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DIE JETZTZEIT MIGRANTISCHER ARBEITSKÄMPFE Julian Volz über Bouchra Khalili im MACBA, Barcelona

„Bouchra Khalili: Between Circles and Constellations“, MACBA, Barcelona, 2023, Ausstellungsansicht

„Bouchra Khalili: Between Circles and Constellations“, MACBA, Barcelona, 2023, Ausstellungsansicht

Die 1975 in Casablanca geborene Künstlerin Bouchra Khalili bedient sich filmischen Methoden des Sammelns und Montierens, um historisch festgeschriebene, geopolitische Narrative und nationalstaatliche Strukturen zu hinterfragen. Im Fokus ihrer Videoarbeiten und Installationen stehen widerständige Bewegungen und marginalisierte Individuen, deren Geschichten Khalili so inszeniert, dass verdrängte Wahrheiten der globalisierten Welt sichtbar werden. Eine aktuelle Ausstellung in Barcelona versammelt eine Auswahl jüngerer Werke Khalilis, die auf die Macht politischer Konstellationen verweisen – aber auch, wie Julian Volz hier betont, auf die Bedeutung konstellativer Ansätze in der Kunst und Kulturtheorie. Mit Blick auf die spezifische Ausstellungssituation im MACBA hebt Volz zudem Potentiale des Konstellativen für die kuratorische Praxis hervor.

In ihrer aktuellen Ausstellung „Between Circles and Constellations“ macht Bouchra Khalili einen für ihre Arbeit zentralen Ansatz im Titel zum Programm. Im Kontext der Astronomie beschreibt der Begriff der Konstellation eine vorübergehende Stellung einzelner Sterne zueinander, die ein Bild, oder – in anderen Worten – ein neues Ganzes hervorbringen. Auf diesen eher wörtlichen Sinn bezieht sich Khalili etwa in der Arbeit The Constellation Series (2011). Hier handelt es sich um eine Serie von acht Drucken, die Fluchtrouten in Form von Sternbildern zeigt: Khalili gibt die Strecken als gestrichelte Linien vor dunkelblauem Grund wieder, die Städte als Fixsterne. Der ebenfalls ausgestellte Siebdruck The Archipelago aus dem Werkkomplex Foreign Office (2015) geht auf ein ähnliches Vorgehen zurück. Das Bild basiert auf einem Stadtplan Algiers, von dem die Formen einzelner, weniger Gebäude freigestellt sind, indem die restliche Geografie der Stadt von einer hellblauen Farbe überdeckt ist. Khalili abstrahiert die Bauten so stark von der Stadt, bis sie wie eine Inselgruppe wirken. Es sind Häuser, in denen zum Ende der 1960er Jahre unter anderem antikoloniale Befreiungsbewegungen aus der ganzen Welt Zuflucht fanden und dort eigene Büros betrieben. Mit diesem Druck hebt Khalili eine historische Konstellation hervor, in der Angehörige von Bewegungen wie der PAIGC („Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde“) unter Amílcar Cabral, die Black Panthers unter Eldridge Cleaver oder auch die provisorische Regierung Südvietnams sich in der Stadt aufhielten.

„Bouchra Khalili: Between Circles and Constellations“, MACBA, Barcelona, 2023, Ausstellungsansicht

„Bouchra Khalili: Between Circles and Constellations“, MACBA, Barcelona, 2023, Ausstellungsansicht

Als Methode für ein experimentelles und kritisches Denken wurde die Konstellation vor allem von Walter Benjamin fruchtbar gemacht. Mit der Arbeit an seinem Passagen-Werk wandte er sie konkret auf das Paris des 19. Jahrhunderts an. Benjamins Vorgehen beruhte auf einer umfangreichen Sammlungstätigkeit von Exzerpten, Notizen, Beobachtungen, Aphorismen und Anekdoten, die dann zu dem niemals vollendeten Werk hätten montiert werden sollen, um ein Bild zu erzeugen, in dem „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“. [1] Wesentlich für eine konstellative Methode ist demnach, dass das historische Material im Zusammenhang mit der Jetztzeit, mit aktuellen politischen und sozialen Problemen vermittelt und aktualisiert wird. Es sind nun genau diese Aspekte des umfangreichen Sammelns, Montierens und experimentellen Vermittelns des Materials mit der Gegenwart, die Khalili in ihren Videoarbeiten produktiv anwendet. Obwohl sich die Künstlerin meist mit politischen Kämpfen der 1960er und 70er Jahre beschäftigt, wirken ihre Filme durch diese konstellativen Aktualisierungen niemals nostalgisch.

