Cookies disclaimer
Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to deliver better content and for statistical purposes. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device. I agree

APORIEN DER AUSWEGLOSIGKEIT Jens Kastner über „Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht“ von Geoffroy de Lagasnerie

Geoffroy de Lagasnerie widmet sich in seinen Texten zu ästhetischer und Gesellschaftstheorie politischen Fragen der französischen Öffentlichkeit. Als Entgegnung auf die vermeintliche Ermattung der Linken legt de Lagasnerie mit dem kürzlich erschienenen Essay Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht eine Abhandlung über die Effektivität von Gewalt und institutioneller Infiltration vor. Ein Programm mit vertrauter Kritik, das in Anbetracht zunehmender geopolitischer Krisen und schwindender Zuversicht des Aktivismus Interesse an der Diagnostik des Philosophen weckt. Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner ermittelt in seiner Besprechung, ob de Lagasneries Analyseansätze es vermögen, einen Weg durch den Dunstschleier politischer Ohnmacht aufzuzeigen, oder ob der bezweckte „Ausweg“ misslingt.

Die Krise der Linken ist oftmals konstatiert und vielgestaltig beschrieben worden. Auch der französische Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie stimmt mit seinem neuen Buch nun in den Chor der Krisendiagnostik ein. Er geht es zunächst sehr allgemein an. Traditionelle Formen des politischen Kampfes wie „Streik, Besetzung oder Demonstration“ (23) hätten sich von offensiven in defensive, nur mehr reagierende Instrumente verwandelt. Sie orientierten sich zu sehr an den Vorgaben der Herrschenden, richteten sich gegen angedrohte Verschlechterungen wie etwa Gesetzesvorhaben, die auf Deregulierung der Arbeitsmärkte, Privatisierungen, Verschärfungen der Migrations- und Asylgesetzgebungen usw. abzielten. In dieser reaktiven Logik gefangen, die immer nur oder vor allem auf die Herrschenden antworte, beschwörten die Linken, oder – wie de Lagasnerie sie nennt – die „progressiven Kräfte“ (12), nicht nur eine vermeintlich gerechte Vergangenheit, sondern legitimierten letztlich auch die Herrschenden als Gesprächspartner*innen und Agent*innen der gesellschaftlichen Entwicklungen.

Diese Kritik ist nicht neu. Sie lässt sich in vielen Verlautbarungen und Praxisformen der radikalen Linken jenseits der Sozialdemokratien seit Jahrzehnten finden. Auch ihnen ging es darum, „andere Machtnarrative [zu] entwickeln“ (29), auf die de Lagasnerie sich aber selten bezieht. Die Kritik noch ein weiteres Mal zu formulieren, ist deshalb nicht falsch. Das Programm des französischen Philosophen und Soziologen macht also neugierig.

Interessant ist dann etwa sein Vorschlag, die „Frage der Adressaten und der Ansprache“ (30) neu zu stellen. Er spricht sich dafür aus, nicht mit den Mächtigen zu diskutieren, sondern sich mit der Überzeugungsarbeit stattdessen an junge Menschen zu wenden. Sie seien schließlich die Träger*innen zukünftiger Politik. Deshalb dürfe die Linke auch die Universitäten als Institutionen nicht außer Acht lassen, die in hohem Maße „den Bereich des Sag- und Denkbaren“ (36) prägen.

Ein irgendwie konsistent und kohärent entwickelter Ausweg aus politischen Sackgassen, wie ihn der Titel des Buches vielleicht erwarten lässt, schließt sich daran allerdings nicht an. Es ist ein Essay und darf als solcher durchauseklektisch sein, in seinen Bezugnahmen und in seinen Kontextualisierungen. Dennoch ist es unbefriedigend, wenn der Autor dann vor allem zwei Strategien vorschlägt, die in einem extremen, doch bei ihm nicht reflektierten Spannungsverhältnis stehen und die beide für sich genommen eine Geschichte haben, die ebenso wenig aufgearbeitet wird. Was der Autor vorlegt, ist ein Plädoyer für mehr Gewalt bei direkten Aktionen einerseits und für die Infiltration von bestehenden Institutionen andererseits.

