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MNEMOSYNE IN NEON Julia Modes über Austin Martin White in der Galerie Capitain Petzel, Berlin

„Austin Martin White: Last Dance“, Galerie Capitain Petzel, Berlin, 2022, Ausstellungsansicht

„Austin Martin White: Last Dance“, Galerie Capitain Petzel, Berlin, 2022, Ausstellungsansicht

Lassen sich koloniale Gewalt und gegenwärtige Clubkultur gleichzeitig unter einem Galeriedach verhandeln? Mit der Gegenüberstellung zweier Sujets, die in ihrer Kombination zunächst irritieren, thematisiert die Ausstellung „The Last Dance“ von Austin Martin White laut Pressetext den Eskapismus der westlichen Welt. So beginnt auch die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte nur zögerlich, wie die Kunsthistorikerin Julia Modes ihr ihrer Besprechung von Whites Berliner Soloschau bemerkt. In den Exponaten eignet sich der US-amerikanische Künstler das Genre der Historienmalerei mit einem innovativen technischen Verfahren an, das metaphorische Bezüge zu den geschichtlichen Szenen herstellt.

Der Torso eines lediglich mit einem Lendenschurz bekleideten, muskelbepackten Mannes ist von einer überlangen Schlange umwickelt. Mit seiner Rechten reißt der Mann das Tier von sich. Sein Körper ist dramatisch nach hinten gebeugt, sodass sein in den Nacken geworfener Kopf sich vis-à-vis mit dem der Schlange befindet. Dieser jedoch ist nicht der eines Tieres, sondern ein Menschenkopf mit weit aufgerissenem Mund, spitzer Nase und Bügelkrone. Ein Schriftzug unter der Szene in strahlend orangeroten Lettern wirft den Anker der historischen Referenz, der das Werk seinen Titel verdankt – In the rubber coils. Bezug genommen wird auf eine am 28. November 1906 im britischen Satiremagazin Punch veröffentlichte Karikatur von Edward Linley Sambourne, die König Leopold II. von Belgien als Würgeschlange darstellt, um auf die gewaltsame Kolonialherrschaft Belgiens über den Kongo anzuspielen.

In the rubber coils (2020) bildet den Auftakt der Ausstellung „Last Dance“ des 1984 geborenen US-amerikanischen Künstlers Austin Martin White in der Galerie Capitain Petzel. Das Werk hängt gleich am Eingang des 1964 erbauten gläsernen Kubus in der Berliner Karl-Marx-Allee. White hat das Motiv nicht nur von Papier auf Leinwand transferiert und dem Grisaille Farbe hinzugefügt. Bei näherer Betrachtung wird die komplexe Technik seines Farbauftrags deutlich: Pigmentiertes Gummi wurde mithilfe von Schablonen von hinten durch ein Nylonnetz gedrückt, sodass kleine Farbwürmer in gleichmäßigem Raster und unterschiedlicher Länge aus der Bildfläche quellen. Man möchte nähertreten und das ungewöhnliche Material berühren, um zu überprüfen, ob die fransenartig hervortretende Farbe bereits trocken ist oder man sie wie Zahnpasta verschmieren kann. Der Werkstoff – Gummi – liefert eine weitere Bedeutungsebene, denn Whites Gemälde thematisiert die Ausbeutung der kongolesischen Bevölkerung auf den Kautschukplantagen unter belgischer Krone.