Das gilt auch für Khalilis neue Arbeit The Circle (2023), die an ihre Forschung zur Geschichte der Mouvement des travailleurs arabes (MTA, Bewegung der arabischen Arbeiter) und der eng mit ihr verbundenen Theatergruppen anknüpft, die im Frankreich der 1970er Jahre aktiv waren. Eine dieser Gruppen war Al Assifa (The Tempest), die bereits in Khalilis Videoinstallation The Tempest Society von 2017 eine zentrale Rolle spielte. In dem Video eignen sich die drei Protagonist*innen Elias, Giannis und Isavella, die sich in den Protesten am Athener Syntagmaplatz von 2011 und 2015 gegen die von der EU aufgezwungene Austeritätspolitik engagierten, die von Al Assifa entwickelten Theaterpraxen an. Die Pariser Polit-Theatergruppe wollte damals die alltäglichen Kämpfe der Betroffenen in Form einer „theatralischen Zeitung“ auf die Bühne bringen. Nun nimmt Khalili mit The Circle und ihren beiden Protagonist*innen Mia und Lucas eine abermalige Aktualisierung dieser Praktiken vor, legt den Fokus dabei auf eine weitere Gruppe aus dem Umfeld der Bewegung: Als El Halaka war diese im südfranzösischen Aix-en-Provence aktiv, ins Deutsche übersetzt bedeutet ihr Name so viel wie der Kreis oder auch die Versammlung. In dem Zweikanalvideo zu The Circle schafft Khalili eine Konstellation, die mindestens drei Zeitschichten in Relation setzt. In einem Prolog bringt sie die Protagonist*innen aus The Tempest Society mit Mia und Lucas aus Marseille zusammen. Erstere geben letzteren dabei methodische Hinweise zum Bilden von Konstellationen: „We started from us. Then we moved on quite simply. Al Assifa – Paris – 1973; Us – Athens – 2016. What happened there and then? What is happening here and now? What is this continuous chain of resistance across time, space and people? You see. That’s what we did. We asked questions in relation to our positions.“

Bouchra Khalili, „Foreign Office“, 2015, Videostill

Bouchra Khalili, „Foreign Office“, 2015, Videostill

Auf den beiden Bildschirmen der Filminstallation entfaltet sich nach diesem Prolog sodann ein Forschungsprozess, der unter der Leitfrage steht, mit welchen Formen die MTA es vermochte, ihren Kämpfen Sichtbarkeit zu verschaffen. Wir sehen Mia und Lucas dabei zu, wie sie Handyvideos von alten Flyern aufnehmen, mit Forscher*innen reden, gemeinsam Schallplatten hören, die Chronologie der Kämpfe rekonstruieren oder wie sie versuchen, mit Djellali Kamal, dem fiktiven Präsidentschaftskandidaten der MTA von 1974, in Kontakt zu treten. Die Aneignung des historischen Materials geschieht in dem Film prozesshaft vor der Kamera. Dadurch werden die Betrachter*innen bei Khalili nicht passiviert, sondern in den Denkprozess miteinbezogen. Dass dies so gut gelingt, dazu trägt auch die von der Künstlerin erstmals angewendete Zweikanal-Videotechnik bei. Bevor ein historisches Bild auf einem der Bildschirme erscheint, muss es erst per Handy aufgenommen werden. Manchmal sieht man dann beides zusammen: den Prozess des Aufnehmens und das direkt eingeblendete Quellenmaterial. Ein Bild ist bei Khalili niemals unmittelbar gegeben, sondern es muss erst in einem Arbeitsprozess wieder angeeignet und konstellativ ins Jetzt übersetzt werden. [2] Unterbrochen werden die Protagonist*innen von Reenactments historischer Stücke von El Halaka und Al Assifa durch noch lebende ehemalige Mitglieder dieser Gruppen – ein prozesshaftes Forschen, an dem die Zuschauenden teilhaben, das Kurzschließen historischer Materialien mit der Jetztzeit, vielfache Brüche in einem unabgeschlossenen Erzählen und der Rückgriff auf ständig wechselnde Bilder, die sich aus dem Bilden von Konstellationen ergeben. Dieses Vorgehen erinnert auch an den politischen Essayfilm der 1970er Jahre, der mit Namen wie Chris Marker, Straub/Huillet oder Engström/Theuring [3] verbunden ist und dessen Strategien Khalili nun mit ihrer konstellativen Methode aktualisiert.