De Lagasneries unkritischer Aufruf zur Gewalt als politisches Mittel ist so überraschend wie ärgerlich. Er empfiehlt sie nicht bloß als Taktik, um aus der „politischen Ökonomie des Scheiterns“ (17) auszubrechen, sondern auch als eigentlich politische Aktion, die im Gegensatz zu der aus seiner Sicht lediglich theatralen Pseudopolitik von Demonstrationen, Happenings, Streiks und anderen Praktiken steht, die im Modus des „als ob“ verblieben. Dabei bezieht er sich auf den Philosophen Günter Anders, der 1987 ein Plädoyer gegen die spaßorientierten Happenings einerseits und die leidensorientierte Selbstaufopferung (Hungerstreiks etc.) andererseits für die Anwendung von Gewalt gegen die Herrschenden schrieb. Zu viel der Freude auf Demos und Aktionen diene vor allem dem eigenen, kollektiven Wohlbefinden und schade den Gegner*innen ebenso wenig wie die totale Hingabe an den Kampf, die den Maßstab für Erfolg mehr am eigenen Leid als am Schaden der anderen Seite ausrichte.

Die Gefährdung der gesamten Menschheit ist sicherlich ein Aspekt der Zeitdiagnose von Günther Anders, der aus der Ära der atomaren Bedrohung des Kalten Krieges in die Gegenwart der Klimakatastrophe übertragbar ist. Ob die politische Reaktion, die Anders angesichts dieser Gefahr präferierte, aus vergleichbar guten Gründen übernommen werden kann, ist allerdings mehr als fraglich. Geoffroy de Lagasnerie macht sich aber erst gar nicht die Mühe, sich diese Frage zu stellen. Er setzt Gewalt mit politischer Effektivität gleich, ja, verengt sogar den Politikbegriff selbst auf gewaltsame Praxis, wenn er schreibt, politisches Handeln bedeute, „denjenigen Leid zuzufügen, die für unser Leid verantwortlich sind“ (20). Von der leider in der Wirklichkeit häufig anzutreffenden Fragwürdigkeit eines klaren Grenzverlaufs zwischen „denen“ und „uns“ mal abgesehen, blendet diese Verengung auch jahrzehntelange Diskussionen über das Für und Wider emanzipatorisch intendierter Gewalt einfach aus: Gegen Gewalt als politisches Mittel sprachen zumindest mal die stets als Reaktion erfolgte Aufrüstung des Staates und die in Gang gesetzte Repressionsspirale (in der soziale Bewegungen meist den Kürzeren gezogen haben – von den enormen Opfern gar nicht erst zu reden), die Abschreckung potenzieller Verbündeter, die Gefährdung (mehr oder weniger) Unbeteiligter, die ethische und soziale Verrohung der Akteur*innen selbst usw.

Wenn de Lagasnerie später im Text doch die Repressionsspirale erwähnt und die Gefahr sieht, die politische Arbeit nur noch auf die Polizeigewalt zu fixieren und „unsere eigentlichen Ziele aus den Augen [zu] verlieren“ (55), bleibt das eine Warnung ohne Konsequenzen.

Für jemanden, der wie de Lagasnerie die rituellen Formen des Politischen bekämpfen möchte, ist diese Gewaltverherrlichung schon erstaunlich. Denn sie gehört wohl zu den ritualisiertesten Gesten von Radikalität, die sich denken lassen: In ihrer dualistischen Logik durchziehen sie die linken Debatten von den russischen Narodniki des 19. Jahrhunderts über den Antikolonialismus des späten Frantz Fanon bis hin zum insurrektionalistischen Anarchismus der Gegenwart. Dass Gewaltfreiheit immer noch so bedenkenlos mit Passivität und politischer Ineffektivität gleichgesetzt wird, dürfte Rosa Parks und Martin Luther King jr. vermutlich im Grabe rotieren lassen. Dem Antikolonialismus in Indien um M. K. Gandhi, der Anti-AKW-Bewegung und vielen anderen gewaltfreien Kämpfen wird es auch nicht ansatzweise gerecht.

