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SHORT CUTS Isabel Mehl über „Faux Pas. Selected Writings and Drawings“ von Amy Sillman

Fragen zu Feminismus, Improvisation und Humor bestimmen die Arbeiten der Malerin Amy Sillman. Vergangenen Herbst ist ein Buch von ihr erschienen, das Texte, die Sillman seit 2009 geschrieben hat, mit Zeichnungen versammelt, die sie während der Pandemie angefertigt hat. Feministische Kunstgeschichtsschreibung gesellt sich hier zu humoristischen Alltagsbeobachtungen und pointierten Analysen der politischen Gegenwart Amerikas. Dabei stellt das Motiv des Scheiterns, des Fehltritts, eine Art roter Faden durch das Buch dar, dessen eigentümlicher Sogwirkung sich auch die Kunstkritikerin Isabel Mehl nicht entziehen konnte.

Als sich im März 2020 aufgrund der Covid-19-Pandemie die Vorstellung davon, wie wir unseren Alltag und unser Arbeitsleben gestalten (können), dahingehend veränderte, dass wir von nun an anderen Menschen vornehmlich ausweichen und mit ihnen hauptsächlich per Videokonferenz kommunizieren müssen, zog sich die Malerin Amy Sillman von New York nach Long Island zurück. Dort pausierte sie kurzzeitig in ihrer Rolle als „Action Painterin“ und etablierte eine Routine aus morgendlichem Zeichnen und anschließender Schreibsession. Während dieser Zeit wurde auch der Band Faux Pas. Selected Writings and Drawings (2020) fertiggestellt. Darin sind 22 Texte von Sillman versammelt, die seit 2009 entstanden und um Zeichnungen von ihr ergänzt wurden – um Blumenskizzen, Künstler*innenporträts (etwa von John Chamberlain mit Diana Ross und den Supremes, von Maria Lassnig und von Jennifer Packer), aber auch um Tischordnungsdiagramme der abendlichen Dinner an der American Academy in Berlin, an denen Sillman 2009 im Rahmen einer Fellowship teilnahm.

In dem das Buch einleitenden Interview stellt Sillman gegenüber den Herausgeber*innen Charlotte Houette, François Lancien-Guilberteau und Benjamin Thorel fest, dass sich ihre Texte aus ihren Erfahrungen als Professorin am Bard College speisten und sie mittlerweile ihr ganzes Leben als „expanded field of painting“ begreife. Im Zuge ihrer Ausstellung in der Berliner Galerie Carlier | Gebauer startete Sillman 2009 das Zine O.-G., um ihre abstrakten Malereien sprachlich zu kontextualisieren. [1] Eine solche Skepsis gegenüber malerischer Abstraktion, die ohne Worte auskommt, findet auch in Sillmans Breakup Letter Ausdruck. Hier erzählt sie der Künstlerin Jackie Saccoccio von ihrer Absage an „A“ (synonym für „Abstraction“): „I feel really bad saying this but I KIND OF WONDER sometimes if A is just DEAD INSIDE.“ (157) Dabei ist die Trennung von der Abstraktion wohl eher als notwendige Pause einer intensiven Beziehung zu verstehen denn als endgültige Abrechnung mit einem künstlerischen Verfahren. In ihrem Essay Shit Happens: Notes on Awkwardness kommt Sillman auf ihr Verständnis einer bildimmanenten Logik zu sprechen, die ein tastendes Vorgehen und das Verlassen festgefahrener Vorstellungsrouten erfordere, und gibt in einem anlässlich der Buchveröffentlichung geführten Gespräch mit Lynne Tillman erste Hinweise darauf, welcher titelgebende „Faux Pas“ hier gemeint sein könnte: „I like it when things are wrong. I like it when things are embarrassing. I like no-gos. All these are interesting places to explore.“ [2]

In On Color (2013) reflektiert Sillman die Produktionsbedingungen von Farbe (die sogenannte Interessensgemeinschaft Farben produzierte etwa nicht nur Farbstoffe für Sofabezüge, sondern auch Zyklon B, das in Konzentrationslagern eingesetzt wurde), über die Darstellbarkeit von Farbe im Dia, auf dem Display und in real life und beschreibt pointiert den jeweiligen Farbeinsatz verschiedener Künstler*innen. Zu Jutta Koether heißt es beispielsweise: „[B]oth historic and hysteric color acting as a kind of psychic signal beam to shine a light on history, as though plugging the Poussin monitor into the crazy beam.“ (68) Für Sillmans Farbwelt spielt auch ein gewisser „Richard“ eine zentrale Rolle: Richard Frumess. Er ist der Besitzer des New Yorker Kunstfachhandels R&F Handmade Paints und somit teilverantwortlich für das im Laden angebotene Farbsortiment. Bei R&F Handmade Paints kauft Sillman innerhalb eines Jahres zum Teil Farben im Wert von einem BMW oder Nerzmantel ein. Dass der Wert der Farbe sich jedoch nicht in Geld aufwiegen lässt, zeigt ein Diagramm Sillmans, das die Dauer des durch unterschiedliche Stoffe (z. B. Kokain oder Kadmiumrot verursachten Vergnügens entlang der Achsen des Preises und der Langlebigkeit bemisst. In dieser Rechnung steigert sich der Wert des Farbpigmentes beinahe ins Unermessliche.