Bouchra Khalili, „Twenty-Two Hours“, 2018

Bouchra Khalili, „Twenty-Two Hours“, 2018

Während in Khalilis Videos die Konstellationen vor allem in ihrer zeitlichen Dimension zum Tragen kommt, tritt in der Ausstellungssituation noch ein dritter Aspekt des Konstellativen zutage. Wie Beatrice von Bismarck betont, birgt das raum-zeitliche Gefüge besondere Potenziale für konstellative Ansätze: „Übertragen auf den Bereich des Kuratorischen spiegeln sich darin [in der Konstellation] sowohl die grundsätzliche Relationalität des kuratorischen Zusammenhangs als auch die in Raum und Zeit dynamischen, veränderbaren und ephemeren Verhältnisse zwischen den einzelnen teilnehmenden Elementen.“ [4] Der räumliche Aspekt sorgt dafür, dass auch die einzelnen Arbeiten Khalilis untereinander eine neue Konstellation eingehen. Die im MACBA gewählte offene Ausstellungsarchitektur unterstützt dieses Moment. Denn die rund zehn Videos werden nicht in abgeschotteten Blackboxes gezeigt, sondern in einem relativ offenen Raum. Dadurch hat man in der Regel mindestens zwei der Videos im Blick. Die in der Installation Foreign Office thematisierten gescheiterten Hoffnungen der antikolonialen Kämpfe des 20. Jahrhunderts treten so in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Arbeiten wie Twenty-Two Hours (2018) oder The Circle und den dort behandelten antirassistischen Kämpfen im globalen Norden aus der gleichen Epoche, die sich gegen einen neokolonialen „Sklavenarbeitsmarkt“ (wie es in einem in The Circle zitierten Flugblatt der MTA heißt) richteten. [5] Die drei auf Hantarex-Fernsehern gezeigten Videos aus The Speeches Series (2012) aktualisieren diese Konstellation, indem sie sich den Erfahrungen von heutigen Arbeitsmigrant*innen zuwenden und dabei deutlich machen, wie wenig sich an diesem „Sklavenarbeitsmarkt“ verändert hat.

Bismarcks Blick gilt nun aber gerade nicht nur Relationen zwischen den künstlerischen Arbeiten, sondern allen menschlichen und nichtmenschlichen Mitwirkenden, die in Ausstellungen neue Konstellationen eingehen. So kann auch die Frage gestellt werden, welche Konstellation die Ausstellung mit den Besucher*innen und dem sozioökonomischen Kontext Barcelonas bildet. Der neokoloniale und von rassistischen Diskriminierungen geprägte Arbeitsmarkt sowie das damit eng verbundene EU-Grenzregime sind an der Stadt im Mittelmeer an vielen Orten des öffentlichen und halböffentlichen Raums deutlich spürbar. Khalili lässt zwar in fast allen ihren Videoarbeiten diejenigen sprechen, die unter genannten Bedingungen leiden, und vermittelt dieses Leiden mit den Erfahrungen vergangener Emanzipationskämpfe; in den abgedunkelten, von der Stadt eher abgewandten Ausstellungsräumen bekommt man von den konkreten politischen Problemen in Barcelona jedoch wenig mit. Allerdings hat Khalili in ihre Installationen Elemente eingebaut, die auch im Ausstellungsraum neue Zusammenhänge stiften können: Fast alle der vor den Videos angebrachten Sitze sind in einem Halbkreis angeordnet. Für die Videoinstallation zu The Circle hat die Künstlerin gar ein kreisförmiges Theater nachbauen lassen, das Besucher*innen zu einer kollektiven Rezeption des Werks, zu einer Versammlung in Kreisen einlädt. Unter diesem kuratorischen Aspekt zeigen sich hier Potenziale und Möglichkeiten, die Konstellation noch weiterzutreiben und darüber nachzudenken, wie diese mit den konkreten soziopolitischen Kontexten vor Ort vermittelt und prozessiert werden könnte.

„Bouchra Khalili: Between Circles and Constellations“, MACBA Museum of Contemporary Art of Barcelona, 17. Februar bis 28. Mai 2023.

Julian Volz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Kulturen der Kritik“ an der Leuphana Universität Lüneburg. Zudem ist er als freier Kurator, Autor und Herausgeber tätig.

Image credit: 1 + 2: Photo Miquel Coll; 3: Courtesy of the artist and Mor Charpentier; 4: Photo Mikael Lundgren, Bild i Norr, Umeå, Sweden

ANMERKUNGEN

[1]Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, in: Ders., Gesammelte Werke, Band V.1, Frankfurt/M. 1991, S. 576.
[2]Zu diesem Aspekt in Khalilis Werk siehe auch: Eva Kernbauer, Art, History, and Anachronic Interventions Since 1990, London 2022, S. 86f.
[3]Der Film Fluchtweg nach Marseille – Exodus & Résistance – Bilder aus einem Arbeitsjournal (1977) zu dem Roman Transit (1941) von Anna Seghers von Ingemo Engström und Gerhard Theuring weist nicht nur dadurch, dass er in Marseille angesiedelt ist und sich mit antifaschistischen Kämpfen der Vergangenheit befasst, Parallelen mit Khalilis The Circle auf. Auffallend ist noch viel stärker die Ähnlichkeit in der Form, die sich aus dem Entfalten eines offenen Forschungsprozesses vor der Kamera und der ständigen Pendelbewegung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ergibt.
[4]Beatrice von Bismarck, Das Kuratorische, Leipzig 2021, S. 111.
[5]Bereits 1961 warnte Frantz Fanon davor, dass sich an der ökonomischen Dominanz der kolonialen Metropolen wenig ändern werde, wenn die formal entkolonialisierten Ländern es nicht vermögen, sich von ihrer Rolle als Rohstofflieferanten für den globalen Norden zu lösen und unabhängige Ökonomien zu etablieren. Vgl. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981, S. 82.