantasmatische, affektive, politisch relevante Aufladung von Gender ein. Sie präsentierte einerseits das, was nunmehr aus einer Fülle von Studien bereits bekannt ist, nämlich Geschichte, Akteur*innen, Konstellationen und Rhetorik des „Anti-Genderismus“ weltweit. Sie führte andererseits auch bislang weniger bekannte Überlegungen aus, etwa die Vermutung, dass die Prekarisierungsdynamiken im Ökonomischen abgewehrt werden sollen durch Resouveränisierungsversprechen im Kulturellen (etwa durch Reinheits- und Einheitsfiktionen eindeutiger, homogener, ontologischer sozialer Entitäten wie Geschlecht, Familie, Volk, Nation). Butler veredelte dieses Argument mit der Pointe, dass niemand sich von der Verführungskraft und Notwendigkeit solcher Versprechen frei wähnen sollte. Sie argumentierte auch, wofür ich ihr (als Soziologin) inhaltlich sehr danke, gegen voluntaristische Versionen von Gender, wie sie auch in den Gender Studies nicht unüblich geworden sind; solche nämlich, die Gender auf eine individuelle Entscheidung verflachen und damit neoliberale Rahmungen alles andere als kritisch befragen, sondern an deren Herstellung beteiligt sind. Der Vortrag ging insgesamt zwar völlig angemessen auf die aktuellen Auseinandersetzungen um Gender im Politischen wie im Akademischen ein; er thematisierte jedoch weder die Fachgesellschaft noch die spezifisch deutschen/deutschsprachigen Dynamiken und Geneaologien des Feldes. Schade für einen Jubiläumsvortrag.

Judith Butler auf der Jubiläumstagung „10 Jahre Fachgesellschaft Geschlechterstudien“ an der TU Berlin, 31.1.2020.

Judith Butler auf der Jubiläumstagung „10 Jahre Fachgesellschaft Geschlechterstudien“ an der TU Berlin, 31.1.2020.

Das Unbehagen der Geschlechter, die deutsche Übersetzung von Gender Trouble, erschien 1991, das ist knapp 30 Jahre her. Vor 30 Jahren war so viel Aufbruch; und Aufbruch galt vor 30 Jahren so unhinterfragt, so selbstverständlich als gut. Mehr Reflexion, mehr Raum für auch im körperlichen Sinn „kulturell sich erweiternde Lebbarkeiten“ [3] , mehr Anerkennung für die struggles und lustvollen Möglichkeiten zwischen Normen und Praxen, mehr Achtung vor gewaltsam verworfenen und überflüssig gemachten Personen und mehr Selbstkritik in der Anerkennung, wie sehr diese Verwerfungen uns – uns? (auch das Fragezeichen war Teil des Aufbruchs ins Bessere) – auch konstituieren. Mehr Ausweitung der Subjektzone auf der Grundlage einer Ethik der Anerkennung, die es in und durch Differenzen zu entwickeln galt. Mehr Lust, weniger Scham. Mehr Sichtbarkeit, weniger Gewalt. Gender Trouble erschien in deutscher Übersetzung vor 30 Jahren, auch Raw Like Sushi von Neneh Cherry und vor ca. drei Jahrzehnten auch Plantation Lullabies von Meshell Ndegeocello.

Vor 30 Jahren schien klar, die Zukunft wird queerer, pluraler, freier, kurz: besser. Als ich 1994 meine Diplomarbeit zu Butler und Bourdieu schrieb, war die Butler-Rezeption begleitet von einer faszinierend lustgruseligen, religiös getönten ‚Dämonisierung‘ ihrer Person und der Resonanz, die sie erzeugte. Sabine Hark hat dies in ihrer Studie Dissidente Partizipation brillant analysiert. [4] Butler, so damals FAZ, FR und auch weite Teile der Frauen-, erst zögerlich Geschlechterforschung werdenden academia, erschien als ‚Hohepriesterin‘, deren Vorträge von ihrer ‚Gefolgschaft‘ andächtig aufgenommen und frenetisch bejubelt würden – wie in einer autoritären, von Verblendung geprägten Sekte. Isabell Lorey hat hiervon in ihrem poet-theoretischen Vortrag, quasi als Vorband, wunderbar erzählt. Judith Butler hat die Dämonisierung als affektive Form der Abwehr von Einsichten und Praxen in ihrem Vortrag ebenfalls nachdrücklich am Fall aktueller autoritärer Politiken thematisiert, die über die Diffamierung von Gender Studies phantasmatische Reinheitsfiktionen zu Geschlecht oder Familie zu stabilisieren versuchen.

Ich hatte Judith Butler bis zu diesem Vortrag an der TU nie vor so großem Publikum gehört, immer nur – und dies auch nicht so oft – in kleineren Runden. Spürbar waren nicht nur Begeisterung und Anerkennung für das Inhaltliche; ebenso unmittelbar waren die Wärme- und Zuneigungsströme im Saal, eine caring connection zwischen den sehr vielen Menschen; seliges Lächeln, Hier-und-jetzt-Intensität. Ich verstehe gut, wie wichtig das ist. Aber es ist nicht das, was ein akademischer Festvortrag leisten sollte. Vielleicht ist meine Befremdung jedoch Teil einer Verstrickung, die immer auch zur Desidentifizierung nötigt. Denn gerade im Lichte der aktuellen politischen Situationen, gerade angesichts einer zunehmenden Verwahrlosung des Ethischen und der Erosion des Wissens um das Miteinander, die Gewalt, Demütigung, Diskriminierung ermöglicht, war dieser Saal eine wuchtige Heterotopie: ein Ort der wertschätzenden Anerkennung pluraler, uneindeutiger, differenter Personen; der Menschen im Plural. Wo erleben wir das schon in dieser Größe hier und heute?! Nachvollziehbar und erlebbar wurde, dass Gender immer auch gender trouble ist und dass dies so viel Glück und Lust bedeutet, wie Gewalt provozieren kann. Die Fachgesellschaft GeschlechterStudien e.V. wird sich auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten damit befassen. Glückwunsch zum Zehnjährigen!

Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Sie forscht und lehrt u.a. zu Biopolitik, Care, soziologischer Theorie, Gender in Politik. Sie hat eine Einführung in das Werk von Judith Butler verfasst (Campus 2011). www.gender.soziologie.uni-muenchen.de

image credit: Felix Noak

Anmerkungen

[1]Gudrun-Axeli Knapp, „,Trans-Begriffe‘, ,Paradoxie‘ und ,Intersektionalität‘. Notizen zu Veränderungen im Vokabular der Gesellschaftsanalyse“, in: Dies., Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung, Wiesbaden: VS Springer, 2012, S. 385–400, hier: S. 392.
[2]Vgl. Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld: transcript, 2015.
[3]Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag, 1995, S. 11.
[4]Sabine Hark, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.