Austin Martin White, „Untitled (Massacre des Blancs par les Noirs)“, 2020

Austin Martin White, „Untitled (Massacre des Blancs par les Noirs)“, 2020

Whites erste größere Einzelausstellung gliedert sich in drei räumlich getrennte Themengruppen. Im lichtdurchfluteten Erdgeschoss, das durch die Glasfassade vom breiten Fußgängerweg aus einsehbar ist, hängt wenige Meter von In the rubber coils entfernt ein zweites Gemälde, dessen ikonografische Vorlage durch den Titel ebenso leicht auffindbar ist. Untitled (Massacre des Blancs par les Noirs) (2020) zeigt auf bordeauxrotem Grund die Silhouetten einer Personengruppe mit schwarzen, gelben, roten und orangefarbenen Umrisslinien in tropischer Landschaft; auch hier bestehen die Linien aus Gummi, das durch ein auf einen Keilrahmen gespanntes und mit Sackleinen hinterlegtes Netz gedrückt wurde. Reproduziert wird hier ein Kupferstich von Martinet aus dem Jahr 1833, der den Sklavenaufstand in Haiti 40 Jahre zuvor illustriert. [1] Die Bildkomposition hat White bis ins Detail übernommen. Während die Gesichter infolge seiner speziellen Maltechnik verwischt und nur noch schwer zu erkennen sind, treten die Waffen umso stärker hervor. Axt und Keule sind zum Schlag erhoben; es blitzen zahlreiche Dolche auf, bereit zum Stich. Evoziert wird eine Stimmung von Gewalt und Unbehagen. Der Titel beschreibt ein Massaker historischen Ausmaßes, das zum Paradebeispiel wurde: den erfolgreichen Sklavenaufstand, der 1804 zur Ausrufung der ersten Republik führte, die von Schwarzen gegründet wurde. Hier steht das Gummi, das White als Material wählte, nicht mehr im direkten Zusammenhang mit der lokalen Kolonialgeschichte, da versklavte Menschen auf Haiti hauptsächlich Kaffee, Kakao und Zucker anbauten. Gegenüber dem Werk Untitled (Massacre des Blancs par les Noirs), an der Rückwand der Galerie, hängt ein weiteres Bild mit eindeutiger historischer Referenz; es verhandelt den Tod Captain James Cooks. Beide Arbeiten bilden mit ihrer ähnlichen Farbgebung eine Art visuelle Brücke, einen Durchgang, der zu den restlichen Gemälden des Erdgeschosses führt. Ihre Größe von bis zu vier Quadratmetern in Verbindung mit ihrer thematischen Setzung kennzeichnen sie als Historienbilder. Die Verwendung von Gummi im Zusammenhang mit dem Sujet der kolonialen Ausbeutung erweitert das Genre durch die materielle Metapher.

Austin Martin White, „fireatthechurchofclubs (Bye Bye Berghain)“, 2022

Austin Martin White, „fireatthechurchofclubs (Bye Bye Berghain)“, 2022

In der unteren Etage greifen die Exponate die im Titel erwähnte Partystimmung auf. Bereits von der Treppe aus erblickt man die Arbeit fireatthechurchofclubs (Bye Bye Berghain) (2022). Innerhalb des Formats von 140 × 203 Zentimetern tanzen Personen vor einem brennenden Bunker. Grelle Farben wie Neongelb, Lila und Pink brachte White mit einer besonderen Maltechnik auf das Papier: Mithilfe einer Vinylschneidemaschine, deren Klinge er durch verschiedenfarbige Filzstifte ersetzte, zeichnete er filigrane, figurale Umrisslinien und feinste Ringstrukturen. Die mechanische Machart untermauert die Anspielung auf elektronische Musik und steht durch ihr technisches Schema im Kontrast zu der ekstatischen Entfesselung der tanzenden Körper, was motivisch und materiell überzeugt. Die Kombination mit den Bildern kolonialer Thematik im Erdgeschoss wirkt zunächst jedoch makaber. Dieser Eindruck einer unglücklichen Themenzusammenstellung wird von dem von Lucy Hunter verfassten Pressetext bekräftigt. Im zweiten Satz zählt Hunter Kreditkartenschulden, Miete, Waldbrände und Massenschießereien als Beispiele dafür auf, warum „einfach alles ein bisschen zu viel [ist]“, um anschließend die Frage zu stellen: „Was tust du, wenn du das Gefühl hast, dass deine Welt untergeht? Du feierst.“ Unklar bleibt, was „die Euphorie am Ende der Geschichte“ angesichts des historischen Referenzrahmens einiger Werke sein soll, inwiefern White „koloniale Werkzeuge [zweckentfremdet], um eine emanzipatorische Gegenwart zu entwerfen“ oder was genau mit dem mehrfach vonstattengehenden Weltuntergang gemeint ist. Feiern scheint Hunter zufolge für ein Verdrängen der Realität zu stehen. Im Gegensatz zum Eskapismus, auf den die Clubkultur im Pressetext reduziert wird, fordern die kolonialen Inhalte, die die eingangs beschriebenen Werke verhandeln, eine wache Auseinandersetzung ein. Letztere liefert White in der ersten Etage, deren Galerie den Blick ins Erdgeschoss freigibt.

Die Arbeiten der Werkgruppe Fordlandia (2021/22), die in der oberen Etage ausgestellt sind, hat White in einem ähnlichen technischen Verfahren gefertigt wie fireatthechurchofclubs. Thema der Serie ist eine in den 1920er Jahren vom US-amerikanischen Autohersteller Henry Ford errichtete Stadt im Amazonasgebiet Brasiliens. Zur Herstellung von Autoreifen sollte eine Stadt mit Kautschukplantage im Urwald am Rio Tapajós entstehen. Das Projekt, das nebenbei die Verbreitung US-amerikanischer Werte und Kultur vorantreiben sollte, scheiterte jedoch. Kein einziger Autoreifen wurde jemals aus dem dort angebauten Kautschuk gefertigt. Die Werkgruppe, die durch ihre Verbindung zu Whites Heimatstadt, der „Motorcity“ Detroit, auch persönliche Bezugspunkte bietet, schlägt den Bogen zurück zum Material Gummi und spiegelt thematisch den Zeitgeist wider. Denn die koloniale Geschäftsstrategie Fords erregte in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Aufmerksamkeit. Bereits 2009 schrieb Greg Grandin das Sachbuch Fordlandia. The Rise and Fall of Henry Ford's Forgotten Jungle City. Werner Herzog arbeitet derzeit an einer Verfilmung des Buchs in Form einer fiktionalen Serie, die im kommenden Jahr erscheinen soll. [2] Die portugiesische Filmemacherin Susana de Sousa Dias griff die Geschichte der Amazonasstadt in ihrem Dokumentarfilm Fordlandia Malaise auf, der 2019 auf der Berlinale uraufgeführt wurde. [3]

