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Jenseits der ästhetischen Theorie. Roger Behrens über "Anywhere or Not at All" von Peter Osborne

The Atlas Group in collaboration with Walid Raad, "Notebook volume 38_Already been in a Lake of Fire", 1999-2002

The Atlas Group in collaboration with Walid Raad, "Notebook volume 38_Already been in a Lake of Fire", 1999-2002

Die Grundthese von Peter Osbornes fulminanter Großstudie ›Anywhere or Not at All‹, in der er nicht weniger unternimmt als eine, so der Untertitel des Buches, »Philosophie der Gegenwartskunst« zu entfalten, ist klar: »Contemporary art is postconceptual art«. [1] Beziehungsweise: »Contemporary art, in the critical sense in which the concept has been constructed in this book, is a geo-politically reflexive art of the historical present of a postconceptual kind.« [2]

Dabei ist dieses »Postkonzeptuelle« weitaus mehr als nur der kleinste gemeinsame Nenner von Philosophie und Gegenwartskunst: Es geht, dialektisch vermittelt, um eine Philosophie der Gegenwartskunst, wie auch um eine aus der Gegenwartskunst sich bestimmende Philosophie. Überdies wird hiermit nicht einfach nur eine sei’s philosophische, sei’s kunstgeschichtliche Lücke geschlossen, denn – und das ist spätestens nach G. W. F. Hegel und Karl Marx in der Tradition einer kritischen Theorie klar, in der sich durchaus auch Osbornes verorten lässt – »Philosophie« ebenso wie »Kunst« stehen gleichermaßen infrage und unklar ist deshalb, ob in Hinblick auf Gegenwart beziehungsweise Gegenwärtigkeit überhaupt noch »Philosophie« und »Kunst« aufeinander in gegenseitiger Rettungsabsicht wiewohl auch, prekärer und radikaler, Rettungsnotwendigkeit beziehbar sind, wie es etwa Theodor W. Adorno in seiner ›Ästhetischen Theorie‹ noch für die Moderne postulieren konnte (bemerkenswerter Weise ohne exemplarisch auf die künstlerische Moderne allzu starken Bezug zu nehmen), oder wie es Jean-François Lyotard dann für die postmoderne Ästhetik entwarf (auch hier bemerkenswerter Weise kaum mit Beispielsbezug auf postmoderne Kunst). [3] 

Gleichwohl gibt es aber – und zwar ungeachtet der kritischen Theorie der Gesellschaft, die Philosophie wie Kunst grundsätzlich problematisch begreift – Diskurse, nämlich unterschiedlichste Diskurse der Philosophie, der Kunst, zudem der Politik, der Gesellschaft etc.; diese Diskurse sind es, die Osborne sich zum Ausgangs- und Ansatzpunkt seiner Rekonstruktion einer Philosophie der Gegenwartskunst nimmt und worauf er seine kritische Frage orientiert: »What kind of discourse is required to render the idea of contemporary art critically intelligible?« [4]

Insofern geht es Osborne nicht nur um eine Philosophie der Gegenwartskunst, sondern um eine Philosophie zur Möglichkeit von Gegenwartskunst, wie auch um die aus der Gegenwartskunst sich bestimmende Möglichkeit der Philosophie. Und diese Möglichkeit wiederum ist über »the postconceptual« zu erschließen, nämlich – in einem paradox anmutenden Doppelschritt [5] einerseits als nicht-ästhetisch bestimmte Kunst, die sich aber anderseits gleichsam philosophisch-postkonzeptionell ontologisch erklärt.

Osborne definiert, fast schon lapidar: »By ›postconceptual‹ art, then I understand an art premised on the complex historical experience and critical legacy of conceptual art, broadly construed, which registers its fundamental mutation of the ontology of the artwork.« [6] – »The postconceptual« ermöglicht es Osborne, von einer »ontology of the artwork« in zwar origineller, jedoch begrifflich nicht sauberen, »philosophischen« Weise zu sprechen: »Ontologie« bezeichnet das, was Kunst konstituiert, also Kunst »Kunst« sein lässt, jenseits der Differenzen von Wesen und Erscheinung, Essenz und Akzidenz, »Stoff« und »Form« oder »Stoff« und »Geist«. Dabei untersucht Osborne – in Stichworten – »mediations after mediums«, [7] dann das Problem der Materialität; [8] im Kapitel 5 diskutiert Osborne schließlich die »photographic ontology« als eine »ontology of the artwork«. [9]

The Atlas Group in collaboration with Walid Raad, "Notebook volume 38_Already been in a Lake of Fire", 1999-2002

The Atlas Group in collaboration with Walid Raad, "Notebook volume 38_Already been in a Lake of Fire", 1999-2002

Mit »Ontologie« bezeichnet Osborne demnach das, was zwischen Vermittlung und Material, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Digitalen und dem Realen, dem Abstrakten und Konkreten etc. changiert. Genau das führt aber, weil es postkonzeptuell bleibt, zur Gegenwartskunst selbst beziehungsweise der dann ontologisch nicht einholbaren Frage, was die Gegenwart zur Gegenwart macht (nicht nur in Bezug auf Kunst); und Osbornes Antwort: »›Contemporary‹ is, at base, a critical and therefore a selective concept: it promotes and it excludes. […] This concept must be constructed rather than merely discovered.« [10]

Durchaus hätte Osbornes Buch also auch ›The Ontology of postconceptual Art‹ heißen können. [11] So wäre Osbornes Konsequenz auch nachvollziehbarer, in der »ontology of the artwork«, vitalistisch überhöht, schließlich sogar eine Politik zu entdecken: »To the extent that art lives, art space is project space, a space of presentation of possibilities within a historically rapidly shifting matrix of places, non-places and flows, their combinatory articulations and effects.« [12]