Überraschende Einsichten dieser Art vermitteln sich während der Lektüre öfters. Wiederholt kommt Sillman etwa auf die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu sprechen und stellt u. a. fest, dass an Kunsthochschulen über Farbe ungefähr so gesprochen werde, wie Baseballspieler unterschiedliche Spielfelder diskutierten. Ein „color commentator“ ist beim Baseball die Person, die im Fachjargon das Spiel kommentiert. Entsprechend lässt Sillman in ihrem Nine Innings: Notes on a Color Commentator. On Nine Works by Louise Fishman überschriebenen Essay die Malerin Louise Fishman in der Art einer Baseballspielerin den Platz betreten: „a five-foot utility slinger, a northpaw with a real canon, originally out of the Philly club with time spent in Illinois and now New York City.“ (247) Und über das Spielfeld schreibt Sillman: „Green junk on the side, a hanging green snowman with low velocity but lots of movement. Looks like Fishman’s canceling Christmas! Green on green don’t stand a chance, and the field is littered with shards of crimson.“ (247)

Amy Sillman, Zeichnung von Maria Lassnig, 2020

Amy Sillman, Zeichnung von Maria Lassnig, 2020

Auch das New Yorker East Village, in das Sillman 1975 nach ihrer Ankunft aus Chicago zieht, beschreibt sie als ein Netz sich kreuzender Wege und verpasster Begegnungen. Obwohl Maria Lassnig in unmittelbarer Nachbarschaft lebte, begegneten sich die beiden nie. Überhaupt waren Sillman die Arbeiten Lassnigs damals noch völlig unbekannt. Lassnig bekam 1980 als erste Frau eine Professur für Malerei an der Hochschule für angewandte Kunst Wien, ihr wurden jüngst Retrospektiven in der Wiener Albertina und im Amsterdamer Stedelijk Museum gewidmet, weshalb Sillman sich rückblickend fragt, was aus den Künstlerinnen aus Lassnigs Generation geworden ist: Martie Edelheit, Rosalind Schneider, Silvana Goldsmith und Susan Brockman – wo sind ihre Archive? Die Versäumnisse der Kunstgeschichte, die weder das buchstäbliche Gewicht der Farbpigmente lehrt noch die vielen unbeachteten Künstlerinnen ins öffentliche Bewusstsein rückt, triggern bei Sillman das Bedürfnis, weiter in den Löchern der Kunstgeschichte zu graben: „[T]here are so many cracks in it already that at some point it dawns on you that art history might just be wrong, or a mythic fiction made up by certain people, like a religion with its own Kool-Aid.“ (80)

So wendet sich Sillman auch von der vereinfachenden Darstellung des Abstrakten Expressionismus (von ihr „AbEx“ genannt) in Anlehnung an den phallischen Pinselschwung Jackson Pollocks als Macho-Kunst ab. Vielmehr kontextualisiert sie ihn neu, indem sie die Bedeutung der Black Music für „AbEx“ hervorhebt sowie auf Carolee Schneemanns Performance Up to and Including Her Limits (1973) und Yayoi Kusamas filmische Arbeiten der 1960er verweist. Gerade im für den „AbEx“ konstitutiven Gestischen, im Arbeiten mit den Händen, im Körpereinsatz, im Physischen sieht Sillman Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Kunstpraktiken von Frauen und Queers.

Faux Pas versammelt Sillmans assoziativ vorgehende und dabei äußerst unterhaltsame Textskizzen in Form von längeren Essays, Buch- und Ausstellungskritiken oder Briefen. Unterstützt wird die Sogwirkung von Faux Pas durch die oftmals humoristischen Text-,Unterbrechungen‘ in Gestalt von Diagrammen, Zeichnungen, Karikaturen o. ä. Zudem sind die Texte durchzogen von Bezügen zur politischen Gegenwart (etwa zu Trump, Black Lives Matter und Protesten der Trans-Bewegung) und ihrer Relevanz für die Kunst: „Can we really afford not to think about composition now, when we seem surrounded by the decomposition and deformation of bodies and social structures?“, fragt Sillman an einer Stelle (94).

Die während der Lektüre immer wieder eintretenden Momente der Desorientierung, die die zahlreichen Form- und Richtungswechsel von Sillmans Short Cuts evozieren, können als Feier des Fehltritts gelesen werden. Denn erst der „Faux Pas“, der „Fehltritt“, lässt Brüche in der kanonischen Kunstgeschichte erkennen und macht so eine kritische Auseinandersetzung mit Kunst überhaupt erst möglich: „there are good things beyond control.“ (137) Eine Erfahrung, die auch die geneigte Leserin dieses Buches macht.

Amy Sillman, Faux Pas. Selected Writings and Drawings, Paris: After 8 books, 2020.

Isabel Mehl ist freie Kunstkritikerin und Autorin. Sie hat über die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik und Lynne Tillmans fiktive Kunstkritikerin „Madame Realism“ an der Leuphana Universität Lüneburg promoviert und ist derzeit an der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt.

Image credit: After 8 books

Anmerkungen

[1]Original Gangster / Objekt und Gegenstand, angelehnt an das russische/Berliner Zine der 1920er Jahre Vešč Objet Gegenstand, hg. von Ilja Ehrenburg und El Lissitzky. In einem Zoom-Gespräch mit der Schriftstellerin Lynne Tillman, die das Vorwort zum Buch verfasste, beschreibt Sillman ihr Schreiben als „side-kick“ bzw. „third-wheel“ ihrer Malereipraxis; vgl. Öffentliches Zoom-Gespräch zwischen Lynne Tillman und Amy Sillman am 25.10.2020.
[2]Ebd.