Austin Martin White, „Ouch! (fordlandia)“, 2022

Austin Martin White, „Ouch! (fordlandia)“, 2022

Auch die kolonialen Referenzen im Erdgeschoss der Ausstellung haben mehr Bezug zu Berlin, als es zunächst den Anschein hat: Der Kongo, um den es in dem besprochenen Werk geht, wurde dem Belgischen König Leopold II. im Rahmen der Berliner Konferenz (1884/85) zugeteilt. Die koloniale Vergangenheit Deutschlands wiederum wurde in den letzten Jahren prominent am Thema der Restitution insbesondere im Hinblick auf die sogenannten Benin-Bronzen im keine zwei Kilometer westlich der Galerie neu eröffneten Humboldt Forum ausgetragen. Und während das Denkmal des deutschen Kolonialoffiziers Hermann von Wissmann vor der Universität Hamburg zwar bereits in den 1960er Jahren gestürzt wurde, erfolgte die Umwidmung der nach ihm benannten Berliner Straße in Lucy-Lameck-Straße erst kürzlich. [4] Der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah thematisiert ebendiese deutsche koloniale Vergangenheit, inklusive Wissmann, in seinem Buch Afterlives. Während der Laufzeit von Whites Berliner Ausstellung war er für Gespräch und Lesung der jüngst erschienenen deutschen Übersetzung Gast im Haus der Kulturen der Welt.

Whites Werke legen den Finger in diese jüngst aufgekratzten Wunden der Vergangenheit. Sie spielen mit Referenzen, rufen Erinnerungen wach und verweilen in diesen. Doch ist dieses Erinnerungsangebot nicht nur thematisch aktuell und relevant, sondern auch ästhetisch originell und interessant. Technisch lotet White mit seinen mechanischen Verfahren die materiellen Grenzen der Malerei aus, erweitert das klassische Genre des Historienbilds und eröffnet somit neue Zugänge zu bekannten Themen. Setzt man Whites Ausstellung „Last Dance“ mit dem Titel des von Hans Steinhoff 1938 produzierten Spielfilms Tanz auf dem Vulkan in Bezug, so erlangt sie eine neue Logik. Der 1830, im Jahr der Julirevolution in Frankreich von dem französischen Staatsmann Narcisse-Achille de Salvandy geprägte Ausspruch „Nous dansons sur un volcan“ (Wir tanzen auf einem Vulkan) steht im Licht politischer Umstürze. [5] Heinrich Heine griff den Spruch in seinen Lutetia-Berichten 1842 auf und fügte hinzu: „Wir tanzen hier auf einem Vulkan – aber wir tanzen.“ [6] In Whites Ausstellung „Last Dance“ brodelt es oberirdisch, gesellschaftspolitische Umbrüche werden durch den kulturellen Diskurs, in dem sie stehen, bereits antizipiert. Getanzt wird wie so häufig im Keller.

„Austin Martin White: Last Dance“, Galerie Capitain Petzel, Berlin, 16. September bis 16. Oktober 2022.

Julia Modes ist Kunsthistorikerin und promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Université de Fribourg zur Gewalt im Œuvre von Cy Twombly.

Image credit: © Austin Martin White, courtesy of Capitain Petzel, photos Gunter Lepkowski

ANMERKUNGEN

[1]Abel Joseph Hugo, France Militaire. Histoire des Armées Françaises de Terre et de Mer de 1792 a 1833, Bd. I, Paris 1833, o. S.
[2]Oliver Kaever, „Fordlandia. Werner Herzog will seine erste Serie drehen“ , in: Spiegel Online, 15.06.2018.
[3]Weblink.
[4]Die tansanische Politikerin Lucy Selina Lameck Somi hatte sich zeitlebens gegen die deutsche Kolonialherrschaft über Tansania eingesetzt.
[5]Franz Lipperheide, Spruchwörterbuch, Berlin 1907, S. 844.
[6]Heinrich Heine, „Lutetia, XLII“, 7.2.1842, in: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1988, S. 154.