Was nun die Unterwanderung der Institutionen betrifft, argumentiert de Lagasnerie nicht weniger unbedarft. Die Geschichte der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik oder die des Eurokommunismus im Italien der 1970er Jahre, der bundesdeutsche „Marsch durch die Institutionen“ nach 1968, auf all diese auf Infiltration und Nutzung der herrschenden Institutionen zielenden Konzepte und Praktiken geht er nicht ein. Er orientiert sich vielmehr an den Neoliberalen, die auf der Grundlage einer langfristigen Strategie die Institutionen des modernen Wohlfahrtsstaates von innen heraus untergraben haben. Dass es den Marktradikalen gelingen konnte, als Infiltrant*innen die Institutionen zu verändern, statt von ihnen verändert zu werden, ist allerdings nicht ohne die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu erklären: Die Bündnisse mit den Konservativen, das Aufgreifen freiheitlicher Impulse verschiedener Milieus und das Anknüpfen an und die Ausweitung einer an sozialer Gleichheit desinteressierten Logik der Kapitalakkumulation bleiben unerwähnt. Nur dadurch kann de Lagasnerie die Durchsetzung der neoliberalen Ideologie als „Geschichte einer erfolgreichen Subversion“ (73) interpretieren. Damit knüpft er auch an sein Buch über Michel Foucault an, dem er lobend nachgesagt hatte, eine von den Linken errichtete, „symbolische Barriere gegenüber der neoliberalen Tradition zerstört“ [1] zu haben (was auch infrage zu stellen wäre).

Neben den Neoliberalen taucht gegen Ende des Essays noch der LGBT-Aktivismus als eine derjenigen Bewegungen auf, „die ihre Kämpfe gewinnen oder sie bereits gewonnen haben“ (92) und an denen wir uns deshalb orientieren sollten. Haben sie ihre Ziele mit Gewalt durchgesetzt? Wohl kaum. War ihre Institutionenstrategie das Entscheidende? Wohl auch nur bedingt. De Lagasnerie aber setzt das Beispiel mit seinen eigenen Vorschlägen nicht in Beziehung, womit auch der Unterschied zwischen LGBT-Bewegung und Neoliberalen im Dunkeln verbleibt.

Gegen Ende des Buches fällt ihm noch eine dritte Strategie ein, die mit den vorherigen nur die Unausgegorenheit teilt: Nicht allein eine politische Strategie solle es sein, vielmehr solle sich die Linke, wie früher in manch kommunistisch orientierten Arbeiter*innenmilieus, wieder im „alltäglichen Leben“ (80) verankern. Vielleicht müssen wir, meint de Lagasnerie dann, „eine Hegemonie im praktischen, alltäglichen, materiellen Bereich anstreben“ (81).

Ob die Alltagshegemonie sich als Ziel aber mit der angestrebten Eroberung der Institutionen und mit dem Gewaltaufruf verbinden ließe, und falls ja, wie – das diskutiert de Lagasnerie an keiner Stelle. Vielleicht ist das dann auch der Punkt, an dem die ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser wirren Anhäufung unsystematischer Gedanken einfach abgebrochen und das Pamphlet als missglückte Seminararbeit an den Autoren zurückgegeben werden sollte. Das sich heute ein Verlag findet, der diesen Text gedruckt hat, lässt sich wohl unter anderem auf den Windschatten Didier Eribons zurückführen, in und mit dem de Lagasnerie zuweilen auf Lesetour unterwegs war. Für die Überwindung der politischen Ohnmacht, worin auch immer sie genau bestehen mag, leistet de Lagasneries oberflächlicher Essay jedenfalls keinen brauchbaren Beitrag.

Geoffroy de Lagasnerie, Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht [2020], Wien: Passagen Verlag 2023, 104 Seiten.

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker. Er unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste in Wien und schreibt für diverse Zeitungen und Zeitschriften zu Kultur- und Sozialtheorien, Kunstkritik, Geschichte und Theorie sozialer Bewegungen, Anarchismus und dekolonialistischer Theorie aus Lateinamerika.

Image credit: 1. FEDRA Studio, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en; 2. © Passagen Verlag; 3. Courtesy of the author

ANMERKUNGEN

[1]Geoffroy de Lagasnerie, Michel Foucaults letzte Lektion. Über Neoliberalismus, Theorie und Politik, [2012], Wien: Passagen Verlag, 2018, S. 26.