»›Anywhere or Not at All‹ maps out the conceptual space for an art that is both critical and contemporary in the era of global capitalism«, heißt es auf dem Buchrücken. Und Osborne löst das zumindest proklamativ mit seinem Schlusssatz ein: »At its best, contemporary art models  experimental practices of negation that puncture horizons of expectation.« [13] – »Critically intelligible«, wie Osborne seinen Entwurf mit Kant situiert, wird das mithin nicht durch die Stringenz philosophischer Kritik, sondern durch genau die Philosophie der Gegenwartskunst, die Osborne aus der postkonzeptuellen Konzeptionalität der Kunst selbst gewinnt; und dies ist nur exemplarisch möglich: »A critical discourse of contemporary art can only develop through the interpretative confrontation with individual works.« [14] Anders gesagt: die Stringenz gewinnt Osborne in seiner philosophischen Form der Darstellung aus der Gegenwartskunst, die sich eben nicht ohne weiteres darstellen lässt; die Philosophie der Gegenwartskunst begründet sich also jenseits einer ästhetischen Theorie. Das führt zurück zur Romantik, und damit zu Osbornes  erstem Kapitel (über u. a. The Atlas Group und Sol LeWitt), wo er im Rekurs auf den Frühromantiker Friedrich Schlegel ausführt, dass das Problem nicht das auf das Geschmacksurteil bezogene Ästhetische sei, sondern dessen Verselbstständigung zum Ästhetizismus; »postkonzeptuelle Kunst« könne dagegen durch ihren »Anti-Ästhetizismus« charakterisiert werden. [15]

Zum Schluss berührt das wieder die Ausgangsthese, dass Gegenwartskunst »postconceptual art« sei. Das rekurriert weniger auf das produktionsmaterialistische Theorem vom Ende der Kunst, [16] vielmehr geht es Osborne, in Bezug auf »the contemporary in ›contemporary art«, um die Frage »of the definition of the qualitative novelty of this historical present – that is, the question of the new – and its constant reforming, reframing and reconfiguration of the political meaning and possibilities of social subjects.« [17] Ganz im Sinne Martin Heideggers Fundamentalontologie kann diese Frage aber nicht beantwortet, sondern erst einmal nur expliziert werden. [18] Sie ist selbst Teil der »Fiction of the Contemporary«. [19] Hier wie insgesamt argumentiert Osborne für einen Begriff des Postkonzeptuellen mit einem emphatischen »Post-«; es geht also nicht einfach um die Kunst zeitlich nach der Konzeptkunst, sondern um eine Kunst, die das, was die Konzeptkunst schon gegen und innerhalb der Moderne ins Spiel brachte, inkorporiert hat und als solches transzendiert. [20] – Im Übrigen erklärt sich damit bündig der Titel, auch als Volte eines postkonzeptuellen Konzepts: »Anywhere or Not at All.«

 

Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London und New York: Verso, 2013.



[1]         Vgl. Peter Osborne, "Contemporary art is post-conceptual art", Vortrag: Villa Sucota, Como (Italien), 2010. – http://bit.ly/A4EVQJ (13. Juli 2013).

[2]          Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York 2013, S. 176.

[3]          Dass Adorno im Sinne einer materialistischen Ästhetik einen Schlusspunkt setzt, ist in der kritischen Theorie der Kunst in den 1970er Jahren radikalisiert worden (Werckmeister, Scharang, Gorsen, Dischner u. a.). In den 1980er und frühen 1990er Jahren hat vor allem Frederic Jameson die Theoreme der Postmoderne im Sinne einer materialistischen Ästhetik kritisch-theoretisch reflektiert. Nichtsdestotrotz werden seit den 1990er Jahren aber auch in der Auseinandersetzung mit den Kunstentwicklungen die Möglichkeiten philosophischer Ästhetik wieder diskutiert (vgl. die Arbeiten von Christoph Menke und vor allem, in Texte zur Kunst, Juliane Rebentisch).

[4]          Osborne, Anywhere or Not at All, a. a. O., S. 2.

[5]          Osborne spricht von einer »constellation« mit der Kraft, »any simply binary dialectical relations« zu brechen; vgl. ebd., S. 184.

[6]          Ebd., S. 48.

[7]          Vgl. ebd., Kapitel 3, S. 83 ff.

[8]          Vgl. ebd., Kapitel 4, Abschnitt: »Ontology of materializations: non-site«, S. 108 ff.

[9]          Vgl. ebd., S. 117 ff.

[10]       Ebd., S. 2 f.

[11]       Eine Formel, die Osborne selbst benutzt. Vgl. ebd., S. 97.

[12]        Ebd., S. 175.

[13]       Ebd., S. 211.

[14]       Ebd., S. 3.

[15]       Ebd., S. 38 ff., S. 47. Osborne macht diese Konfrontation von Ästhetik versus Kunst bereits für die Konzeptkunst geltend, spricht von einer »general dialectic of the aesthetic and the conceptual«, nennt gleichwohl »aesthetic« und »conceptual« »oppositional terms« (vgl. S. 109).

[16]       Die Formulierungen bei Hegel und Marx sind so berühmt wie berüchtigt.

[17]       Ebd., S. 195.

[18]       Vgl. Martin Heidegger, ›Sein und Zeit‹, Tübingen 1967, S. 2 ff., S. 436 f.

[19]       Titel und Thema des 1. Kapitels, in: Osborne, Anywhere or Not at All, a. a. O., S. 15 ff.

[20]      Das hat seine Analogie zum Postmoderne-Begriff wie ihn etwa Jean-François Lyotard benutzt hat in: "Die Moderne redigieren", in: Das Inhumane, Wien 1989, Lyotard, S. 51 ff.